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Traumbilder -

Traumbilder (eBook)

Texte aus dem Literaturlabor Leverkusen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
154 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783752699517 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
(CHF 7,80)
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Kunst umschreiben. Drumherum schreiben? Be-/an-/auf-/ab-schreiben? Grenzen fallen und Blicke weiten sich, wenn Autorinnen und Autoren auf bildende Künstlerinnen und Künstler treffen. Aus Anlass der 16. Leverkusener Kunstnacht 2020 haben sich die Mitglieder des Literaturlabors Leverkusen auf Werke aus Leverkusener Ateliers und Galerien eingelassen. Ihre Texte stechen ins Auge und gehen unter die Haut, sie führen nach Paris oder in die Zukunft, nach Portugal oder nach nebenan, sie zertrümmern Erwartungen und lassen neue Welten entstehen. Nach TRAUMFABRIK ist TRAUMBILDER die zweite Anthologie mit Beiträgen aus dem Literaturlabor Leverkusen. Risiken und Nebenwirkungen sind völlig unvorhersehbar - wie immer beim Lesen.

Barbara GorelPhönix

Phönix aus der Asche

»Vor langer Zeit lebte eine Frau. Jeden Abend, wenn die Sonne ihre Strahlen verlöschte, ging sie in Flammen auf. Lichterloh brannte sie, erzählte man sich, und hinterließ nur ein Häufchen Asche. Aber jeden Morgen, wenn die Sonne über den Horizont stieg und ihr Licht die Erde berührte, erhob sie sich aus der Asche. Jeden Morgen erhob sie sich im Leben eines anderen. So erlebte sie die verschiedensten Schicksale der Menschen aus nächster Nähe und erkannte, dass jedem Menschen die Macht der Phantasie innewohnte.«

Ich wünschte, die Frau in ihrem auffälligen rot-goldenen Kleid neben mir würde aufhören zu reden. Der Zug quietschte schrill auf den Schienen und übertönte beinahe ihr eindringliches Flüstern.

»Träume und Phantasien, ein unersetzlicher Schatz, zu wertvoll, um verlorenzugehen. Als die Menschen begannen, gegen die Geschichten vorzugehen, wehrte sie sich und fing an, die Geschichten zu erzählen.«

Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her und tat, als hörte ich sie nicht. Ich konnte erst an der übernächsten Station aussteigen.

»Mit jeder Geschichte pflanzte sie einen Samen in ihren Zuhörer, der heranwuchs. Und wenn sie an diesem Abend brannte, dann hoffte sie, dass ein Funke überspringen möge, der die Flamme der Phantasie wieder entfachte.«

Ihre Stimme wurde noch leiser. »Aber das gefiel ihnen nicht. Nachdem sie den Dichteraufstand niedergeschlagen hatten, machten sie auch Jagd auf sie und zwangen sie, sich zu verstecken. Zu einem Mythos zu werden.«

Ich sah aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber und erkannte, dass sie mich mit flammendem Blick anstarrte. Sobald der Zug in den Bahnhof einfuhr, schoss ich hoch und floh. Auf dem Weg zur Arbeit sah ich mich um. Hoffentlich hatte niemand gehört, worüber sie sprach. Aber ich fühlte ihren Blick, der sich immer noch in mich bohrte.

Dunkle Wolken rollten bedrohlich über den Himmel vor den großen Glasfenstern. Ich hatte die Sonne schon lange nicht mehr gesehen, fiel mir auf, während ich in Meetings saß und Aufmerksamkeit vortäuschte. Doch niemand achtete auf mich, solange ich nicht aus der Reihe fiel.

Ich ging die geraden Flure entlang in die Pause, vorbei an Menschen, die alle den gleichen neutralen Anzug und Gesichtsausdruck trugen, fuhr in dem engen Aufzug hinunter und trat hinaus auf den Platz, der von hohen Glasbauten umringt war. Klare Linien und Formen bestimmten Gebäude wie Innenhof. Bloß keine Ablenkung.

Ich setzte mich auf die graue Steinbank, stocherte in meinem Mittagessen herum und versuchte, die Gedanken, die ich nicht haben sollte, vom Wind wegblasen zu lassen.

Auf einmal stach mir ein leuchtender Farbtupfer ins Auge.

Sie stand reglos im Hofeingang und blickte mich fest an. Die Böen zerrten an ihrem unverkennbaren purpur- und gold-farbenen Kleid. Es fröstelte mich, aber schuld war nicht der Wind. Ich drehte mich um in der Hoffnung, dass sie nicht mich, sondern jemanden hinter mir meinte, aber wir waren allein.

Ich stand auf, wollte wieder hineingehen, änderte dann aber die Richtung und ging auf sie zu. »Lass mich in Ruhe«, zischte ich sie an. »Ich will damit nichts zu tun haben.«

»Komm mit. Ich muss dir etwas zeigen.«

Sie drehte sich um und ging, ohne darauf zu achten, ob ich ihr folgte. Ich warf einen Blick über den leeren Hof und zu den Fenstern der hohen Bürogebäude. Wenn mich jemand beobachtete, war er hinter der kalten Glasfassade versteckt. Ich schloss für einen Moment die Augen und wollte mich dazu zwingen, das Richtige zu tun, dann folgte ich ihr.

Sie führte mich zu einem winzigen Park abseits der Bürogebäude. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas hier gab. Die Wiese war vertrocknet und staubig, aber eine Gruppe Kinder spielte fröhlich. Ihr Lachen drang zu uns herüber. Ich fühlte mich unwohl, diese Szene zu beobachten.

»Erkennst du, was dort passiert?«

»Sie schlagen sich mit Stöcken?« Für diese Aussage erntete ich einen tadelnden Blick. ›Ich weiß, dass du es besser weißt‹, sagte er.

»Sie erfinden Geschichten«, sagte sie.

Ich schaute zu Boden. Das hatte ich früher auch getan. Damals hatte die Welt wie ein einfacher Ort gewirkt, an dem alles möglich war, wenn man nur fest genug daran glaubte. Als ich es wagte, meinen Eltern von diesen Träumen zu erzählen, nahm es kein gutes Ende. Wer zu viel auf das gibt, was nicht existiert, warnten sie mich, der verschwindet spurlos.

»Sie stellen sich vor, sie seien Ritter oder Helden. Sie träumen von großen Taten. Sie träumen davon, die Welt zu verändern«, fuhr sie fort.

»Sie werden es schnell genug lernen.« Ich wandte mich ab, die Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass ich es knacken hören konnte. In der Ferne grollte ein Donner.

»So wie du?«

Dieser bohrende Blick, quälend aufmerksam, als könnte er direkt in mich hineinsehen.

»Du weißt gar nichts über mich«, spuckte ich ihr entgegen und drehte mich um. Es war ein Fehler gewesen herzukommen, mitzugehen, mit ihr zu reden. Das würde nicht gut ausgehen. Wenn irgendjemand davon erfuhr ...

Ich wollte gehen, aber eine warme Hand hielt mich auf. »Geschichten – sie liegen in der Natur des Menschen. Von klein auf macht ihr euch auf diese Weise die Welt zu eigen.« Sie deutete auf die Kinder.

»Was du redest, ist Hochverrat.«

Sie trat näher und nahm meine Hände in ihre. Ich spürte ihren warmen Atem. Der kalte Wind hatte zwischen uns keinen Platz mehr.

»Alles um dich herum basiert auf Geschichten. Götter sind genau so eine Erfindung des Menschen wie der Kapitalismus, das Geld, sogar Nationen entstehen nur durch eine fiktive Zusammengehörigkeit. Deine Angst ist das Ergebnis von Geschichten über Strafe und Verbrechen, die sie dir erzählen.«

»Ist das nicht ein erschreckender Gedanke? Dass nichts real ist? Wer sind wir dann, wenn nichts, was wir kennen, greifbar ist?«

»Du kannst alles sein, was du willst. Du kannst die Welt sehen, wie du willst. Du kannst sie zu dem machen, was du willst – und davor haben sie Angst.«

»Das macht den Schmerz und die Bestrafung nicht weniger fühlbar.«

Sie setzte sich auf den Boden, in das trockene Gras und zog mich zu sich hinunter.

»Sie wissen, dass ihr nicht aufzuhalten seid, wenn ihr anfangt, euer eigenes Potenzial zu entdecken«, sagte sie eindringlich. »Sie glauben, nur weil sie euch die Möglichkeiten nehmen, eure Phantasie zu benutzen, würdet ihr sie verlieren. Aber sie steckt noch immer in dir.« Sie legte eine Hand auf mein Herz.

Mit der anderen pflückte sie neben sich eine kleine rote Blume, die mir nicht aufgefallen war. »Eine Pflanze kann den härtesten Asphalt durchbrechen. Aber es fängt alles mit einem Samenkorn an.«

Sie gab mir die Blume.

Ich stand auf. »Ich muss los.«

»Ich bin heute Abend am Strand. Gib mir eine letzte Chance.«

Ich versteckte die Blume in meiner Jackentasche, bevor ich das Bürogebäude betrat. In dem wohlgeordneten Raum fiel es mir leichter, wieder klar zu denken. Meine Gedanken zu ordnen. Aber die Begegnung hatte mich aus dem Rhythmus gebracht, und ich fiel aus dem Takt. Ich vertippte mich, ich ließ meinen Stift fallen. Als ich Feierabend machte, stieß ich gegen einen Schreibtisch. Auf dem Weg nach draußen rempelte ich einen Mann an, verpasste meinen Zug und stand am Bahnhof.

Ich wollte nach Hause gehen. Mich hinlegen und schlafen und vergessen, was heute passiert war. Es musste sich nichts ändern.

Aber vom Bahnhof aus hatte ich einen Blick auf den Strand, an dem die Schienen vorbeiliefen, und ich fand das Rot und das Gold, nach dem ich suchte. Eine Anziehungskraft ging von ihm aus, der ich nicht widerstehen konnte. Ich musste dem ein Ende setzen. Einen glatten Abschluss finden. Dann würde ich in mein altes Leben zurückkehren können.

Der Sand gab unter meinen Füßen nach. Die Wellen rollten ungleichmäßig an den Strand. Der Himmel hatte aufgeklart und die Farben des Sonnenuntergangs erleuchteten ihn und ihr Kleid. Nur am Horizont, vor der Sonne, hielten sich die schwarzen Wolken hartnäckig.

Selten habe ich jemanden gesehen, der so friedlich und mit sich im Reinen aussah wie sie, als sie Richtung Horizont blickte. Sie wandte sich zu mir um. Ihre Augen strahlten regelrecht.

»Vor langer Zeit lebte eine Frau. Jeden Abend, wenn die Sonne ihre Strahlen löschte, ging sie in Flammen auf. Aber jeden Morgen, wenn die Sonne über den Horizont stieg und ihr Licht die Erde berührte, erhob sie sich aus der Asche.«

Ich erkannte ihre Worte wieder.

»Sie begann, ihre Geschichten zu erzählen, um ein Feuer in den Menschen zu wecken. Damit sie nicht vergessen, was sie sind und was sie sein können.«

»Geschichtenerzähler.«

Sie nickte. »Geschichten sind ein Funke. Sie können etwas Großes...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-13 9783752699517 / 9783752699517
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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