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Londoner Skizzen (eBook)

Geschichten aus dem Londoner Alltagsleben des 19. Jahrhunderts
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
264 Seiten
Musaicum Books (Verlag)
978-80-272-0593-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Londoner Skizzen -  Charles Dickens
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Charles Dickens' Londoner Skizzen ist eine Sammlung von literarischen Werken, die das Leben im viktorianischen London auf eindringliche und mitfühlende Weise darstellen. Durch eine Reihe von Kurzgeschichten und Essays enthüllt Dickens die sozialen Missstände und Ungerechtigkeiten der Stadt, die er aus erster Hand erlebt hat. Sein literarischer Stil ist geprägt von seiner Fähigkeit, menschliche Charaktere lebendig und vielschichtig zu gestalten, wodurch der Leser tief in die Welt des 19. Jahrhunderts eintauchen kann. Londoner Skizzen ist ein wichtiges Werk in Dickens' Gesamtwerk und zeigt sein Talent als Meister der sozialen Kritik und des Realismus.

Der Pfarrer – Die alte Dame – Der Kapitän



Unser Pfarrer ist ein junger Mann von so einnehmendem Äußern und so gewinnendem, bezauberndem Wesen, daß noch kein Monat nach seinem Erscheinen im Kirchspiel vergangen war, als auch schon die Hälfte unserer jungen Damenwelt vor Frömmigkeit melancholisch wurde und die andere Hälfte vor Liebe in Tiefsinn oder Verzweiflung verfiel. Zu keiner anderen Zeit hatte man in unserer Kirche sonntags so viele junge Frauen gesehen, und nie hatten die kleinen runden Engelsgesichter auf Mr. Tomkins Grabmal im Seitengang eine so inbrünstige Andacht geschaut, wie die jungen Kirchgängerinnen jetzt an den Tag legten.

Der Pfarrer war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, als er im Kirchspiel erschien, um es in Bewunderung und Erstaunen zu versetzen. Er trug das Haar gescheitelt, einen kostbaren Brillantring am Zeigefinger der linken Hand (die er stets an die linke Wange hielt, wenn er die Gebete las) und hatte eine tiefe, außerordentlich feierliche Grabesstimme. Kluge Mütter machten unzählbare Versuche beim neuen Pfarrer, der mit zahllosen Einladungen bestürmt wurde, die er auch bereitwillig annahm. Hatte sein Wesen auf der Kanzel schon einen günstigen Eindruck gemacht, so wurde dieser durch sein Erscheinen in der Gesellschaft noch zehnfach verstärkt. Die Kirchenstühle in der Nähe der Kanzel und des Altars stiegen im Preis, noch teurer wurden die Sitze im Mittelgang, und kein Zollbreit Raum auf den vordersten Bänken der Emporkirche war weder für Geld noch für gute Worte mehr zu haben. Einige gingen selbst so weit, zu versichern, daß sie die drei Miss Browns, die einen dunklen Kirchenstuhl dicht hinter dem der Kirchenvorsteher innehatten, eines Sonntags auf den freien Plätzen am Abendmahlstisch entdeckt hätten, offenbar um den Pfarrer in die Sakristei vorübergehen zu sehen!

Der Pfarrer fing an, freie Vorträge zu halten, und die Ansteckung ergriff selbst die bedächtigen Väter. Einst stand er in einer Winternacht um halb ein Uhr auf, um das Kind einer Wäscherin zu taufen, und die Dankbarkeit des Kirchspiels kannte keine Grenzen – sogar die Kirchenältesten wurden freigebig gesinnt und setzten es durch, daß das Kirchspiel die Kosten für das Schilderhaus auf Rädern übernahm, das sich der neue Pfarrer hatte bauen lassen, um darin bei nassem Wetter die Begräbnisgebete zu lesen. Er schickte einer armen Frau, die mit vier Kindern niedergekommen war, drei Maß Hafergrütze und ein Viertelpfund Tee – das Kirchspiel war entzückt. Er veranstaltete eine Sammlung für die Wöchnerin – ihr Glück war gemacht. Er redete eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten in einer Anti-Sklavereiversammlung – der Enthusiasmus hatte seinen Gipfel erreicht.

Es wurde vorgeschlagen, dem neuen Pfarrer ein Zeichen der Achtung und Dankbarkeit für seine dem Kirchspiel geleisteten unschätzbaren Dienste zu widmen – im Nu war der Beitragsbogen gefüllt, und es wurde gestritten, und Kunstgriffe wurden angewendet, nicht, wie man sich der Beisteuer entziehen könne, sondern wer zuerst unterschreiben solle. Man ließ ein kostbares silbernes Schreibzeug mit einer passenden Inschrift anfertigen; der Pfarrer wurde zu einem öffentlichen Frühstück eingeladen; das Schreibzeug wurde ihm überreicht, und Mr. Gubbins, der Ex-Kirchenvorsteher, hielt eine treffliche Rede dabei, die der Pfarrer in Ausdrücken beantwortete, die allen Anwesenden Tränen entlockten – sogar die Kellner wollten zerschmelzen.

Man hätte meinen sollen, daß der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung nunmehr den höchsten Gipfel der Beliebtheit erreicht gehabt hätte. Keineswegs! Der Pfarrer fing an zu husten – eines Morgens vier Hustenanfälle zwischen Litanei und Epistel und fünf beim Nachmittagsgottesdienst. Man machte die Entdeckung, daß er schwindsüchtig war. Welch eine interessante Melancholie!

Die Sympathie und Bekümmernis überstiegen alle Grenzen. Daß ein Mann wie der Pfarrer – solch ein lieber, vortrefflicher Mann – schwindsüchtig sein mußte! Es war zuviel. Geschenke von unbekannten Gebern, bestehend aus eingemachten Früchten und Gebacknem, elastischen Westen, »Seelenwärmern« und Trikotstrümpfen, strömten gleichsam in das Haus des Pfarrers, bis er mit Winterhüllen so vollständig ausgerüstet war, als wenn er im Begriff stände, eine Reise nach dem Nordpol zu unternehmen. Sechsmal an jedem Tag liefen mündliche Bulletins über seinen Gesundheitszustand im Kirchspiel um, und der Pfarrer befand sich im Zenit seiner Popularität.

Doch gerade um diese Zeit ging eine Veränderung in den Gesinnungen des Kirchspiels vor. Durch den Tod eines achtbaren, stillen, alten Mannes wurde die Predigerstelle bei der Kapelle frei. Der Nachfolger war ein blasser, schmächtiger, leichenhaft aussehender Mann mit großen schwarzen Augen und langem, straffem, schwarzem Haar. Er kleidete sich äußerst nachlässig, sein ganzes Wesen war abweisend, und noch abweisender war das, was er predigte. Mit einem Wort, er war in jeder Beziehung das Gegenstück des Pfarrers. Unsere Frauen und Mädchen strömten haufenweise hin, um ihn zu hören, zuerst, weil er so ausnehmend sonderbar aussah, dann, weil sein Gesicht höchst ausdrucksvoll war, hierauf, weil er so vortrefflich predigte, und endlich, weil sie wirklich glaubten, daß in seinem Wesen etwas ganz Unbeschreibliches läge.

Der Pfarrer war ohne Zweifel gerade so, wie er immer gewesen; allein es ließ sich nicht leugnen, daß – daß – kurzum, er war nichts Neues mehr wie der andere Geistliche. Die Unbeständigkeit der Volksgunst ist sprichwörtlich; seine Zuhörer verließen ihn einer nach dem andern. Er hustete, bis er schwarz im Gesicht wurde – es war vergeblich, Teilnahme für ihn zu erwecken. Man kann in unserer Pfarrkirche wieder überall Plätze haben, und die Kapelle soll erweitert werden, denn sie ist jeden Sonntag bis zum Erdrücken gefüllt.

Im ganzen Kirchspiel ist niemand bekannter und geachteter als eine alte Dame, die schon im Kirchspiel gewohnt hat, ehe unser – des Autors – Name in das Taufregister eingetragen wurde. Unser Kirchspiel liegt in einer Vorstadt, und die alte Dame bewohnt ein Haus in einer hübschen, aber noch auf der einen Seite freistehenden Häuserreihe, in der freiesten und angenehmsten Gegend des Kirchspiels. Das Haus ist ihr eigenes und inwendig und auswendig – nur die alte Dame sieht ein wenig älter als vor zehn Jahren aus – vollkommen in dem Zustand, in dem es bei Lebzeiten des alten Herrn war. Das kleine Wohnzimmer ist ein wahres Muster von Stille und Sauberkeit, der Teppich ist mit grauer Leinwand bedeckt, der Spiegel und die Bilderrahmen sind sorgfältig in gelben Musselin eingehüllt, die Tischdecken werden niemals abgehoben, ausgenommen, wenn die Tische gewachst werden, was regelmäßig einen über den andern Morgen nach neun Uhr geschieht, und alles und jedes, vom größten bis zum kleinsten, hat seinen bestimmten Platz, was denn auch natürlich von den Geschenken gilt, die der alten Dame von kleinen Mädchen, deren Eltern in derselben Häuserreihe wohnen, gemacht werden und seit vielen Jahren in ihrem Besitz sind, wie zum Beispiel die beiden altmodischen Uhren (von denen die eine stets eine Viertelstunde zurückbleibt und die andere eine Viertelstunde vorgeht), das kleine Bild der Prinzessin Charlotte und des Prinzen Leopold, wie sie sich in der königlichen Loge des Drury-Lane-Theaters zeigten, usw.

Hier sitzt nun die alte Dame emsig mit Nähereiarbeit beschäftigt – zur Sommerzeit am Fenster, und sieht sie dich die Treppenstufen heraufkommen und gehörst du zu ihren Günstlingen, so eilt sie hinaus, um dir, ehe du klopfst, die Haustür zu öffnen, und nötigt dir, da du vom Gehen in der Hitze ermüdet sein mußt, ein paar Glas Xeres auf, bevor du dich durch Sprechen noch mehr anstrengen darfst. Kommst du abends, so wirst du sie froh und heiter, aber doch ein wenig ernster finden als gewöhnlich. Sie hat auf dem Tisch vor sich die aufgeschlagene Bibel liegen, aus der Sarah, die ebenso sauber gekleidet und ebenso methodisch wie ihre Herrschaft ist, regelmäßig zwei oder drei Kapitel laut vorliest.

Die alte Dame sieht fast gar keine Gesellschaft, mit Ausnahme der bereits erwähnten kleinen Mädchen, von denen jedes seinen bestimmten Tag zum Teetrinken bei ihr hat, den das betreffende Kind als sein größtes Fest erwartet. Sie macht selten weitere Besuche als im zweiten Hause rechts und links, und wenn es der Fall ist, so läuft Sarah voran und klopft mit Macht, damit ihre »Frau« ja nicht vor der Tür zu warten braucht und sich einen Schnupfen holt. Sie ist höchst gewissenhaft darin, jede Einladung pünktlich zu erwidern, und gibt sie eine kleine Teegesellschaft, so putzt sie mit Sarah die Teemaschine, das Porzellanservice und die Päpstin-Johanna-Tafel auf das sorgfältigste, und die Damen werden im höchsten Staat im Besuchszimmer empfangen.

Sie hat nur wenig Verwandte, die in weiter Entfernung, der eine hier, der andere dort im Lande, wohnen und die sie daher selten sieht. Sie hat einen Sohn in Ostindien, den sie jedermann als einen herrlichen, bildschönen jungen Mann schildert – als sprechend ähnlich dem Bild seines geliebten seligen Vaters; doch fügt sie mit traurigem Kopfschütteln hinzu, daß sein Lebenswandel ihr das schwerste Leid im Leben zugefügt und ihr in der Tat das Herz fast gebrochen hätte, daß es jedoch Gott gefallen habe, ihr Kraft zu verleihen, auch das zu tragen, und man möge den Sohn in ihrer Anwesenheit doch ja nicht wieder erwähnen.

Sie hat eine große Menge Hausarme, und kehrt sie sonnabends vom Markt zurück, so findet auf dem Hausflur eine Versammlung von alten Männern und Frauen statt, die auf ihre Wochengabe warten. Ihr Name steht auf allen...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2017
Verlagsort Prague
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga Humor / Satire
Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 19th Century History • british author • Brontë • Classic Literature • Dickensian themes • eccentric characters • historical fiction • Jahrmarkt der Eitelkeit • Jane Austen • Jojo Moyes • Jonathan Swift • Literary Realism • Mark Twain • Nick Hornby • Nostalgic Atmosphere • Oscar Wilde • sketches by boz • Theodor Fontane • Urban life • Victorian London
ISBN-10 80-272-0593-X / 802720593X
ISBN-13 978-80-272-0593-6 / 9788027205936
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