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Im Fallen lernt die Feder fliegen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1
240 Seiten
Limmat Verlag
978-3-03855-209-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Fallen lernt die Feder fliegen - Usama Al Shahmani
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Die irakischstämmige Aida verleugnet ihre Herkunft, was immer wieder zu Streit mit ihrem Freund führt. In ihrer Not setzt sie sich hin und beginnt aufzuschreiben, was sie nicht sagen kann. Geboren in einem iranischen Flüchtlingslager, kam sie mit ihren Eltern und der älteren Schwester in die Schweiz. Die Mädchen gehen zur Schule, aber ihre Eltern kommen mit dem westlichen Alltag nicht zurecht und verklären mehr und mehr ihre Heimat. Der Vater, ein konservativer Theologe, beschliesst schliesslich, mit der ganzen Familie in den Irak zurückzukehren. Aber was für die Eltern die Heimat ist, die sie einst verlassen haben, ist für die beiden Schwestern ein fremdes Land. Als die Ältere verheiratet werden soll, fliehen sie nun ihrerseits und gelangen als unbegleitete Minderjährige in die Schweiz. Aber auch sie lässt die Vergangenheit nicht los. Wieder gelingt es Usama Al Shahmani, vielschichtig von der grossen inneren Anstrengung von Flüchtlingen bei ihren Integrationsbemühungen zu erzählen und dabei immer ein Fenster zur Hoffnung offenzulassen. Und nicht zuletzt überwindet er selbst die Mühsal des Exils durch das Verschmelzen der arabischen mit der westlichen Kultur im Erzählen.

Nilgans


Daniel setzte sich auf einen Platz am Fenster und schaute mich durch die Glasscheibe an. Es war ein rätselhafter Blick, etwas gequält und bohrend. Er löste bei mir eine Traurigkeit aus, die mich beunruhigte. Wir schwiegen, bis der Zug abfuhr. Tief wünschte ich mir, dieser Augenblick möge andauern. Doch es würde nichts ändern. Solche Momente hatten mich noch nie zum Reden ge­bracht.

Vieles über mich kann Daniel nicht verstehen. «Es macht mich wahnsinnig, wenn du minutenlang vor dem Fenster stehst, regungslos wie ein Nagel in der Wand. Ich weiß nicht, was ich mit deinem stummen Warten an­­fangen soll», hat er einmal gesagt.

Jetzt herrscht Leere in unserer Wohnung. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich bemerkt, dass das Geräusch des Bestecks beim Essen genauso klingt wie damals im Flüchtlingsheim. Plötzlich habe ich meine Einsamkeit gespürt, ihre scharfen Zähne haben aus jeder Ecke gebleckt und mich durch die ganze Wohnung verfolgt. Im Schrank bin ich auf die Rose gestoßen, die er mir zum siebten Jahrestag unserer Beziehung geschenkt hat. Sie ist trocken. Ihre Farbe ist ein tiefdunkles Rot geworden.

Plötzlich habe ich die Stimme meiner Mutter gehört, wie sie mir und meiner Schwester einmal sagte: «Ihr seid meine Rosen, euer Duft ist für mich ein Stück Paradies, das ewig hält.» Ihre Stimme hat mich wieder in diesen Raum versetzt, den ich so lange gemieden habe. Ich habe mich vom Fenster abgewendet und mich an den leeren Esstisch gesetzt, auf dem nur Daniels Buch liegt, und meinen Laptop eingeschaltet.

Ich starre auf den leeren Bildschirm, und er beginnt sich mit Geschichten und Bildern zu füllen, von denen ich dachte, sie seien für immer verschwunden. Wie ein Spiegel, der alles sieht, ohne es aufzubewahren. Ich er­­innere mich, dass mir Schreiben schon einmal gehol­fen hat.

Als der Zug losfuhr und ich Daniel zurückwinkte, er­­innerte ich mich daran, wie ich ihn das erste Mal sah. Es war im Sommer 2010 im Kreuzlinger Seeburgpark. Ich war im ersten Lehrjahr in der Mediathek der Pädagogischen Hochschule in Kreuzlingen, er war an der Pädagogischen Maturitätsschule. Manchmal verbrachte ich meine Nachmittagspause am See. Einmal war auch er da, mit einer Gruppe von Klassenkameraden. Er war groß, hatte kräftige Hände und strahlend blaue Augen.

Er näherte sich der Bank, auf der ich saß, und fragte: «Stört es dich, wenn ich mich hier setze?»

«Nein», sagte ich und schaute in die Ferne, der blaue Himmel verschmolz mit dem Blau des Sees. Ich spürte, wie ich tiefer atmete, als würde meine Lunge größer werden. Wir schauten in dieselbe Richtung, aber das, was uns beschäftigte, waren bestimmt ganz unter­schied­liche Dinge.

«Arbeitest du in der Bibliothek? Ich habe dich oft dort gesehen», begann er.

«Ja, ich mache da meine Ausbildung.»

«Schön ... Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Daniel.»

«Ich bin Aida», antwortete ich zögernd und presste mich an die Lehne. Ich wollte eigentlich gehen, tat es aber nicht. Stattdessen atmete ich noch tiefer und suchte nach Halt im weiten Blau.

«Ich dachte, du seist Spanierin. Habe ich recht?», fuhr er fort.

«Spanierin?», antwortete ich mit einem fragenden Lächeln.

«Ja, ich weiß nicht, du siehst ein wenig so aus. Darf ich dich fragen, woher du kommst?»

«Ich bin ursprünglich aus dem Irak.»

«Aha, der Irak. Interessant. Hast du Familie hier?»

«Nein.»

«Lebst du hier ganz allein?»

«Ja, meine Eltern leben im Irak», antwortete ich genervt, ich packte meine Sachen in meinen Rucksack und sagte knapp: «Ich muss jetzt gehen.»

Er wünschte mir einen schönen Tag und blieb sitzen.

Auf dem Weg zurück zur Bibliothek beobachtete ich einen Mann, wie er mit seinem Kind spielte, singend gingen sie vor mir her. Ich hörte meine Mutter singen: «In meinem Herzen befindet sich ein Garten, alle seine Bäume sind mit Früchten beladen, wie süß sind die Früchte, wie reich bin ich an Geschichte, du bist meine Allerschönste.»

Damals lebte ich in Frauenfeld in einem Flüchtlingsheim nur für Frauen. In diesem Heim waren noch zwei andere arabischstämmige Frauen: Maisem aus Algerien und Dane aus Syrien. Beide Frauen waren kaum älter als ich und eng miteinander befreun­­det.

«Araber in der Schweiz haben gute Gründe, einander kennenzulernen und Freundschaft zu schließen. Wieso bist du uns gegenüber so reserviert? Willst du nicht einmal ein Wochenende mit uns verbringen? Du wirst es nicht bereuen», sagte mir Dane zwinkernd.

Sie rauchte Haschisch im Zimmer und hatte deswe­gen Probleme mit der Hausleiterin. Dies auch, weil sie beim Schlafen das Licht nicht ausmachte. «Ich will mich an der Dunkelheit, die ich erleben musste, rächen», sagte sie auf Arabisch.

Auch Maisem hatte es nicht leicht; wiederholt be­­schwerten sich die Mitbewohnerinnen, weil sie ständig sang. Sie sang auf Arabisch, aber weder ich noch Dane verstanden ihr Arabisch wirklich. «Singen macht glücklich. In jedem Lied ist ein Gedicht oder ein kleiner Trost zu Hause», meinte sie.

Ich verstand sie nicht, aber ihre Haltung zur Heimat erinnerte mich an meinen Vater. «Zu Hause konnte ich nicht mehr schlafen, wenn meine Mutter nur schon mein Bett etwas verschoben oder mein Kissen anders gerichtet hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal aus meiner Heimat fliehen müsse und nun selbst so weit verschoben bin.»

Als ich nach dem Treffen mit Daniel nach Hause kam, saßen Dane und Maisem in der Küche. «Wir machen Tabouleh, magst du mit uns essen?» Wir sprachen eine Art Hocharabisch, um uns zu verständigen.

«Nein, danke. Ich habe im Zug gegessen und bin müde», antwortete ich und ging die Treppe zu meinem Zimmer hoch.

Am nächsten Morgen ging ich zufrieden zur Arbeit. Das Sonnenlicht glänzte über der Stadt, die Stille der letzten Nacht war verflogen, es war, als würden die Vögel ihre Lieder mir vorsingen. Am Nachmittag sah ich Daniel in der Bibliothek wieder. Er holte ein paar Bücher, und bevor er den Raum verließ, lächelte er mir zu.

Einige Zeit später aßen wir gemeinsam zu Mittag. Die Gespräche mit ihm halfen mir weiter mit meinem Deutsch. Wir sprachen und lachten über Witze, die Lehrkräfte der Schule verulkten, unser Lachen flog über den See.

Beim Abschied fragte mich Daniel: «Wie oft verreist du in den Irak?»

Die Frage überrumpelte mich, ich blieb einen Mo­­ment still. Dann gab ich ihm die Frage zurück: «Darf ich dir etwas sagen?»

«Natürlich.»

«Ich rede nicht gern über meine Familie oder meine Herkunft. Bitte versteh mich nicht falsch, aber ich will einfach nicht danach gefragt werden.»

«Sicher doch. Ich wollte dir nicht zu nahetreten.»

Ich nahm seine Entschuldigung an, bedankte mich und ging.

Die Treffen mit Daniel häuften sich, und jedes Mal fühlte ich mich glücklicher. Eine Hoffnung leuchtete auf wie ein Weizenfeld unter der irakischen Sonne. Ich begann, mich wieder über kleine Dinge zu freuen.

Er lud mich zu einem Fest an seiner Schule ein. Er erschien in traditionellen Appenzeller Kleidern und sah lustig aus. Sein Hut glich dem Barett der päpstlichen Schweizergarde. Er war der Attraktivste und Coolste in seiner Gruppe. Nach der Feier stand er hinter einem großen Tisch und stützte seine Hände auf ein großes, dickes Buch, als ob er einen Eid ablegen wollte. Er blickte mir tief in die Augen, wie in einer theatralischen Szene. Dann sagte er: «Aida, ich liebe dich.»

Es war ein ungeheurer Satz, der mich erfasste wie ein Bergbach, rasend und geheimnisvoll. Er beglückte mich, aber auf einmal überkam mich ein schlechtes Gefühl. Meine Lippen wurden trocken. Mir fiel Vater ein, wie er vor unserer Rückkehr in den Irak mit Mutter sprach, an einem Samstagmorgen, sie waren in der Küche, Nosche und ich auf dem Balkon.

«Unsere Töchter könnten den westlichen Lebensstil annehmen. Was, wenn eine von ihnen sich mit einem jungen Mann trifft? Wenn eine unserer Töchter eine Lesbe würde? Welche Schande! Was bleibt von meinem guten Ruf übrig, wenn eine mir nicht mehr gehorchen würde? Du musst mir helfen, in unser Dorf zurückzukehren, bevor es zu spät ist!»

«Ja, ich helfe dir», antwortete meine Mutter und schenkte ihm Schwarztee ein. Was hätte sie sonst sagen können? Aber sie wollte ohnehin in den Irak zurückkehren.

Daniel starrte mich an. Ich blieb ruhig.

«Du musst nichts sagen», lächelte er mich an. Ich lächelte zurück.

Unsere Beziehung hatte schon neun Jahre gehalten, als er wieder mit meiner Vergangenheit kam. Konnte das für unsere Zukunft von Belang sein? Ich hasste es, wenn er mich mitleidig anschaute, mich als Opfer sah. Dass ich über die Vergangenheit nicht reden kann, drängt mich noch mehr in diese Rolle.

Im Kern seiner Fragen empfand ich eine unange­nehme Neugier, mir kam es dann vor, als sei er nur der Ethnologiestudent und nicht mein Freund. Er hörte nicht auf, und schließlich spürte ich seine Fragen kör­perlich. Ich ärgerte mich. «Beim Schwimmen und wenn man sich ärgert, ist es besser, wenn man den Mund hält», sagen die Iraker.

Kurz darauf saßen Daniel und ich abends vor dem Fernseher. In einer Dokumentation drangen Männer der Terrorgruppe IS mit Äxten, Hämmern und anderen Gegenständen in ein Museum in Mosul ein, um wertvolle Schätze zu zerstören.

«Die Zivilisation, die Kultur der Menschheit schreit unter den Schlägen dieser Terroristen. Es macht mich traurig, dass die ganze Welt diese Bilder sieht und nichts dagegen unternimmt», kommentierte...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Flucht • Heimat • Irak • Migration
ISBN-10 3-03855-209-7 / 3038552097
ISBN-13 978-3-03855-209-3 / 9783038552093
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