Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Kant und der sechste Winter (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-27193-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kant und der sechste Winter -  Marcel Häußler
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
(CHF 11,70)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Nominiert für den Glauser-Preis 2022
Ausgerechnet am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags wird Hauptkommissar Kant zu einem Tatort im Münchner Ortsteil Obermenzing gerufen. Ein Mann liegt tot im Schnee. Alles würde auf einen Unfall auf vereister Fahrbahn hindeuten - wäre da nicht die seltsame Zeugenaussage einer Anwohnerin: Sie will gesehen haben, wie der Fahrer des Unfallwagens ausstieg und den bereits am Boden liegenden Mann erwürgte. Erst danach ergriff er die Flucht. Kant und das Team der Münchner Mordkommission nehmen die Ermittlungen auf. Die Spuren führen sie immer wieder in ein kleines Dorf am nahe gelegenen Ammersee. Offenbar hüten die Einwohner von Schelfing mehr als nur ein dunkles Geheimnis ...

Marcel Häußler wurde 1970 in Essen geboren. Um die Jahrtausendwende arbeitete er in Köln als Kameraassistent und Cutter, als ihn die Liebe aus der Großstadt in ein bayerisches Dorf verschlug. Zwei Jahre später zog es ihn aus der Provinz nach München. Heute lebt er halb in Deutschland, halb in Portugal. Er veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten, schrieb an Drehbüchern mit und übersetzte über dreißig Romane aus dem Englischen.

2

Weihnachten ist auch nicht mehr das, was es mal war, dachte Kant. Er erinnerte sich, wie er als Kind mit seiner Mutter den Baum geschmückt hatte, an die Eisblumen am Fenster, an das Lächeln seines Vaters, wenn er vor Aufregung nicht mehr still sitzen konnte, während sie auf die Bescherung warteten. Und er erinnerte sich an die Zeit, als er selbst seiner Tochter zuliebe das ganze Spiel mitgespielt hatte. Auch wenn Frida noch zu klein gewesen war, um es mitzubekommen. Kurz vor ihrem vierten Geburtstag hatten Konstanze und er sich getrennt.

Das war jetzt zwölf Jahre her. Seitdem verbrachte er die stille Zeit allein. Gewöhnlich machte er einen langen Spaziergang, legte sich in die Badewanne, bis die Haut schrumpelig wurde, und vertrieb sich die Zeit, in dem er in alten Büchern blätterte, nur um festzustellen, dass er keine Lust zum Lesen hatte. Abends trank er ein paar Gläser Wein und redete sich ein, er wäre froh, mit dem ganzen Irrsinn nichts mehr zu tun zu haben. Meistens gelang ihm das ganz gut.

Er hatte sich daran gewöhnt, und jetzt, da auch diese Phase ihr zumindest vorläufiges Ende nahm, sehnte er sich schon fast danach zurück. Seltsam, wie das menschliche Gehirn funktionierte. Konnte es sich nicht einfach mal mit der Gegenwart zufriedengeben, ohne ständig Vergleiche mit der Vergangenheit anzustellen?

Vor einem Monat war Frida bei ihm eingezogen, und Ruhe und Besinnlichkeit hatten ein abruptes Ende gefunden.

Um seiner Tochter ein wenig weihnachtliche Atmosphäre zu bieten, hatte er sogar einen Baum gekauft, eine ziemlich krumme Fichte, die jetzt ungeschmückt zwischen zwei Bücherregalen an der Wand lehnte. Ein Kind braucht einen Baum, hatte er gedacht, aber Frida war fünfzehn und interessierte sich nicht im Geringsten für Weihnachten. Nachdem er die Fichte in den dritten Stock des Altbaus geschleppt und eine Spur von Nadeln im Treppenhaus und der halben Wohnung hinterlassen hatte, gab sie nur das Schnauben von sich, mit dem sie ihre Verachtung für alles Uncoole, Langweilige und Gestrige ausdrückte, und verzog sich in ihr Zimmer. Er hatte kein Drama daraus gemacht. Man musste sich eben erst aneinander gewöhnen.

Geschenke wurden allerdings akzeptiert. Kant war zwar nicht der Meinung, dass eine Jugendliche ein Telefon für sechshundert Euro brauchte, aber erstens handelte es sich um eine Ausnahmesituation, und zweitens musste er zugeben, dass er nicht beurteilen konnte, was Frida brauchte oder nicht brauchte. Dafür reichten ein paar Wochenenden im Jahr einfach nicht aus. Jedenfalls saß sie jetzt auf dem Sofa, sah ihm beim Kochen zu und versuchte aus Höflichkeit, die Finger von dem Gerät zu lassen, das vor ihr auf dem Tisch lag und hin und wieder leise vibrierte.

Das letzte Jahr war eine Katastrophe gewesen. Ständig hatte Konstanze ihn angerufen, um ihm zu erzählen, was Frida wieder angestellt hatte. Ladendiebstahl. Schule schwänzen. Ein Tütchen Gras in der Schmutzwäsche. Konstanze schaffte es immer, es so darzustellen, als wäre das alles seine Schuld. Weil er sie damals verlassen hatte. Weil er sich nicht genug um Frida kümmerte. Weil er ihr zu viel durchgehen ließ. Was sollte er denn machen, sie verhaften? Er war bei der Mordkommission, nicht bei der Pubertätsbekämpfung.

Er machte sich nur Vorwürfe, dass er ihr nicht früher angeboten hatte, bei ihm zu wohnen. Konstanze litt schon seit Jahren unter depressiven Schüben, die er zugegebenermaßen nicht ernst genug genommen hatte. Er hatte gedacht, die ständigen Streitereien zwischen Mutter und Tochter wären eine Art natürlicher Ablösungsprozess, wie er in vielen Familien vorkam. In Wirklichkeit aber war Konstanze einfach nicht in der Lage, Frida emotionale Stabilität zu bieten. Das hatte zumindest der Jugendpsychologe gesagt.

Kant schob das Hähnchen mit den Kartoffeln und Möhren in den Ofen. Er hatte noch nie verstanden, warum sich so viele Männer mittleren Alters zu Feinschmeckern entwickelten, und aß immer noch überwiegend in Imbissen und billigen Restaurants, aber normale Familien scharten sich an den Feiertagen eben um den Herd, und er hatte sich vorgenommen, Frida möglichst viel Normalität zu bieten.

»Wie lange noch?«, fragte Frida.

Kant sah ins Kochbuch. »Ein bis eineinhalb Stunden. Wieso, hast du noch was vor?«

»Die anderen treffen sich nachher alle bei Nico.«

Er wusste nicht, wer die anderen oder Nico waren, und er würde auch nicht danach fragen. »Heute ist Weihnachten, da wird zu Hause geblieben.«

Sie hörte auf, an ihrem Nasenring herumzufummeln, und riss die Augen so weit auf, dass sie aussah wie eine Manga-Figur. Es war schön, ausnahmsweise ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

Kant warf den Topflappen quer durch die offene Küche und verfehlte Frida nur knapp. Sie lachte, wie sie als kleines Mädchen gelacht hatte, wenn er sie gekitzelt oder kopfüber in den Papierkorb gesteckt hatte. Anscheinend hatte sie kurz vergessen, dass sie sich eigentlich als Erwachsene betrachtete. In solchen Momenten konnte er sich kaum vorstellen, wie sie mit irgendeinem Arschloch auf dem Klo einer Disco, in die sie sich mit dem Ausweis einer Freundin geschlichen hatte, Speed zog. Und sich dabei auch noch vom Türsteher erwischen ließ.

»Nur weil du selber keine Freunde hast«, sagte sie mit einem kurzen Seitenblick auf ihr Handy. Sie warf den Topflappen zurück, aber er trudelte einen halben Meter vor ihr zu Boden.

»Jetzt mal im Ernst.« Kant setzte sich neben sie aufs Sofa. »Wir essen zusammen, dann kannst du gehen. Aber ich will, dass du um elf zu Hause bist. Ich geb dir Geld für ein Taxi.«

Frida rieb den Kopf an seiner Schulter wie ein vernachlässigtes Kätzchen. »Zwölf«, sagte sie. »Ich bin fast sechzehn.«

In diesem Moment klingelte Kants Handy. Nach all den Jahren hasste er das Geräusch noch immer. Er musste sich überwinden, um sich von seiner Tochter zu lösen und zum Küchentisch zu gehen.

Frida grinste. »Du hast ja doch Freunde.«

Kant sah aufs Display. Es war die Mordbereitschaft.

Das Gespräch dauerte nicht lang. Als er aufgelegt hatte, schaltete er den Herd aus. »Tut mir leid.« Er zog dreißig Euro aus dem Portemonnaie und gab sie Frida. »Kauf dir was zu essen.«

Im Schlafzimmer zog er die Jeans und den schlabbrigen Pullover aus und warf die Sachen auf den Stuhl in der Ecke. So viel Zeit musste sein. Er hatte sechs Anzüge, die er je nach Stimmung bei der Arbeit trug, zwei blaue, zwei braune und zwei graue. Und natürlich einen schwarzen für Beerdigungen. Heute war ein grauer an der Reihe. Er sah in den Spiegel. Ein bisschen weit an den Schultern. Er konnte essen, so viel er wollte, hängen blieb nur etwas, wenn er auch trainierte. Aber er hasste Fitnessstudios, und mit dem Karatetraining hatte er aufgehört, seit bei jedem Kick über Hüfthöhe seine Gelenke knackten.

Er ging in die Diele und nahm seinen knielangen Wollmantel vom Garderobenhaken. Es war das Einzige, was er aus dem Erbe seines Vaters angenommen hatte, nachdem dieser vor drei Jahren vereinsamt im Altenheim gestorben war. Zuerst hatte er sich unwohl darin gefühlt, aber bald war der Rasierwassergeruch verflogen, und er hatte sich an das Fischgrätmuster gewöhnt. Jetzt konnte er sich nicht mehr von dem Mantel trennen, auch wenn er an den Ellbogen schon fast durchgescheuert war. Außerdem waren die Sechzigerjahre wieder in Mode, wenn er nicht den Überblick verloren hatte.

Er hörte, wie Frida den Fernseher einschaltete. Als er ins Wohnzimmer sah, hockte sie auf dem Sofa und zappte durch die Programme. Mit diesem abwesenden Gesichtsausdruck, den sie von ihrer Mutter hatte. Ein stabiles Umfeld hatte der Psychologe empfohlen. Da war sie ja bei ihm genau richtig. Er klopfte an den Türrahmen.

»Hey.«

Sie sah sich zu ihm um, als hätte sie schon vergessen, dass er noch da war.

»Das holen wir nach.«

»Soll das eine Drohung sein?«, fragte Frida.

»Um halb zwölf bist du wieder da, spätestens, okay?«

»Danke, Papa.«

»Tut mir echt leid mit dem Essen.«

»Macht nichts«, sagte sie, »ich bin sowieso Vegetarierin.«

Kant brauchte von seiner Wohnung in Schwabing achtzehn Minuten bis zum Fundort der Leiche in Obermenzing. Er parkte hundert Meter vor der Absperrung neben dem schmiedeeisernen Tor einer Gründerzeitvilla. Die vier Streifenwagen, die kreuz und quer auf der Straße standen, und der Rettungswagen auf dem Bürgersteig hatten schon genug Spuren zerstört, da musste er nicht auch noch mitten ins Geschehen fahren.

Dichte Hecken schirmten die Häuser zu beiden Seiten von der Straße ab. Die Gärten dahinter waren so groß wie der sogenannte Park gegenüber seiner Wohnung. Obwohl er sich schon vor sechzehn Jahren, als Konstanze schwanger geworden war, nach München hatte versetzen lassen, fühlte er sich in diesen Stadtteilen noch immer fremd. Er fragte sich, ob das soziale oder geografische Ursachen hatte. Vielleicht sollte er mal mit Weber darüber reden, der war schließlich im Glasscherbenviertel aufgewachsen, wie er immer wieder betonte.

Es versetzte ihm einen kleinen Stich, als er hinter einem mit Lichterketten verzierten Sprossenfenster eine Familie beim Weihnachtsessen sitzen sah. Die Kinder beobachteten fasziniert, wie der Vater mit einem schwertartigen Messer die Gans zerhackte. Es wirkte wie eine Szene aus einer anderen Zeit, und Kant musste an das nackte weiße Hähnchen denken, das in seinem Backofen langsam kalt wurde. Wie hatte er nur vergessen können, dass Frida Vegetarierin war?

Ein paar Jugendliche hatten sich an der Absperrung versammelt und warteten gelangweilt darauf, dass irgendetwas...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2021
Reihe/Serie Die Kommissar-Kant-ermittelt-in-München-Reihe
Die Kommissar-Kant-Reihe
Kommissar Kant in München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Ammersee • Andreas Franz • Drehbuchautor • eBooks • Ermittlerkrimi • Heimatkrimi • Kommissar Kant • Krimi • Krimi Debüt • Kriminalromane • Krimi Neuerscheinung 2021 • Krimis • Mordkommission München • München • Polizeikrimi • Schelfing • Silvester • Tatort • Thriller • Weihnachten • Winter • Zwischen den Jahren
ISBN-10 3-641-27193-2 / 3641271932
ISBN-13 978-3-641-27193-0 / 9783641271930
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychothriller

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2022)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
CHF 9,75
Krimi

von Jens Waschke

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
CHF 9,75
Psychothriller | SPIEGEL Bestseller | Der musikalische Psychothriller …

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2021)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
CHF 9,75