Rosafarbnes Frühlingswetter
Das ist die einzige Kunst, die wir in der heutigen Zeit beherrschen müssen. Furchtlos die Dinge betrachten, furchtlos das Richtige tun.
(Dürrenmatt, Romulus der Große)
(Goethe)
Lisa öffnete mühsam die Augen und versuchte sich zu orientieren. Ohne Zweifel, sie lag in ihrem Bett in ihrem Zimmer, was sie zugleich beruhigte und verwirrte. Kaum hatte sie die Lider geöffnet, so folgten sie dem unwiderstehlichen Drang sich wieder zu schließen. Als sie sie wenige Minuten später wieder öffnete, fühlte sie einen brennenden Schmerz im Kopf, der wahrscheinlich nur eine Ursache haben konnte. Eines der letzten Biere musste nicht mehr gut gewesen sein, obwohl sie diesen Gedanken sogleich wieder verwarf. Sie war am letzten Abend auf dem Maisels Weißbierfest in Bayreuth gewesen und sicherlich war dort ein Bier wie das andere. Die letzten vertrugen sich nur nicht mit all ihren Vorgängern. Das musste es sein. Und außerdem war es den ganzen Tag und auch die ganze Nacht hindurch tropisch warm gewesen, so dass man natürlich sehr viel Durst bekam und diesen schnellstens bekämpfen musste. Ein Teufelskreis, dessen Auswirkungen Lisa nun zu spüren bekam. Unsicher stand sie auf und versuchte sich in dem großen Spiegel an ihrer Tür wiederzuerkennen, was ihr mit einigen Mühen auch gelang. Mit dem Blick auf ihr Gesicht setzte auch zugleich die Erinnerung an den gestrigen Abend ein und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, verbunden mit dem Gefühl einer leichten Verliebtheit. Am Spiegelrand steckte ein Zettel im Spiegelrahmen, der eigentlich an die Hausaufgabe im Fach Deutsch erinnern sollte. Sie ließ ihren Blick auf die Zeilen des Gedichts gleiten und begann es zu überfliegen. Bei den Versen von Goethes ›Willkommen und Abschied‹, das Teil eines Gedichtvergleichs werden sollte, ›Ein rosafarbnes Frühlingswetter lag auf dem lieblichen Gesicht, und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, ich hofft es, ich verdient es nicht‹ stellte sich unweigerlich ein Bild in ihrem Kopf ein. Ein fröhlicher und gut aussehender Junge saß ihr gegenüber und lachte sie verschmitzt aus funkelnden Augenschlitzen an. Seine Zähne waren makellos und die ganze Erscheinung wirkte unwiderstehlich anziehend auf sie. Dass er am ganzen Körper tätowiert war, fand sie zwar zunächst etwas störend, sein Charme wog diesen kleinen Mangel aber tausendfach auf. Noch in Gedanken an ihn versunken, bemerkte sie, dass ihr Handy schon eine ganze Weile neben ihr surrte.
»Hi Lisa, hier ist Lena. Na, wie geht es dir nach gestern Abend? Gut, dass deine Schwester Lotte dich eingefangen und nach Hause gebracht hat, du hattest ja ganz schön geladen. Hast du dir eigentlich die Handynummer von Micha geben lassen. Meine Güte, habt ihr die Welt um euch herum eigentlich noch mitgekriegt? Und wieso war er dann plötzlich weg?«
Lenas Redeschwall ging noch eine ganze Weile so weiter, doch Lisa hörte nur noch mit einem Ohr zu, vergaß aber nicht gelegentlich ein »Ja« oder »ach so« einzuflechten, während sie Lenas Informationen ordnete. Ihre Schwester Lotte hatte sie also heim nach Emtmannsberg gebracht. Gut, dass sie eine so klar strukturierte und zupackende Schwester hatte, die sich gestern mal einen freien Abend von ihrer kleinen Tochter erkämpft hatte. Wobei nicht der Säugling das Problem war, sondern die reiferen Tanten, die sich allesamt gestern ebenfalls auf dem Fest mit ihren Tinderbekanntschaften verabredet hatten. Zum Glück hatte sich die Mutter ihrer Freundin Sarah bereiterklärt, auf die Kleine aufzupassen. Sarahs Mutter war Lotte noch immer zu großem Dank verpflichtet, da Lotte in ihrer Funktion als Kriminalbeamtin vor ihrer Babypause Sarah vor einem großen Unglück bewahrt hatte. Lisa merkte, wie ihre Gedanken abschweiften und bemühte sich, Lenas Worten wieder zu folgen. Ja, Michas Handynummer hatte sie tatsächlich nicht, was ihr gerade schmerzlich auffiel, aber er war ja ein Bekannter von Tanja gewesen, die seit dem Halbjahr in ihrer Jahrgangsstufe war, nachdem sie mit ihren Eltern von der Stadt Arzberg nach Bayreuth gezogen war. Weshalb Micha so plötzlich weg musste? Das hatte sie sich auch schon gefragt, konnte sich aber auch keinen Reim darauf machen. Sobald sie wieder etwas zusammenhängender denken konnte, würde sie Tanja anrufen. Lena erzählte dann noch eine Menge über ihre Freunde aus ihrer Stufe und beendete endlich das Gespräch. Während sich Lisa restaurierte, überlegte sie, wie sie möglichst unauffällig an Michas Telefonnummer über Tanja kommen konnte. Sie sollte ja schließlich nicht sofort merken, dass ihr der Typ so gut gefallen hatte. Auch wollte sie mehr über ihn erfahren. Eigentlich hatten sie sich nur von Beginn ihres Treffens an ein einziges Wortduell geliefert und dabei heftig geflirtet und rumgemacht. Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet ging Lisa in den Garten, »Rosafarbnes Frühlingswetter – ganz schön abgefahren dieser alte Goethe! Aber er hat Recht!«, murmelte Lisa, während sie die frische Luft einzog und auf die noch blühenden Fliederbüsche schaute, die sie in rosa bis zu tiefen lila Nuancen aus dem weitläufigen Garten anschauten. Möglichst unverfänglich wollte sie jetzt mit Tanja plaudern und dann wie zufällig auf Micha zu sprechen kommen. Lisa tippte auf Tanjas Nummer und sie war nach dem ersten Ton dran.
»Hi Tanja, du erzähl mir mal was über Micha, der hat mir nämlich krass gut gefallen«, flötete Lisa in ihr Handy. Nein, weder ihr noch ihrer Schwester oder ihren Brüdern war es gegeben auch nur ansatzweise um den heißen Brei herum zu plaudern. Schon in dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, hätte sie sich für ihre Plumpheit prügeln können. Noch dösiger geht es wohl kaum.
»Na, der hat dir gefallen, wie unschwer zu übersehen war. Was weiß ich über Micha? Er kommt aus irgendeinem Örtchen in der Nähe von Arzberg und ist mit mir in die Grundschule gegangen. Seine Eltern haben sich dann getrennt und seine Mutter ist mit ihm zu ihrem neuen Freund nach Tschechien gezogen. Armer Micha, er wollte nicht in das fremde Land mit der fremden Sprache. Ich hätte ihn auch niemals wiedererkannt, wenn er mich nicht angesprochen hätte. Er hat nur gesagt, dass er jetzt wieder da ist und wohl auch wieder in dem Haus seiner Großeltern in dem Örtchen bei Arzberg wohnt und dass die Großeltern nicht mehr leben. Was er aber beruflich macht, das weiß ich nicht und der Abend war ja auch viel zu witzig, um sich noch über solche ernsten Dinge wie die Arbeit zu unterhalten. Nein, seine Handynummer habe ich auch nicht, aber wenn er will, schafft er es schon Kontakt mit uns aufzunehmen. Dass er plötzlich mit dem komischen Typen, der an den Tisch kam, wegging, habe ich auch nicht verstanden, zumal die beiden eigentlich nicht miteinander gesprochen haben. Gehst du gleich mit zum Maisels Fun Run? Mia läuft doch mit, wir könnten sie anfeuern«, fragte Tanja.
Natürlich wollte Lisa mit zum Fun Run gehen, vielleicht würde sie da Micha zufällig wiedersehen, und so verabredeten sie sich und Lotte war auch schnell überzeugt davon, sie in die Stadt zu fahren. Die Stimmung war ungemein ausgelassen, doch so sehr ihre Augen über das Meer der Menschen, die die Läufer anfeuerten, kreisten, Micha fand sie nicht.
***
Dafür fand Oliver, oder »der Tupfer«, wie seine Freunde ihn nannten, Tanja. Oliver war der Typ gewesen, mit dem Micha so schnell verschwunden war. Wiedergesehen hatten sich Tanja und Oli im Lamperium, einer der Bayreuther In-Kneipen. Tanja hatte den ungemein attraktiven Typen mit den verwegenen grün-grauen Augen sofort wiedererkannt und auch Oliver wusste sofort, wo er sie hinstecken sollte. Lena war in ihrer unbekümmerten Art lange nicht aufgefallen, dass da was zwischen Tanja und Oli zu laufen begann, während Lisa nur Ausschau nach Micha hielt. Doch die Typen, die sich in seinem Dunstkreis befanden, gefielen Lisa überhaupt nicht. Alles an ihnen empfand sie als unangenehm. Die Art, wie sie sich kleideten, diese Mischung aus billig angeberisch, militärisch streng und pseudocool widerstrebte ihr, ebenso wie ihre Sprache und Wortwahl, die man, wie sie im Pädagogik-Unterricht gelernt hatte, nur als restringierten Code bezeichnen konnte, und ihr aggressiv-eintöniger Musikgeschmack. Tanja schien das alles nicht zu stören und Lena befand sich gerade in ihrer Flower-Power-Toleranz-Phase. Sie nahm die Jungs gerne als Beispiele für ihre psychologischen Analyseversuche. Und eine schwere Kindheit konnte man jedem von ihnen auch ohne weitere Kenntnis ihrer Geschichte problemlos bescheinigen. Lisa hätte am liebsten den Kontakt zu Tanja und Lena reduziert, aber das konnte und wollte sie nicht. Sie drei waren in fast allen Kursen zusammen und spielten gemeinsam Theater im Profilfach. Außerdem fühlte sich Lisa ohne ihre Freundin Anna ziemlich allein. Nicht, dass sie in ihrer großen Familie mit ihrer Schwester, den drei Brüdern, den Eltern, Großeltern und den gefühlt Dutzenden von Tanten und auch Onkeln irgendwie einsam zu nennen war, nein was ihr fehlte, waren richtig gute gleichaltrige Freunde. Anna war ihre engste Vertraute gewesen und sie war mit ihren Eltern nach dem Mord an ihrer Schwester Tina, den Lisas Kripo-Schwester Lotte mit ihrer Chefin, Frau Doris Lech, schnell...
| Erscheint lt. Verlag | 10.3.2020 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2020 • Bayern • Bayern Krimi • Bayreuth • Ermittlerin • Frankenkrimi • Krimi • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimis • Landhauskrimi • Lokalkrimi • Neuerscheinungen • Neuheiten • Provinzkrimi • regional • Regionale Krimis • Regionalkrimi • Thriller • Zeitreise |
| ISBN-13 | 9783748731559 / 9783748731559 |
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