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Betrachtungen einer Barbarin (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01098-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Betrachtungen einer Barbarin -  Asal Dardan
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'Asal Dardan traut sich, von den Zwischenorten zu erzählen, von der immerwährenden Suche nach Verortung, und sie stellt damit die dringenden Fragen an unsere Gesellschaft.' Lena Gorelik Als Kind iranischer Eltern ist Asal Dardan in Deutschland aufgewachsen, die Erfahrung des Exils hat sie geprägt. In einer erhellenden Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft begibt sie sich auf die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, nach der Überbrückung des ewigen Gegensatzes von 'Wir' und den 'Anderen'. Immer ist ihr Blick überraschend, immer ist ihre Analyse scharfsichtig. Da ist das geflüchtete Kind, das Trost in Spitzwegs heimeligen Bildern findet, die auch Hitler so gut gefielen. Da sind die bürokratischen Rentenbescheide der sardischen Nachbarin, deren Inhalte niemand entschlüsseln kann. Da werden die Goldfische vom persischen Neujahrsfest in die Freiheit entlassen und eigene, neue Traditionen gewählt.  Sprachlich brillant und stilistisch elegant schlägt die Autorin Bögen von der ganz persönlichen Erfahrung zum gesellschaftlich-politisch Brisanten und zeigt auf, dass Zusammenleben bedeutet, Differenz anzunehmen.

Asal Dardan, geboren 1978 in Teheran, wuchs nach der Flucht ihrer Eltern aus dem Iran in Köln, Bonn und Aberdeen auf. Sie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund. Als freie Autorin schreibt sie u.a. für Zeit Online, die FAZ und die Berliner Zeitung. Außerdem arbeitet sie als freie Redakteurin und Autorin für das Online-Magazin was wäre wenn. Für ihren Text Neue Jahre wurde sie mit dem Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Nach Jahren auf Öland in Schweden lebt Asal Dardan heute mir ihrer Familie in Berlin.

Asal Dardan, geboren 1978 in Teheran, wuchs nach der Flucht ihrer Eltern aus dem Iran in Köln, Bonn und Aberdeen auf. Sie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund. Als freie Autorin schreibt sie u.a. für Zeit Online, die FAZ und die Berliner Zeitung. Außerdem arbeitet sie als freie Redakteurin und Autorin für das Online-Magazin was wäre wenn. Für ihren Text Neue Jahre wurde sie mit dem Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Nach Jahren auf Öland in Schweden lebt Asal Dardan heute mir ihrer Familie in Berlin.

Cover
Titelseite
Widmung
Spitzweg
Neue Jahre
Bach fehlt
Alle meine Kinder
Abendland
Spaziergang durch die Grüne Stadt
Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt
Nährboden
Wachsen
Überquerungen
Danke
Literatur
Biographien
Impressum

Spitzweg


Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber

wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber

die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber

die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber

wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber

wo ich sterbe, da will ich nicht hin:

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.

Thomas Brasch

Meine Flucht ist eine Erzählung, keine Erfahrung. Ich war dabei, habe die Gesichter meiner Eltern beobachtet, die Gesichter der anderen Fluggäste, die der Grenzpolizisten. Ich habe vermutlich viel geschlafen und ein wenig gebrabbelt und geweint, dies und das wahrgenommen. Meine Eltern mussten das Land, in dem ich geboren wurde, mit einem Koffer und einem einjährigen Kind verlassen; und alles, was sie als Familie hätten sein können, hinter sich lassen. Zum Beispiel das Haus, in dem ich hätte aufwachsen können, und die Sprache, die mich geprägt hätte. Beinahe, fast. Stattdessen bleiben mir überlieferte Fragmente: das Auto meiner Eltern, das auf dem Weg zum Krankenhaus von der protestierenden Menschenmenge angehalten wurde, obwohl sich darin eine Frau in den Wehen befand. Der Chauffeur meiner Eltern, der mich wenige Stunden nach der Geburt begutachtete und meinen kleinen Fuß in den Mund nahm, um mir später einmal davon erzählen zu können. Mein Vater, der die Fassung verlor und mich beinahe fallen ließ, weil ich nicht zu schreien aufhörte, als meine Eltern sich mit mir im Haus vor den Demonstrant*innen versteckten. Die bejubelten Schritte an meinem ersten Geburtstag in einem weiß-blauen Schottenrock, den meine Tante aus Aberdeen geschickt hatte.

Meine eigene Erinnerung setzt irgendwann in der Hochhauswohnung im Kölner Stadtteil Höhenberg ein. Ich sitze alleine am Küchentisch, esse Hühnersuppe und warte auf den Weihnachtsmann. Ich ahne bereits, dass mein Vater derjenige ist, der die Geschenke unter den Baum legt, vermute aber, dass das in Absprache mit dem Weihnachtsmann geschieht. Ich will mich vorbildlich verhalten. Die Engel beobachten mich, einer fliegt sogar über den Kopf meiner Mutter hinweg durch den Türrahmen, während sie auf den Knien den Linoleumboden putzt. »Immer putzt sie, deine Mutter«, sagt mein Vater. »Dabei versteht sie nicht, dass sie so das Gift nur weiterverbreitet.« Ich glaubte ihm alles, weil er alles wusste.

Wenn ich an die Zeit in dieser Wohnung zurückdenke, dann ist meine Mutter fast unsichtbar, weil mein Vater jeden Winkel meiner Erinnerung ausfüllt. Das mütterliche Gerüst hielt alles zusammen, aber es war die väterliche Zierde, die ich bewunderte. Er brachte mir das Fahrradfahren und Schachspielen bei, er ließ mich stundenlang auf seinem Schoß sitzen, während er persische Gedichte rezitierte oder mir die Welt erklärte. Er behandelte mich wie eine kleine Freundin, deren Gesellschaft er wertschätzte. Heute denke ich, dass ich seine einzige Freundin war, und das macht mich sehr traurig. Doch nichts an dieser Zeit wirkte verdächtig oder deutete darauf hin, dass sie von einem Tag auf den anderen enden würde. Im Grunde hatte ich eine idyllische Kindheit, auch wenn die Hochhäuser von Höhenberg nicht die klassische Kulisse dafür sind. Aber ich dachte nicht viel über mein Leben nach, ich war, und bloß sein zu können kommt einer Idylle sehr nahe. Wenn man sie nicht wahrnimmt, kann Enge sehr gemütlich sein, gerade als Kind. Ich hatte die gleiche rosa Tapete mit weißen Punkten wie Ernie aus der Sesamstraße, und ich fand es aufregend, die Tüten in den Müllschlucker zu werfen und dann in den knarzenden Aufzug zu springen. Alles befand sich an seinem Platz, und mein eigener Platz befand sich im Zentrum von allem. Erst viel später machte sich bemerkbar, dass mir die materiellen und symbolischen Anhaltspunkte fehlten, um mich und meine Eltern in dieser Welt zu verorten. Inzwischen sind mir meine Eltern entwischt, und damit sind mir auch Teile meiner selbst entwischt. Man gewöhnt sich daran, dass das Leben wie ein Netz ist, etwas bleibt ja doch darin hängen. Nach dem Rest darf man nicht greifen, sonst reißen die Maschen, und dann ist alles weg.

Da meine Eltern kaum etwas aus dem Iran hatten mitnehmen können, fingen wir ohnehin mit wenig an. Es gab in unserer Wohnung keine Familienfotos und keine Erbstücke, keine alten Bücher, keine über Jahre gesammelten Gegenstände, keine Souvenirs oder Dinge, die man einfach nicht wegwirft, obwohl sie keinen Nutzen mehr haben. Es gab dort keine Erinnerungen, nur eine hatte ich selbst erschaffen, als ich mit einem Löschstift einen lächelnden Eierkopf auf unser neues braunes Ledersofa malte. Wir hatten nicht oft Gäste, aber wenn mal jemand bei uns war, gab es immer diese Geschichte zu erzählen, wie Asal direkt an dem Tag, als das Sofa geliefert wurde, ein Gesicht darauf verewigt hatte. Auf diese Geschichte war ich stolz, auch wenn ich zu dieser Zeit noch eine brave Tochter sein wollte.

An unseren Wänden hingen mehrere Drucke von Carl Spitzweg: Der Kaktusfreund, Der ewige Hochzeiter, Der Bücherwurm. Ich weiß nicht, wie sie dorthin kamen, aber ich mochte diese Bilder, ihre Beschaulichkeit und Harmlosigkeit. Sie waren, was sie zeigten. Hübsche erdfarbene Kulissen, in denen sich manierliche Menschen bewegten, die genau dort waren, wo sie hingehörten, und dennoch der Gegenwart zu entkommen schienen. Der Kaktusfreund gefiel mir ganz besonders. Er wusste, was zu tun war, welche Kleidung er zu tragen hatte, wie er sich bewegen sollte und womit er seine Zeit verbringen wollte. Er war, was er war. Ein alter Herr mit Pfeife, der in aller Ruhe im Garten inmitten seiner Pflanzentöpfe steht und eine einzelne rote Kaktusblüte inspiziert.

Damals wusste ich nicht, dass ich Spitzwegs hübsche Häuser und Straßen nicht in meiner Stadt wiederfand, weil sie in der Zwischenzeit von Bomben zerstört worden waren. Auch von Spitzwegs spöttischer Kritik am Biedermeierlichen seiner Zeit oder davon, dass er einer von Hitlers Lieblingsmalern war, hatte ich als Kind selbstverständlich keine Ahnung. Spitzwegs Bilder sind in der Tat zuweilen humorvoll, aber sogar der Humor ist durch und durch spießig, weshalb es mich nicht wundert, dass dem provinziellen Kitschkopf Hitler die überschaubaren Landschaften und die vom modernen Leben unberührten bürgerlichen Szenen gefielen. Das Absurde am Nationalsozialismus ist ja, dass er zelebrierte, was er im gleichen Zuge zerstörte, weil er alles reiner und besser zu erschaffen meinte. Doch das, was er erschuf, ist leblos und falsch, und selbst das, was gerettet wurde, kann nur noch durch einen braunen Schleier gesehen werden, als habe sich Hitler nachträglich in alles eingeschrieben, was vor ihm da war.

Wie im Fall der Bilder, die bei uns in der Wohnung hingen, mit denen ich als Kind viel anfangen konnte, weil ich eine exzellente Kleinbürgerin war. Ich sehnte mich nach Einfamilienhäusern mit großen Gärten und Garagen und Treppen, auf denen ich dann sitzen und meine Schnürsenkel zubinden würde, während mein Haustier, ein Hund oder eine Katze, um mich herumschlich. Im Villenviertel in Bensberg, wo meine späteren Schulfreundinnen lebten, sah es genauso aus, wie ich es mir vor diesen Bildern in der Kölner Wohnung sitzend immer erträumt hatte. In gewisser Weise lebten meine Schulfreundinnen im neuen Biedermeier. Die Häuser, in denen sie lebten, gehörten ihren Familien, vielleicht sogar schon seit ein oder zwei Generationen, die Großeltern wohnten in Laufweite und hatten dieselbe Schule wie ihre Enkelinnen besucht. Umzüge kamen bei ihnen gar nicht vor. Manche Mütter machten Seidenmalerei oder veranstalteten wöchentliche Scrabble-Abende im Wintergarten, die älteren Geschwister waren sehr cool, weil sie Hobbys hatten und in ihren Zimmern laute Musik hörten, überall Poster und Unordnung. Susannes Schwester etwa malte Anarchie- und Peace-Zeichen auf ihre Hände und Arme und war oft unhöflich zu ihren Eltern. Beim Rausgehen zischte sie manchmal »Is’ mir doch egal«, und ich bewunderte sie dafür. Aber noch mehr bewunderte ich ihre Mutter, die davon unberührt blieb und ihre Tochter einfach weiter zu lieben schien. »In unserer Kultur benimmt man sich nicht so«, war der Satz, der bei mir zu Hause den Zusammenbruch einleitete, jedes Mal wenn ich frech oder unhöflich war. Es war stets mehr als ein Streit, weil es gleich ans Fundament der Familie zu gehen schien und manchmal eine tagelange Erschütterung zur Folge hatte. Ich litt sehr darunter und wollte gern besser verstehen, was an mir so falsch war. Ich wusste nicht genau, worum es sich bei der besagten Kultur handelte und warum sie anders war als bei Susanne zu Hause. Wenn die Kultur, die für mich verantwortlich zu sein schien, meine Gefühle nicht guthieß, warum hatte ich sie dann?

Manchmal hoffte ich, ich könnte später Susannes Leben haben, ich wartete in gewisser Weise auf meine westdeutsche Kindheit. Ich fühlte mich behütet, das war nicht das Problem. Aber das Leben meiner Schulkameradinnen schien von offizieller Stelle abgesegnet, während ich mir vorkam, als sei ich daran vorbeigeschmuggelt worden. Die Brüche im Leben dieser Familien sah ich genauso wenig wie die Brüche in Spitzwegs Bildern. Und ich sah auch die Brüche in unserem Leben nicht, weil sie unsichtbar waren. Ich vermutete, dass das, was kaputt war, vor allem in mir kaputt sein musste, weil um mich herum alles zu funktionieren schien. Gelegentlich schlich sich eine Ahnung des Unsichtbaren in unsere Wohnung, immer dann, wenn meine Eltern iranische Musik hörten, insbesondere die Popmusik aus der Zeit vor der Revolution. Es waren Lieder, die sie vor ihrer Flucht gehört hatten – im Auto auf dem Weg zum Markt, in Restaurants und Bars, bei der Hausarbeit, bei Treffen...

Erscheint lt. Verlag 2.2.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte asal dardan • Beziehung • Buchhandlung • Buchladen • Deutschland • Elternhaus • Entwicklungsroman • Erinnern • Erinnerung • Erinnerungen • Familie • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Feminismus • Fremde • Geheimnis • Gesellschaftsroman • Heimat • Herkunft • Iran • Journalistin • Kolumne • Lauenburg • Lebensgeschichte • Mölln • Rassismus • Reportage • Scheiterhaufen • Schriftsteller • Schweden • Vergangenheit
ISBN-10 3-455-01098-9 / 3455010989
ISBN-13 978-3-455-01098-5 / 9783455010985
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