Über das Verhalten in der Gefahr (eBook)
420 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518766170 (ISBN)
Die hier zusammengestellten Texte von Peter Suhrkamp aus den Jahren 1919 bis 1957 - darunter Essays, Aufsätze, Rezensionen, pädagogische und politische Stellungnahmen, Tagebucheinträge zur Zeitgeschichte oder Vorträge wie die Begrüßungsrede zu einem Leseabend mit Max Frisch, die Rundfunkansprache zum 70. Geburtstag von Hermann Hesse oder Reflexionen zur Bedeutung von Marcel Proust - lassen das facettenreiche Porträt eines Verlegers entstehen und zeichnen die Stufen nach, die ihn dazu machten.
Wie wurde der Bauernsohn aus Kirchhatten bei Oldenburg nach dem Überstehen zweier Weltkriege, einer KZ-Gefangenschaft und einer Phase beruflicher Orientierungssuche schließlich der Verlagsgründer jenes Hauses, das in diesem Jahr siebzigjähriges Bestehen feiert?<p>Peter Suhrkamp, geboren am 28. März 1891 in Kirchhatten (Oldenburg), war nach dem Besuch des Volksschullehrerseminars (1905–1911) von 1911 bis 1914 Volksschullehrer (1914 holte er als Externer das Abitur am Realgymnasium nach), zuletzt in Bremerhaven. Er nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil (ab 1917 Kompanieführer einer Sturmkompagnie). Nach dem Aufenthalt in einem Sanatorium 1918 studierte er Germanistik. Im folgenden Jahrzehnt wirkte er nacheinander als Lehrer (Odenwaldschule und Freie Schulgemeinde Wickersdorf), zwischen 1921 und 1925 als Dramaturg und Regisseur (Darmstadt) sowie (1925-1929) als Pädagogischer Leiter (Wickersdorf), danach als freier Journalist (<em>Berliner Tagblatt</em>) in Berlin und als Zeitschriftenredakteur im Haus Ullstein (<em>Uhu</em>). 1932 Herausgeber der Hauszeitschrift des S. Fischer Verlags,<em> Die neue Rundschau</em>, wurde er im Herbst 1933 Vorstandsmitglied im Verlag. Nach dessen Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft 1936 leitete er ihn allein. Ab 1942 musste er den Verlag umbenennen in Suhrkamp Verlag. Am 13. April 1944 wurde er verhaftet und wegen »Hochverrat u. Landesverrat« unter Anklage gestellt, am 8. Februar 1945 aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen entlassen. Am 4. Oktober 1945 erhielt er als erster Verleger eine Lizenz von der Britischen Militärregierung für den Suhrkamp Verlag Berlin, kurz danach die einer Amerikanischen Militärregierung. 1950 erfolgte die Trennung von Gottfried Bermann Fischer, als dessen Treuhänder sich Suhrkamp verstanden hatte, und der Eintrag einer Einzelhandelsfirma Suhrkamp Verlag mit Sitz in Frankfurt am Main. 1951 gründete er die <em>Bibliothek Suhrkamp</em>; im selben Jahr erhielt er die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Peter Suhrkamp starb am 31. März 1959.</p>
Kunst und Künstler
Bedeutung für die Gegenwart
Kunst ist heute ausgesprochen unpopulär.
Oberflächlich besehen, scheint das nicht ganz zu stimmen. Zu keiner Zeit wurde soviel gelesen, gab es im Theater derartige Serien von Aufführungen eines Stückes, wurde Kunst so allgemein und überallhin verbreitet (Film und Radio) und war die Diskussion über Kunst allgemein geübt wie heute. Tatsächlich drückt sich darin in keinem Falle das Verhältnis zur Kunst aus, sondern lediglich ein allgemeines Bildungsniveau und bestenfalls eine Unersättlichkeit des Erlebenswillens. Zum andern bedeutet das nichts als eine Überschwemmung der Welt mit den Produkten der Zivilisation; wie weit diese wirklich genutzt werden, das ist nirgends festgestellt und wird auch nicht festgestellt werden. Zu den Erscheinungen dieser Art gehört auch die Verbreitung von älterer Kunst und der Konsum fremder Kunst.
Das Produkt hiervon ist eine allgemeine Kultur der Aufnahmeorgane und eine allgemeine Verbreitung von Urteilen. Jedermann ist heute zur Abgabe von Urteilen über Kunstdinge befähigt. Nur ist es in den seltensten Fällen sein Urteil, das einer abgibt. Die meisten Urteile, die heute über Kunstdinge gefällt werden, selbst von berufenen Kunstkritikern in der Presse, sind garkeine Urteile, sondern höchst mechanische Reaktionen von einem allgemeinen Bildungsstandard aus. In den meisten Fällen wird der technische Fortschritt beurteilt, wozu keinerlei Geist nötig ist, sondern nur, daß einer etwas gelernt hat. Der Dümmste, wenn er nur gewohnt ist, Filme zu sehen, findet alte Filme schlecht, provinziell, lächerlich, weil er natürlich den technischen Abstand begreift. Der Standpunkt, von dem aus geurteilt wird, ist demnach der letzte Stand des Fortschritts. Bis zum Künstlerischen im Film dringen noch kaum die dafür berufenen Kritiker vor. Nirgends sonst mag dieser Umstand so kraß in die Augen fallen (man kann ihn übrigens doch ebenso leicht auch im Theater konstatieren!), diese Verlegenheit ist dennoch eine allgemeine, sobald es sich um Kunstwerte handelt.
Es stimmt schon: Lyrik, das Drama, das Epos, Gemälde, Plastiken, Werke reiner Musik, kurz: die Kunst spielt im Leben heute kaum eine Rolle. Speziell neue Kunst ist ausgesprochen unpopulär. Fast will es scheinen – bei aller Verbreitung der Kunst in heutiger Zeit –, als ob Kunst nie so bedeutungslos gewesen wäre. Die Kluft zwischen Kunst und Volk ist heute ungeheuerlich. Wo die Gesellschaft noch Stellung zur neuen Kunst nimmt, äußert sie sich auffallend feindlich oder ignorant.
Es handelt sich dabei keineswegs um die übliche Ablehnung, der jede neue Kunstrichtung in ihren Anfängen begegnet. Der Naturalismus der neunziger Jahre z. B. rief zunächst auch eine leidenschaftliche Gegnerschaft auf den Plan. Aber diese war von anderer Art. Die Radaumacher in der Premiere von »Vor Sonnenaufgang« und den »Webern« verstanden doch Hauptmanns Dramen sehr gut, und gerade weil sie sie verstanden, lehnten sie sie ab. Die Abwehr hatte offenbar teils politische, teils ästhetische Gründe. Der Sozialismus in den Stücken wurde abgelehnt, und man war in seinem bestimmt orientierten ästhetischen Gefühl von den Vorgängen angewidert. Der Naturalismus wurde dann sehr schnell populär. Und nicht nur das! Im naturalistischen Theater wurde hernach ein Kunst- und Künstlerkult getrieben, wie kaum je vorher im Theater, unter fast allgemeiner Beteiligung des Volkes. Bei einer Untersuchung der Gründe trifft man auf das Miterleben des allgemeinen Menschlichen (Hauptmann wurde als der Dramatiker des Mitleids durchgesetzt!), das in seiner primitiven Form und wie nie zuvor in diesem Maße in der Kunst gepflegt wurde. Weil das Menschliche in dieser Kunstrichtung vorherrschte, ergriff sie die Massen. Diese Kunst war eine Angelegenheit der Gegenwart und des Volkes. Und welche Musik hat je so allgemein mit Erleben verzückt wie die Wagners nach kurzer Zeit heftigster Ablehnung, nachdem sie weltanschaulich interpretiert und musikalisch, für jedermann verständlich, in ihre Motive, also technisch, zerlegt war. Und schlechte Reproduktionen von Millets »Abendgebet« und Böcklins »Schweigen im Walde« und »Toteninsel« konnte man 1910 als Zimmerschmuck in allen kleinbürgerlichen Wohnungen antreffen. Diese Kunst enthielt Elemente, die jedermann verständlich waren, es waren das die Stoffe aus dem Leben oder dem Sentiment; die Kunst war eine Form, diese mit Pathos zu umgeben, sie zu verherrlichen.
Von der heutigen Kunst sagt man, daß sie schwer verständlich ist. Tatsächlich ist der Zustand noch schlimmer: sie ist für die Allgemeinheit absolut unverständlich und kann auch nicht allgemein verständlich gemacht werden. Die Allgemeinheit reicht in diesem Falle sehr weit. Es gibt nur eine kleine Gruppe Bevorzugter, die Werke heutiger Kunst wirklich versteht und – was allgemein wie Narrheit wirkt – als besondere Kostbarkeit behandelt. Die übrigen aber sind alle absolut ausgeschlossen. Selbst die individuellen Möglichkeiten, die sonst vor jedem Kunstwerk bestanden, daß man für sich entscheiden konnte, ob einem etwas gefiel oder nicht und unter den Werken für sich eine Auswahl treffen, fallen vor der neuen Kunst weg; entweder man versteht sie, man gehört zu den »Auserwählten«, die »für Kunst ein Organ haben«, oder einfach zu der Masse der Laien. Jenseits dieser Entscheidung beginnt erst wieder die Möglichkeit zu einer individuellen Auswahl. Und diese klare Scheidung der Gesellschaft durch die Kunst wird unmittelbar nach einer Epoche vollzogen, in der die Gesellschaft in größter Breite an der Kunst beteiligt wurde; in einer Zeit allgemeiner Demokratie diese Exklusivität einer neuen Geistesaristokratie! Die Konstituierung eines neuen Adels! – Demgegenüber gibt es in der Masse der Menschen nur zwei Möglichkeiten des Verhaltens: Erbostheit oder absolute Ignoranz.
(Wie immer, wenn irgendwo eine Exklusivität auftritt, eine Menge »Möchtegerne« auf den Plan kommt, gibt es natürlich auch vor der neuen Kunst, bei aller strengen Entschiedenheit in der Haltung der Kunst, viele, die unmöglich glauben und eingestehen können, daß sie zur Masse gehören. Die Kunstsnobs zählen heute nach Legionen. Sie sind am leichtesten zu erkennen an der falschen Betonung, mit der sie über Kunstdinge sprechen. Genau gesehen ist der Kreis der Auserwählten fast auf Künstler und Menschen mit künstlerischer Veranlagung beschränkt.)
Aber das ist soweit nur eine Seite in dem Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft; eine andere ist von der Gesellschaft aus bestimmt. Selbstverständlich läßt sich eine Gesellschaft, der einmal die Kunst gegeben war, die an ihr beteiligt wurde und unter ihrer Suggestion ihre stärksten Erlebnisse hatte, die Kunst nicht wieder nehmen. Sie hat ihren Anspruch sichtbar aufgerichtet. Da sind die großen, von der Gesellschaft für die Gesellschaft errichteten Kunstinstitute und Kunstapparate, Institute und Apparate, die mit Kunst gespeist werden: Theater, Opernhäuser, Konzerte, Ausstellungen, Bibliotheken, Sammlungen, Zeitungen, Kinos und Rundfunk. Man kann zwei Gruppen unterscheiden: solche, die ausschließlich der Verbreitung von Kunst dienen, also Theater, Opernhäuser, Konzerte, Ausstellungen, Bibliotheken, Sammlungen – und solche, die unter anderem auch Kunst in ihre Publikationen einbeziehen, also Zeitungen, Kinos und Rundfunk.
Für diese Betrachtung ist in erster Linie die erste Gruppe wichtig. Innerhalb dieser ist das Theater das beste Beobachtungsobjekt. An ihm fällt zunächst auf, wie sehr es an Bedeutung verloren hat. Es repräsentiert für die Gesellschaft entweder nur noch Traditionswerte oder Feierabendideale. Weiter läßt sich beobachten, daß bestimmte Gruppen der Gesellschaft ihre Sonderansprüche stellen, seltener künstlerische als aktuelle, weltanschaulich oder politisch bestimmte, oder auch solche, die von einer Modelaune herrühren. Das geht so weit, daß einzelne Gruppen aus der Kunst ein Kampforgan machen, sie also als Mittel gebrauchen möchten. Bestimmte Schlagworte, die gegenwärtig in der Diskussion über Kunst überall wiederkehren, wie Zeitkunst, aktuelle Kunst, ...
| Erscheint lt. Verlag | 23.6.2020 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Beckett • Bücherverbrennung • Essays • Hesse • Leserschaft • Max Frisch • Max Reinhardt • Musikkritik • Neue Rundschau • Ordre des Arts et des Lettres (Chevalier) 2012 • Peter Suhrkamp • Proust • Reden • Theater • Verlag • Verleger • Verleger des Jahres (<em>BuchMarkt</em>-Magazin) 2022 |
| ISBN-13 | 9783518766170 / 9783518766170 |
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