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Meine Nacht im Picasso-Museum (eBook)

Über Erotik und Tabus in der Kunst, in der Religion und in der Wirklichkeit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
176 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32001-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meine Nacht im Picasso-Museum -  Kamel Daoud
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Kamel Daoud, Picasso und der Dschihadist - ein Kulturclash der besonderen Art. In seinem neuen Buch »Meine Nacht im Picasso-Museum« beschäftigt sich Kamel Daoud mit den Themen Erotik, Religion und Radikalismus. Er hat dafür eine Nacht im Pariser Picasso-Museum verbracht. Herausgekommen sind hochinteressante Betrachtungen aus verschiedenen Perspektiven: der des Westens und der eines erfundenen Islamisten namens Abdellah. Kamel Daoud, Autor des Bestsellers »Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung«, lässt sich für eine Nacht im Picasso-Museum einschließen und riskiert einen Blick auf das Verhältnis des großen Malers zur Erotik, zur Kunst und zur Philosophie des Westens. Mit dabei ist Abdellah, ein junger islamistisch geprägter Mann, den Daoud sich ausdenkt und dessen Gefühlswelt angesichts der westlichen Zurschaustellung von Nacktheit und Diesseitsbezogenheit er ebenso beschreibt wie seine eigene. Ausgehend vom Begriff der Nacktheit entwickelt Daoud einen faszinierenden Text über das Kunst- und Selbstverständnis des Westens, aber auch über den Gedanken der »Reinigung der Geschichte« und der kulturellen Konkurrenz in der sogenannten arabischen Welt. Er erklärt, warum das westliche Kulturverständnis ebenso wie das Frauenbild einem fundamentalistisch geprägten Menschen wie dem prototypischen Abdellah als Provokation erscheinen muss. In der Gegenüberstellung dieser Gedankenwelten von Orient und Okzident, eines Orients, der verschleiert und maskiert, und eines Westens, der enthüllt und die Nacktheit feiert, liegt die Stärke dieses literarischen Essays, in dem Daoud aber zugleich auch immer die eigene schöpferische Tätigkeit reflektiert.

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, arbeitete lange als Journalist für den Quotidien d'Oran und andere Zeitungen. Heute lebt er als Schriftsteller mit seiner Familie in Oran. Für seinen ersten Roman »Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung« wurde er von der Kritik gefeiert und unter anderem mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt.

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, arbeitete lange als Journalist für den Quotidien d'Oran und andere Zeitungen. Heute lebt er als Schriftsteller mit seiner Familie in Oran. Für seinen ersten Roman »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« wurde er von der Kritik gefeiert und unter anderem mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt. Barbara Heber-Schärer, übersetzt u.a. Werke von Dominique Manotti, Leslie Kaplan, Claude Lanzmann, Lyonel Trouiliot.

»Paris ist heiliger, weißer Stein«


Erotik ist ein Jagdritual. Diese Riesenstadt ist im Winter kalter Stein. Eine Anordnung der Welt, in der das gelbe Licht die Rolle von Stoff übernimmt, die Brücken Schultern oder Hüften spielen und die Gebäude lauter dir zugekehrte Rücken sind. In den schönen Vierteln zeigen die Schaufenster traumhafte Brüste und Körper. Die gigantischen Plakate schüren das Begehren. Der Winter kündigt sich an, aber auf den Bildern ist die Haut in der Kälte nackt, die Reklametafeln bieten Frauen dar, die unaufhörlich lächeln und Sie erwarten. Paris ist für den, der aus dem Süden der Welt kommt, das Paradies, el Firdaous: Aber wegen seines Argwohns oder seines Andersseins oder seiner Armut verliert er darin seinen Körper, sein Recht auf Genuss, sein Geschlecht und seine Wärme. Stellen Sie sich vor, voller Unruhe und der göttlichen Belohnung ungewiss durch den Garten Eden zu gehen. Das Urteil ergeht nicht am Ende, sondern ständig. Die Huris – diese Frauen, die Verzweiflung und Wunschvorstellung des Korans Ihnen nach dem Tod verheißen und die, in ewiger Jugend erstarrt, geschminkt und müßig, im Paradies allein sind – weisen Sie ab und senken ihre großen Lider über ihrem Pfauenleben, wenn Sie ihnen begegnen. Die Schaufenster sind Gebete, aber nicht die Ihren, nicht für Sie. Man kniet hier nieder, aber um durch Métro-Münder hinabzusteigen. Münder, die niemanden küssen oder zu viele auf einmal! Man betet, die Hände an den Zug geklammert. Meine Sorge, als ich in Paris ankomme, ist mein Blick, ich weiß nicht, wohin damit. Am liebsten würde ich ihn in die Tasche oder unter die Achsel stecken, ihn wegräumen, blind und höflich werden, aber er fliegt davon. Kaum an die Welt der Bilder gewöhnt, schaue ich unwillkürlich alles an. Bilder, Küsse, Elend, Gerüche, Plakate und Reflexe. Ich möchte den Okzident besitzen, aber ich kann es nicht. Im Oktober schmückt sich Paris und wird beinahe ein Leid, das sich Ihnen jedoch nicht eingesteht. Als betrachteten Sie eine weinende Frau, die Ihnen den Rücken kehrt. Im Fallen findet sie einen Weg, nicht auf Ihrer Höhe zu sein. Ich bin dieser Stadt nicht böse. Ich gehöre nicht zu den Klagenden, die dem Abendland böse sind. Nein, ich komme hierher als mittelalterlicher Schreiber, als Dieb von Perspektiven und Möglichkeiten. Nachts ist diese Stadt Neonlicht und Geschichte, Taxis und Kathedralen, eine Frau und ein Mann, die dasselbe Geschlecht haben und nicht wissen, was tun. Paris ist ein Paradies, in dem man begreift, dass man den heiligen Krieg umsonst geführt hat, die Huris Illustrationen sind und die Flüsse nicht aus Wein bestehen, Sie aber vielleicht dazu drängen, ihn in den Bistros zu trinken.

Es ist die Nacht, die ich für meine Nacht im Picasso-Museum ausgesucht habe. Ich komme mit einem Rucksack, im Taxi und zehn Minuten zu früh dort an. Der ganze Schrecken des »arabischen« Spaziergängers im Abendland ist: Was tun mit dem Zuviel an Zeit? Ziellos herumzulaufen, ist in der Zeit der Attentate nicht mehr so einfach. Herumlaufen ist fast schon töten, zumindest bedrohen oder Aufmerksamkeit erregen. So tun als ob, ist eine aussichtslose oder schwierige Kunst für den Fremden. Ich habe beschlossen, einen Rundgang durch das Viertel zu machen. Auf die alte Art. Daher lief ich zehn Minuten lang im nächtlichen Gelb der Straßenlaternen weiter. Die Rue de Thorigny rauf und runter. Was tut ein Prophet, wenn er zehn Minuten vor einer Vision ankommt? Zehn Minuten zu spät, in dieser Zeit kann man noch ein Gebet oder das Buch Hiob fabrizieren. Aber zehn Minuten zu früh? Ich weiß nicht. Keine Antwort. Meine Frau, in den letzten Tagen der Schwangerschaft, wartet in der Wohnung, die wir im XIV. Arrondissement gemietet haben. Sie weiß, dass ich spät nach Hause komme. Sie mit tausend Frauen betrüge. Aufschneidereien und Vereinigungen. Fürchte ich mich? Nein. Ich liebe diese Momente, wo ich mit der Fußspitze die Gebiete anderer erkunde, das Feld der Künste und der Sinne. Seit meiner Geburt in einem algerischen Dorf habe ich das getan, als ich im stummen Umkreis einer heimlichen Sprache las. Ich spaziere so gern auf dem Mond herum und ordne die Welt neu. Ich weiß, ich bin Träger einer Weltanschauung, die im schlimmsten Fall an meiner Stelle schwatzen wird, wenn ich den Bericht über meine heilige Nacht werde schreiben müssen. Die »Araber« sind eine alternde, geschwätzige Aristokratie. Sie kann nicht zugeben, dass sie das Glück der Welt verloren hat. Und so zieht sich die Erzählung von den vergangenen Tagen, vom Goldenen Zeitalter, in die Länge, frisst unsere Überreste und unsere Körper und verleiht uns da, wo wir keine Schuhe an den Füßen haben, den Anschein von Stolz. Ein alter Aristokrat erzählt die Geschichte der Welt besser, denn seine Sprache hat eine Milliarde Nuancen, und er hat nichts anderes zu tun, als zu kommentieren. Er kann Ihnen sein verlorenes Land in allen Einzelheiten beschreiben wie einen vollkommenen Apfel. Oder umgekehrt. Der wahre Prophet der »arabisch« genannten Länder ist Jeremias, nicht Mohammed. Lassen wir das. Meine heilige Nacht findet also hier statt, unter meinen Schuhsohlen, ich läute und man lässt mich eintreten. Die Dame, die mir öffnet, ist argwöhnisch. Sie arbeitet im Museum und ist nicht informiert worden über meinen optischen Raub der Werke ihres Meisters. Sie fragt nach, telefoniert, und alles klärt sich. Ich war nur zu früh. Man bittet mich, in der Eingangshalle zu warten, und diese Halle ist kalt und nackt und wirkt wie ein verlassener Ort, mit einer großen Treppe, die wegführt und sich nicht um Sie kümmert. Das Schlimmste für einen Genius ist sein Tempel. Das heißt, sein Monument. Als ich den Hof überquere, fällt mir ein, dass ich Reliquien nicht mag. Ob in Gestalt von Steinen oder Gesichtern, von Folklore. Zu sehr imitieren sie Gebete oder wissendes Schweigen. Vor ihnen fühlt man sich zu einer bestimmten Haltung oder einem bestimmten Gedanken gedrängt. Das alles ist dem Gebet zu nah, als dass es für mich erträglich wäre.

 

In der Tradition wird erzählt, dass der Prophet eine »heilige Nacht« erlebt hat und in Lichtgeschwindigkeit von Mekka nach Jerusalem gereist ist (die nächtliche Reise), bevor er die sieben Himmel, in Stockwerke aufgeteilt wie Wolkenkratzer, durchquerte (die Himmelfahrt). Immer noch der Tradition zufolge hört er im siebten Himmel die Griffel, die das Schicksal schreiben. Ich liebe diese Metapher, die in der Begegnung mit einem Schreiber oder einer fleißigen Hand kulminiert und die das Manuskript als Ziel und Zweck jeder Reise erleben lässt. Eine weitere heilige Nacht ist die, in der ihm der Koran offenbart wurde. Diese Nächte sind ein sonderbares Detail, sie entsprechen tausend Jahren unseres irdischen Lebens, erklärt der Koran. Als Mohammed die Himmelsgewölbe auf dem Rücken eines fliehenden Tieres durchquerte, begegnete er Propheten und Gesandten. Und jeder hat ihm von seiner Erfahrung, seinem Leben, seiner Ewigkeit, seiner Botschaft erzählt. Ich stelle mir vor, in Picassos Himmel zu sein, aber nur in Paris. Vielleicht im ersten oder zweiten Himmel dem Maler mit dem hochmütigen Blick zu begegnen, inmitten der Gestirnkonstellationen, die er mit seinen Bronzebildhauerzehen, seinen Artefakten und Erektionen reizt. Dem Mann mit der breiten Stirn und der Eitelkeit, durch sein Genie reingewaschenen Eitelkeit, der mir ein wenig erklären wird, warum er die Huris vor dem Jüngsten Gericht gegessen und wie er die Schöpfung Gottes, den Körper des Menschen, auseinandergenommen hat, um noch einmal von vorn anzufangen; wie er vom Sündenfall zur biblischen Frucht, von der Frucht zum Genuss und dann zum Zerkauen und Verschlingen zurückgegangen ist. Ach, wenn er nur einen Blick auf den Sinn seines Werks im Universum meiner Geburt hätte werfen können! Ein Picasso des syrischen Guernica, ein Maler, dem die Angst die Hände abgeschnitten hätte. Ein »Entschleierer« gegen den Schleier. Ein Mann, der die Geschichte der Frau mit seinem Gaumen wieder aufgerollt hätte. Ein heiliger Spötter und Perverser. Jetzt ist das Wesentliche, dass ich in dieses Museum geschickt worden bin, um das erotische Tagebuch eines fünfzigjährigen Mannes zu betrachten, der eine halb so alte Frau getroffen und ein heiliges Mahl und pornografisches Martyrium aus ihr gemacht hat.

 

In der Halle befindet sich eine Art Hahn unter Glas. Die Wärter sind entgegenkommend und erklären mir, wie ich mich in diesem Palast bewegen kann, wen ich rufen soll und zu welcher Zeit die Runden des »arabischen« Ästheten stattfinden können. Neben der zentralen Treppe steht ein Feldbett, ein Korb mit Essen, und ich habe die ganze Nacht, um zu beten oder zuzuhören. Man lässt mich zuerst die Räumlichkeiten besichtigen, die erotische Ausstellung. Der Titel ist verführerisch: Picasso 1932, année érotique. Die Nacht wird lang sein, sie wird tausend Stunden in der Zeit meines Heimatlandes entsprechen. Es ist kalt in der Galerie, die Wände sind weiß wie die Sackgasse ins Jenseits, und die Gemälde sind gekritzelte, zerkaute Sterne. Ich habe aus einem einzigen Grund zugesagt: Die Erotik ist ein Schlüssel in meiner Sicht auf die Welt und auf meine Kultur. Die Religionen sind Autodafés der Körper, und was ich an dieser dunklen Bewegung des erotischen Verschlingens liebe, ist der absolute Beweis, dass man auf Himmel, Bücher und Tempel verzichten kann. Die Erotik ist die Permanenz des Menschen, der Beweis, dass das Jenseits ein Körper ist, den man in der Hand und im Bauch hat, hier und nicht »danach«, dass der Sinn der Welt im Sinn meiner Begegnungen liegt und dass alle Kunst die Erinnerung an...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2020
Übersetzer Barbara Heber-Schärer
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Arabische Welt • Der Fall Meursault • Frauenbild • Islamismus • Islamkritik • Kunst-Betrachtungen • Kunst des 20. Jahrhunderts • Moderne Kunst • Okzident • Orient • Picasso • Radikalismus • Sexismus
ISBN-10 3-462-32001-7 / 3462320017
ISBN-13 978-3-462-32001-5 / 9783462320015
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