Der verschwundene Zeuge (eBook)
240 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76523-4 (ISBN)
Als Felix Hartlaub 1945 in den letzten Kriegstagen im umkämpften Berlin spurlos verschwindet, ist der promovierte Historiker, Autor und Zeichner gerade 31 Jahre alt. Nach dem Besuch der Odenwaldschule studierte er in Berlin. Dort freundete er sich mit Klaus Gysi an, dem späteren DDR-Kulturminister und Aufbau-Verleger - und verliebte sich in dessen Mutter Erna. Im Krieg wurde Hartlaub als Mitarbeiter des Auswärtigen Amts nach Paris beordert und führte später mit anderen das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht im Führerhauptquartier in Rastenburg, Winniza und Berchtesgaden.
Hartlaub hat die Brutalität seiner Zeit, die »Menschenfressergesichter« in den Großstädten, die »ratlose Männlichkeit« seiner Kameraden, die Sentimentalität und Unbarmherzigkeit des militärischen Jargons mit einzigartiger Sensibilität und Klarheit beschrieben. Seine Briefe, Aufzeichnungen und literarischen Texte blieben erhalten. Darunter ein Romanversuch über das Attentat vom 20. Juli 1944, das er aus nächster Nähe - an seinem Arbeitsplatz im Sperrkreis II der »Wolfsschanze« - miterlebte.
»Die Frage nach der Genese, nach dem ?Wie war es möglich?, wird wohl die einzige sein, die noch an uns gerichtet, zu der vielleicht noch etwas zu sagen sein wird«, schrieb Felix Hartlaub. Matthias Weichelts Biographie spürt dem dramatischen Verlauf seines Lebens nach und rückt die bestürzende Dichte und Präsenz seines vorläufig und unvollendet gebliebenen Werks in ein neues Licht.
<p>Matthias Weichelt, geboren 1971, Chefredakteur von<em> Sinn und Form</em>, lebt in Berlin. Er ist Mitherausgeber der kommentierten Nelly-Sachs-Werkausgabe (2011) und Autor des biographischen Essays <em>Peter Huchel</em> (2018).</p>
Kapitel 2
Der Genius im Kinde
Kriegsgeschichten
1914, als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist Felix Hartlaub gerade ein Jahr alt. Daß aus dem Attentat im fernen Sarajevo ein solcher Weltkrieg entsteht, können sich seine Eltern nicht vorstellen, kann sich niemand vorstellen, man weiß nicht einmal, was das überhaupt ist. Und keiner ahnt, daß bald darauf ein weiterer, noch schrecklicherer folgen wird, ein ganzes Jahrhundert im Zeichen des Mars bevorsteht, mit Millionen von Toten, Verwundeten, Vertriebenen. Als Deutschland mit Österreich-Ungarn ins Feld zieht, gibt man sich noch siegessicher, der Erzfeind soll geschlagen und Paris eingenommen werden, der Kaiser kennt keine Parteien mehr, nur noch deutsche Brüder. Am Ende des jahrelangen Schlachtens ist er im Exil, die Monarchie Vergangenheit. Die deutschen Brüder und Schwestern erwartet eine ungewisse Zukunft in einer neuen Republik, die Höhe der Schulden und das Ausmaß der Schuld sind vertraglich geregelt. Einen »Sprung ins Dunkle« hat Reichskanzler Bethmann Hollweg die deutsche Politik zu Kriegsbeginn genannt. Der Fall ist tief und der Aufprall hart. Die Entbehrungen und Ängste wird man nicht vergessen, das Reden von der »Schmach« und der »Welt von Feinden« auch nicht.
Damit auch die Kinder wissen, in welcher Epoche sie geboren und aufgewachsen sind, schreibt ihre Großmutter Helene Hartlaub genau auf, wie sich das Leben im Krieg verändert, wie alle sich einschränken müssen, am Ende den Frieden herbeisehnen. »So nach und nach«, heißt es zu Beginn des vierten, im August 1917 begonnenen Bandes der »Kriegszeiten«, »haben sich neben Kriegsnachrichten und Erlebnissen allerhand kleine private Mitteilungen mit eingeschlichen. Das macht die lange Dauer des Krieges. Man stumpft ab gegen die täglichen Schreckensnachrichten, vergisst sie auszusprechen, ist überhaupt froh, wenn man keine Zeitungen zu lesen braucht, und das Privat Leben gewinnt die Oberhand. Deshalb wird auch wohl in diesem Band mancherlei stehen was nicht vom Kriege handelt, und wer weiß, vielleicht kann ich gegen Ende vom Frieden reden!« Das für die Enkel gedachte Tagebuch bildet den Grundstein der Hartlaubschen Chronik, die mit dem mehrbändigen »Eselsbuch« fortgesetzt wird, einer zunächst aus Sicht eines Eselchens für die Kinder verfaßten, dann das Zusammenleben und die Zeitumstände protokollierenden Familiengeschichte, an der die Mutter, die Tochter und schließlich der Vater weiterschreiben. Auch die zwischen den Eltern und den Kindern, mit Angehörigen und Freunden gewechselten Briefe gehören zum familiären Archiv, werden herumgereicht und aufgehoben, bilden ein alle verbindendes, alle einschließendes schriftliches Gespräch. Sie werden gesammelt wie die übrigen Dokumente, Aufzeichnungen, Urkunden, der im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrte Nachlaß füllt ein Dutzend Kästen. Was diese Familie ausmacht, soll bleiben, sie versichert sich ihrer selbst in der Lektüre der füreinander und übereinander verfaßten Schreiben, fühlt sich als Teil einer Tradition und gründet eine eigene. Im Zeichen der Überlieferung hat jedes Zeugnis seinen Wert.
Abb. 2: Der Genius im Kinde. Felix Hartlaub 1922.
Der Krieg, in dessen Schatten die junge Familie wächst, ist allgegenwärtig, aber die Front bleibt glücklicherweise fern, eine schwere Arthritis erspart Gustav Friedrich Hartlaub den Einsatz im Schützengraben. Nur die französischen Flugzeuge erreichen zuletzt auch Mannheim, der kleine Gustav Adolf Felix macht das zum Gegenstand einer seiner frühesten Zeichnungen. Die Eltern sind nach seiner Geburt von Bremen in die südwestdeutsche Industriestadt gezogen, 1915 und 1918 kommen hier die Geschwister Genoveva Irene Luise und Michael zur Welt. Der Vater hat 1913 eine Assistentenstelle an der städtischen Kunsthalle angenommen, ein eher ungewöhnlicher Berufsweg für jemanden, der wie seine Frau aus einer alteingesessenen hanseatischen Kaufmannsfamilie stammt. Aber auch der Posten des Museumsdirektors hat in Deutschland inzwischen ein gewisses Renommee, Männer wie Wilhelm von Bode, Hugo von Tschudi, Ludwig Justi oder Max Friedländer sind über ihre Häuser hinaus bekannt. Und Gustav Pauli, der die Kunsthallen in Bremen und Hamburg leitet, ist sogar Sohn eines Bremer Bürgermeisters. Außerdem bricht die Neigung zur Kunst in beiden Familienzweigen immer wieder durch, Gustav Friedrich Hartlaubs Mutter wäre gern Opernsängerin geworden, die Urgroßmutter führte in Bremen einen literarischen Salon. Und seine Frau Félicie, geborene Meyer, darf zwar nicht studieren, macht aber Bildungsreisen in den Süden und läßt sich an einer Gartenbauschule ausbilden. Ihr Mann sieht sie 1902 in der Aufführung eines Traumspiels von Maurice Maeterlinck auf der Bühne, das, mit einem von Rilke geschriebenen Prolog, zur Eröffnung der Bremer Kunsthalle aufgeführt wird. Ihre Leidenschaft gilt der Literatur, sie liest Proust im Original, schreibt für sich und veröffentlicht Essays und Erzählungen, zunächst in der von Gustav Friedrich Hartlaub mitherausgegebenen »Güldenkammer«, dann in angesehenen Zeitschriften wie Velhagen & Klasings »Monatsheften«, Texte mit Titeln wie »Paris und seine Widersprüche«, »Die Schwester« oder »Süßer Kitsch«. Und sie spricht im Rundfunk über »Die Frau als Künstlerin«. Dieses Thema liegt ihr besonders am Herzen, schließlich engagiert sie sich in der Frauenbewegung, ist auf der Suche nach Mitstreiterinnen und findet sie in der GEDOK, der »Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnen-Vereine aller Kunstgattungen«, deren Ortsgruppe Mannheim-Ludwighafen-Heidelberg (»Maluheidu«) sie mitbegründet. Als die GEDOK-Vorsitzende Ida Dehmel, geborene Coblenz, die Witwe Richard Dehmels und Jugendfreundin Stefan Georges, im Januar 1930 ihren sechzigsten Geburtstag feiert, gratuliert Félicie Hartlaub mit einem langen Zeitungsartikel.
Wie ihre Schwiegermutter hält sie die Zeit des Ersten Weltkriegs in Aufzeichnungen fest, allerdings in »Traumprotokollen«, in denen es wesentlich drastischer zugeht als in den für die Enkel bestimmten Großmutter-Tagebüchern; Leichenwagen, Krüppel, Agenten, Verwundete und Gefallene bevölkern die Träume, auch Hindenburg selbst tritt auf, als »innere Gefahr« für den ersehnten Frieden (Harald Tausch). Hier gewinnt der Krieg die Oberhand vor dem »Privat Leben«. Sein Schatten legt sich auf das Leben der Familie, die Bedrohung verdichtet sich in den Bildern der Träume. Indem die Mutter sie aufschreibt, sind sie immerhin fixiert. Nach ihrem Tod wird ihr Mann beim Lesen der Protokolle Trost finden; wer verschwunden ist, lebt in seinen Aufzeichnungen fort: »Wie schön und befreiend ist es für dich, daß du beim Lesen von Mammis Papieren schon die versöhnende Überschau gewonnen hast, ihr gesamtes Leben mit allem Auf und Ab begreifen kannst und nicht mehr nur das Finale im Ohr, die absteigende Linie im Auge hast.« So schreibt der Sohn dem Vater nach ihrem Begräbnis. Das Familienarchiv wird zum Raum der Andacht und Erinnerung, hier hören die Gespräche miteinander nie auf.
Abb. 3: Bildungsbürger in unsicheren Zeiten. Gustav und Félicie Hartlaub ca. 1922.
Die zwanziger Jahre erweisen sich trotz aller wirtschaftlichen Probleme und politischen Unwägbarkeiten als Zeit großer Möglichkeiten. 1923 wird Hartlaub als Nachfolger Fritz Wicherts Direktor der Mannheimer Kunsthalle. Das Museum hat sich seit seiner Gründung 1909 als Anziehungspunkt der neuen Kunst in Deutschland etabliert und gilt weltweit als eine der ersten Bürgersammlungen der Moderne. Der 1911 ins Leben gerufene »Freie Bund zur Einbürgerung der bildenden Künste in Mannheim« soll möglichst breiten Schichten, »insbesondere der industriellen Arbeiterschaft«, Zugang zu den Sammlungen verschaffen, es gibt »didaktische Ausstellungen« und eine »Akademie für Jedermann«. Auch Plakate, ...
| Erscheint lt. Verlag | 23.6.2020 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 1945 • 2. Weltkrieg • Autor • Autor unter der Tarnkappe • Biografie • Deutsche Besetzung Frankreichs 1940-1945 • Deutsche Geschichte • geboren 1913 • gestorben 1945 • Hartlaub • Historiker • Hitler • Kriegsende • Kriegstagebuch • Literatur 20. Jahrhundert • Mitglied der Reichschrifttumskammer • Nationalsozialismus • Percy Ernst Schramm • Private Aufzeichnungen • Schriftsteller Berlin • ST 5079 • ST5079 • suhrkamp taschenbuch 5079 • Vermisst • Verschwinden • Wehrmacht • Zweiter Weltkrieg |
| ISBN-10 | 3-518-76523-X / 351876523X |
| ISBN-13 | 978-3-518-76523-4 / 9783518765234 |
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