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Der Herbst, in dem es uns nicht gibt -  Simon Schmidt

Der Herbst, in dem es uns nicht gibt (eBook)

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2020 | 1. Auflage
644 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7519-9262-6 (ISBN)
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»Kennt ihr dieses Kind, diesen Jungen, der im Haus des Spielzeugmachers lebt? Er macht den Eindruck, als wären ihm schlimme Dinge widerfahren, solche, über die Leute wie du und ich nur munkeln.« Bardo Redo will eigentlich nicht wahrhaben, dass ihn die Zeit wieder einholt, doch das, was seine Familie damals auseinandergerissen hat, scheint sich nicht totschweigen zu lassen. Der Fremde im Wirtshaus spricht über den Krieg, als würde es ihn noch immer geben. Und woher kennt er Bardos alten Namen? Ein unvergesslicher September vergeht, an dessen Ende Bardo eines erkennt: Er führt das Leben einer anderen Person, einer, die in diesem Herbst nicht weiter existieren kann. Und als der Krieg im Tosendland ihn in die Pflicht zu nehmen versucht, bleibt ihm nur die Flucht ins Exil und die Hoffnung, dass der Frieden abseits der blutigen Gräben und Felder liegt. Denn bevor nicht alles endet, wird es keine Heimkehr mehr geben. Nie wieder. Fantastischer Roman über das Erwachsenwerden, ab 14 Jahren.

Simon Schmidt wurde 1998 in Burg bei Magdeburg geboren. 2015 beendete er die Schule mit dem Abitur, absolvierte bis zum Winter 2018 eine Ausbildung zum Vermessungstechniker und ging anschließend für vier Monate nach Neuseeland. Zur Zeit lebt er in Dresden und studiert dort an der Technischen Universität Bauingenieurswesen auf Diplom. Er braucht keinen Kaffee, um morgens auf die Beine zu kommen, und wenn er ihn bräuchte, würde er es nicht jedem erzählen. Am Schreibtisch trinkt er nur Wasser, ab sechs vielleicht ein Bier. Dass man ihm nicht ansieht, in welchem Genre er schreibt, stimmte ihn zunächst erleichtert, doch dann eher bedenklich. Schließlich kommt irgendwann jeder zur Fantasie zurück, spätestens kurz vor dem Ende.

September

Wunderlich. Das trifft es gut. Was immer die Leute über all das Befremdliche in ihrem Leben zum Besten geben wollten, verpackten sie in dieses Wort wie in eine Kiste aus blindem Glas, durch die sich ihre Angst vor Veränderung erahnen, aber nicht beweisen ließ.

Und neben Menschen, die nicht aus der Gegend stammten oder am Tresen nach Speisen fragten, die es hierzulande nicht gab, galt ganz besonders die Natur als wunderlich, sobald sie von den immergleichen Erscheinungen der Jahreszeiten abwich, deren Beständigkeit doch jedermann so liebte und schätzte. Und genau deshalb beginnt diese Geschichte ein wenig … ein wenig wunderlich.

Der September wurde kränklich. Er kroch auf Händen und Knien über die Wiesen, und wer auch immer glaubte, den Wind des ersten Herbsttages auf der Haut zu spüren, verharrte in Wahrheit im Luftstrom eines letzten Atemzuges.

Ein dunkles Blatt fiel zu Boden, pechschwarz und so schwer, als wäre es eisern. Ein Eichenblatt aus dem Baum, der hier schon seit Hunderten von Jahren stand und der nur selten dieses Teufelskleid trug. Dort auf dem Hügel, seicht gewölbt wie die Wange einer jungen Frau, wo der Fluss breite Wogen schlug und den Vögeln droben im Geäst ein helles Lied sang, dass sie dort zuweilen Stunde um Stunde saßen und still im leisen Westwind verharrten.

Manchmal schien es, als wüsste kaum jemand um den Baum. Nicht etwa, dass ihn niemand kannte, nein, nein, doch gingen die Leute daran vorüber, als wäre nichts Besonderes an diesen schwarzen Blättern …, als wäre das Befremdliche nur dann befremdlich, wenn man es als solches annahm. So verhielt es sich mit jeder kleinen Seele, die über die Grenzen von Heid trat – eine kleine, beschauliche Stadt war das, westlich jenes Hügels gelegen.

Es gab nur einen, ja wirklich nur einen einzigen Menschen, dem die Alte Eiche am Herzen lag – so schien es zumindest allen anderen, und so erzählte man es sich im nahen Wirtshaus. Frau Trimbalo war das, die junge Witwe aus dem Haus des Spielzeugmachers oben am Bach, wo das große Wasserrad seine Runden drehte und Schwalbennester die Giebel säumten.

Stets – das meinte: wann immer man sie sah – ging ein Junge von vielleicht drei Jahren an ihrer Hand, doch war es, schenkte man den Tuschelein nächtlich besuchter Schenken Glauben, gewiss nicht ihr Kind. Twin nannte man den Jungen. »Twin mit dem Geheimnis im Herzen«, flüsterte Frau Trimbalo dann meist für sich. Und wenn die beiden ihren täglichen Weg zur Alten Eiche, über den Bach und zurück zum Haus gingen, war es, als würde die Zeit über sie hinwegsehen. Als wäre der Fluch des Alters gebrochen …

Doch niemand entgeht der Vergänglichkeit, niemand, der wahrhaft am Leben ist. Und so kam der Tag, da das Kind zum Mann gereift war und die nunmehr alte Hand, die die seine umklammerte, langsam abstreifte. Fünfzehn Jahre steckte die gute Frau Trimbalo, die einst junge Witwe, anschließend mit den Stiefeln im Morast tiefer Einsamkeit. Lange Zeit drehte sich das Wasserrad am Fluss, obgleich alles blieb, wie es war.

Bis man ihr eines Tages ein weiteres Kind vor die Tür setzte. Einen Jungen, dessen Augen vom Blau eines tosenden Meeres waren. Denn vieles hatte er gesehen, bevor man ihn in die seichte Wiege der Wiesen und Felder legte, wo er eine Zeit lang vergessen sollte. Solange bis er sich wieder erinnern muss … Denn auch er trug ein Geheimnis im Herzen. Und das war der Name Redo.

Zwei weitere Sommer waren wie zwei Tage und zwei Nächte vergangen, und so schmückte die Zahl 856 mit fast unverschämtem Stolz die Kalenderblätter auf dem Kaminsims.

Für Bardo Redo war es nie leicht gewesen, in diesem Haus Ruhe zu finden, und genau heute, da Blitze das Schwarz hinter den Fenstern durchzuckten und sich zum steten Trommeln des Regens dann und wann ein markerschütterndes Grollen gesellte, weigerte er sich strikt dagegen, die Augen zu schließen.

»Bitte, erzähl noch weiter.« Es war der Schatten der knorrigen Birken, der, wann immer es grell blitzte, wie eine langfingrige Hand über Bardos Decke strich und ihn tiefer in die Ecke seines Bettes drängte. So machte die Angst auch vor seiner Stimme nicht halt und verbog den ohnehin recht hellen Ton, den ein Achtjähriger hervorbringt, zu einem Wimmern, das in den Ohren seines Gegenübers Anklang fand.

»Ach Bardo … wirklich?« Frau Trimbalo strich sich ihren schwarzen, von dunkelgrauen Strähnen durchsetzten Haarvorhang von der Wange und ließ die Hand, zwischen deren Fingern das Buch klemmte, mit dem Rücken nach oben in den Schoß sinken. »Du hast Weit hinter Gittern mit Sicherheit schon öfter gehört, als es Sterne am Himmel gibt, und kannst noch immer nicht ohne das Ende einschlafen? Wieso lesen wir nicht in Der Nachtwanderer – das mochte ich als Kind.« Ihr Blick glich einem dieser täuschenden Bilder, die, wann immer man sie drehte, etwas anderes zeigten. So zerging das, was zunächst den Eindruck von vor Strenge blitzenden Augen machte, recht schnell in einer mitleidigen und einlenkenden Miene, kaum dass sie die Beine überschlagen und ihren Kopf in ihre nunmehr auf der Stuhllehne verschränkten Arme gelegt hatte. »Also dann. Du weißt ja, wie es endet.« Noch immer zeigten die Buchseiten zu Boden. »Skemeo wollte den Wärter überlisten, indem er ihm versprach, dass auf dieser Seite der Mauer riesige Berge und Wälder lägen, an deren Ende man irgendwann das Meer sehen würde.«

Bardo zog die Decke bis über die Schultern. »Und wie sieht das aus?«, fragte er leise.

»Es …«, begann Frau Trimbalo, und ein Lachen, das die Häufigkeit dieser immergleichen Frage verriet, glitt ihr wie ein Tropfen Öl über die Lippen. »Es ist wie ein unendlich großes Stück Seide, in dem der Wind sein Spiel treibt. Wie ein versunkendes, noch immer schlagendes Herz, das vom Grund aus Wellen bis ans Ufer schickt. Es ist der Ort jenseits der Mauer, über die du im Frust einen Stein wirfst, und wer mit dem Schiff dort über den Horizont fährt, weiß, wo sich die Sonne nachts schlafen legt.«

Bardo lächelte mit offenem Mund, als wäre genau das die Antwort gewesen, auf die er gehofft hatte. »Und von dort wollte er fort?«

»Eigentlich schon«, sagte Frau Trimbalo mit abschätzendem Nicken. »Der Prinz hatte ihn damals an die Küste jenseits der großen Ringmauer verbannt, doch nun, da Skemeo verstand, dass nicht er, sondern die anderen gefangen waren, entschied er sich zu bleiben. Denn auch wenn dieser Ort nicht das versprach, was er dem Wärter erzählt hatte, gab ihm der Strand doch genug Freiheit, um zu neuen Ufern zu segeln. Und das war alles, was er wollte.« Sie war gerade im Begriff, ihren Daumen aus den Seiten zu lösen und das Buch zu schließen, als – ihr fiel es Bardos sich weitender Augen wegen auf – ein loses, jedoch fester wirkendes Blatt aus dem Block rutschte und rauschend über die Dielen glitt.

»Was ist das?«

Wieder flutete ein Blitz das Zimmer mit Licht, und wieder tat er es nur, um es ihm im nächsten Moment wieder gewaltsam zu entreißen. Doch dieser Wimpernschlag hatte genügt. Frau Trimbalos Gesicht schwebte noch immer wie eine Maske aus weißem Glas in der Dunkelheit, und dass sie von Zügen der Unsicherheit gezeichnet war, schien dem Jungen nicht entgangen zu sein. »Erzähl schon! … sah aus wie eine Karte.«

»Oh, das …«, begann Frau Trimbalo mit belegter Stimme. Sie hielt die Luft an, als ihre Finger nach der Seite langten, und ließ sich, selbst nachdem sie wieder aufrecht saß, mehr als genügend Zeit, ihren Atem durch die Lippen zu stoßen.

Draußen hob der Wind an. Regen peitschte in bizarre Bahnen ans Fenster, das nunmehr einer schwarzen Leinwand glich, auf die man mit wässrigem Pinsel das Spiegelbild dieser Szene gemalt hatte, und als der vom Blitz prophezeite Donner wie ein großes, poltriges Fass über die Dachschräge rollte, wusste Frau Trimbalo, dass sie die Kerze nun nicht einfach löschen konnte.

»Stimmt, es ist eine Karte«, sagte sie und drehte das Blatt in ihrer Hand. »Hier, siehst du?«

Bardos Augen, die sich im Versuch des Fokussierens verengt hatten, begannen sich wieder zu öffnen, sobald er den ersten Schriftzug zwischen angedeuteten Wäldern und Bergen zu lesen bekam. »Das Tosendland«, sagte er leise. »Gibt es das wirklich?«

Frau Trimbalo wog ihren Kopf mit gespielter Skepsis. »Nun, die Karte ist aus einem Märchenbuch gefallen, nicht wahr?«, sagte sie dann. »Ganz bestimmt ist eine Menge davon erfunden, doch so wie die Geschichten hier drin wird auch sie ihren Ursprung in Wahrheiten haben.« Ihre Fingerspitze glitt langsam über das Blau eines Meeres hinweg, vorbei an seichten Hügeln bis kleine, skizzierte Bäume einen großen Wald andeuteten. »Wenn ich mich nicht irre …«, sagte sie, und klang, als wäre das Erinnern mit Mühe verbunden. »…, dann heißt dieser Teil des Tosendlandes...

Erscheint lt. Verlag 31.7.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
ISBN-10 3-7519-9262-6 / 3751992626
ISBN-13 978-3-7519-9262-6 / 9783751992626
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