DAS ZIMMER DER ROTEN WITWE (eBook)
CCXXI Seiten
BookRix (Verlag)
9783748731047 (ISBN)
Erstes Kapitel
Als Dr. Michael Tairlaine an jenem Abend im März den Autobus bestieg, schlug sein nicht mehr ganz junges Herz weniger ruhig als gewöhnlich. Der würdige Inhaber des Lehrstuhls für Englisch war, um genau zu sein, so gespannt wie ein Knabe beim Räuberspiel.
Diesen angenehmen Gemütszustand verdankte er seinem Freund Sir George Anstruther, dem Direktor des Britischen Museums, der ihn am Nachmittag aufgesucht hatte und der schuld daran war, dass Tairlaine seine warme Wohnung in Kensington verlassen und sich in den Nebel hinausbegeben hatte, einem unbekannten Abenteuer entgegen.
Tairlaine sah George deutlich vor sich, wie er die kalten Hände dem Feuer entgegenstreckte und, wie es seine Art war, ganz unvermittelt seine Gedanken in Worte fasste.
»Glaubst du«, fragte er ohne alle Umschweife, »dass ein Zimmer töten kann?«
Tairlaine gab ihm einen Whisky-Soda. Er hielt Georges Frage lediglich für den Anfang einer philosophischen Erörterung, die dem Freunde am Herzen lag.
Doch bevor er etwas äußern konnte, fügte George beinahe brüsk hinzu: »Warte, ich weiß, was du sagen willst. Du willst erst einmal die Begriffe festlegen; aber es handelt sich nicht um tiefsinnige Dinge. Ich meine buchstäblich, was ich sage. Glaubst du, dass ein Zimmer töten kann?«
»Ein Zimmer oder eine wirkende Kraft in dem Zimmer?«, fragte Michael Tairlaine zurück.
»Du denkst natürlich sofort an Gespenstergeschichten«, knurrte George. »Davon ist keine Rede. Es handelt sich weder um irgendwelche Geister noch um ein menschliches Agens wie zum Beispiel einen Mörder. Ich will mich deutlicher ausdrücken: Kann deiner Meinung nach ein Zimmer so tödliche Eigenschaften haben, dass eine Person, die sich darin zwei Stunden aufhält, stirbt?«
In Michaels neugierigem, unersättlichem Hirn regte sich etwas. Er paffte seine Pfeife und betrachtete seinen Freund, der mit dem Glas in beiden Händen und tief gefurchter Stirn am Kamin saß. Gemessen antwortete er: »Vor einem Jahr hätte ich diese Frage verneint. Heute neige ich mehr zum Agnostizismus. Sprich weiter. Woran würde diese Person sterben?«
»Vermutlich an Gift.«
»Vermutlich?«
»Das sage ich, weil niemand etwas Bestimmtes weiß, und weil es die einleuchtendste Erklärung zu sein scheint. Der letzte Mensch, den dieses Zimmer tötete, starb vor ungefähr achtzig Jahren, und damals steckte die Obduktion noch in den Kinderschuhen, und die Medizin kannte die Gifte viel weniger als heute. Plötzlicher Tod, schwärzlich verfärbtes Gesicht - das kann alles Mögliche bedeuten. Der springende Punkt ist, dass in dem Zimmer überhaupt kein Gift war.«
»Hüll’ dich doch nicht fortwährend in Geheimnisse!« Leicht gereizt klopfte Michael seine Pfeife aus. »Wenn du eine Geschichte zu erzählen hast, dann erzähle sie gefälligst.«
George sah ihn nachdenklich an. Dann grinste er auf einmal. »Ich habe einen besseren Einfall. Du sollst es selbst erleben. Pass auf, alter Junge. Erinnerst du dich noch an unser Gespräch in der Eisenbahn, als du vor einem halben Jahr nach England kamst? Da beklagtest du dich über den Mangel an Spannung und Abenteuern in deinem braven Gelehrtenleben. Was verstehst du unter Abenteuern?, fragte ich. Meinst du richtige gruselige Abenteuer mit Säbeln, die plötzlich auf blitzen, und mit Geflüster: Karo-Sechs, um Mitternacht am Nordturm, und ähnlichem Unsinn? Und du antwortest allen Ernstes...«
»Dass ich genau das meinte. Nun, und?«
George stand auf. »Dann will ich dir sagen, was du tun musst«, erklärte er mit der Miene eines Menschen, der einen Entschluss gefasst hat. »Folge mir, oder lass es bleiben, wie es dir beliebt. Ich stelle nur die übliche Bedingung: Du darfst nichts fragen. Verstanden?«
Michael nickte.
»Also. Heute Abend fährst du mit dem Autobus zur Clarges Street, wo du kurz vor acht aussteigst. Du musst deinen Smoking anziehen, vergiss das nicht. Du gehst dann von dort zur Curzon Street. Punkt acht gehst du auf der Nordseite der Curzon Street an dem kurzen Stück zwischen der Clarges und der Bolton Street vorbei...«
Michael nahm die Pfeife aus dem Mund. Er kam jedoch nicht zu Wort, denn George war schneller. Sehr ruhig fuhr er fort: »Ich meine es ernst. Vielleicht klappt es nicht. Aber ich rechne damit, dass zu dieser Stunde nicht viele Leute auf der Straße sein werden, und ich rechne mit deinem würdevollen Aussehen...«
»Hört, hört!«
»Wenn es aber klappt und wenn du mich dann später zu sehen bekommst, darfst du mit keiner Andeutung verraten, dass ich dich angestiftet habe. Du bist ganz zufällig hineingeraten, verstanden? Also, du gehst dort bis zehn Minuten nach acht hin und her. Wenn sich bis dahin nichts ereignet hat, wird auch nichts mehr geschehen. Mach dich aber auf etwas Sonderbares gefasst, und wenn sich dir jemand mit einem seltsamen Vorschlag nähert, so geh darauf ein. Iss übrigens vorher nicht zu Nacht. Ist das klar?«
»Vollkommen. Auf was für eine Sonderbarkeit soll ich mich denn gefasst machen?«
»Auf irgendetwas Sonderbares«, versetzte George und blickte ausdruckslos in sein Glas.
Mehr hatte Michael Tairlaine nicht erfahren; aber es hatte genügt, dass er außerordentlich gespannt war, als er um zwanzig Minuten vor acht in den Autobus stieg.
London sah unwirklich aus in dem rauchigen weißen Nebel, der alle Lichter verzerrte und die Wagen zu langsamer Fahrt zwang. Er hatte gut daran getan, früh genug aufzubrechen. Es war schon drei Minuten vor acht, als Michael in die Curzon Street einbog. Er hatte Hunger und verwünschte Sir George Anstruther. Trotzdem erinnerte er sich an die erhaltenen Anweisungen, mäßigte seinen Schritt, überzeugte sich, dass Mantel und Zylinder tadellos saßen, und gab sich alle Mühe, kein Gesicht zu machen, als ob er auf ein spannendes Abenteuer aus wäre, sondern würdig und achtbar auszusehen.
Er ging auf die Nordseite hinüber und betrachtete die Häuser, an denen er gemächlich vorbeischlenderte. Sie waren alle gleich groß und ziemlich dunkel bis auf eines, das die andern überragte und dessen Eingang erleuchtet war. Beim Näherkommen sah er, dass dort jemand stand, regungslos, aber in einer Haltung, als ob der Betreffende ihn belauerte.
Michael schlug einen noch langsameren, noch harmloseren Schritt an; doch fühlte er sein Herz gegen die Rippen klopfen. Als er in den Lichtschein trat, kam die Gestalt die Treppe hinunter. Obwohl Michael Tairlaine den ganzen Abend darauf gewartet hatte, durchzuckte ihn jäher Schrecken, als der Mann ihn ansprach.
»Entschuldigen Sie«, erklang es zögernd.
Michael blieb stehen und wandte den Kopf. Er erkannte einen Diener, dessen Gesicht er allerdings nicht zu sehen vermochte.
Der machte eine leichte Gebärde. »Seine Lordschaft lässt sich wegen der Störung entschuldigen«, fuhr der Mann fort; »aber würden Sie wohl einen Augenblick hereinkommen? Seine Lordschaft möchte gern mit Ihnen sprechen.«
Michael spielte den Erstaunten und äußerte etwas Passendes.
»Nein, es ist kein Irrtum«, versicherte ihm der Diener. »Es ist seltsam, ich weiß; aber ein Irrtum liegt nicht vor. Wenn Sie wollen...«
»Sie sind sicher dreizehn bei Tisch«, sagte Michael, der plötzlich die Gereiztheit des Enttäuschten aufsteigen fühlte, »und deshalb sollen Sie den erstbesten Vorübergehenden hereinbitten. Nicht sehr originell. Ich lasse Harun al Raschid grüßen, aber...«
»Nein, Sie täuschen sich, glauben Sie mir«, unterbrach ihn der Mann mit merkwürdigem Ton. »Seine Lordschaft wird sich natürlich freuen, Sie heute Abend zum Essen bei sich zu sehen. Aber ich nehme an, er wünscht Ihre Anwesenheit bei... bei einem Experiment.« Er zögerte und fügte dann sehr ernst hinzu: »Sie brauchen keine Angst zu haben. Dies ist Haus Mantling. Lord Mantling...«
»Ich habe keine Angst«, sagte Michael kurz. »Also gut.«
Er folgte seinem Führer über die Treppen in eine große weißgetäfelte Halle, wo sich die Kälte des achtzehnten Jahrhunderts in allzu viel Vergoldung und Spiegelglas kundtat. Als Michael den Kristalllüster erblickte, fiel ihm das Schlagwort des verstorbenen Lord Mantling ein: »Kauf das Beste.« Der Diener hatte offenbar angenommen, dass ihm der Name Mantling geläufig sei. Jeder kannte diesen Namen. Die Hälfte aller Wollprodukte aus Manchester gehörte ihm. Erst vor drei oder vier Monaten waren alle Zeitungen voll gewesen mit Nachrufen auf den verstorbenen alten Lord. Und sein Nachfolger?
Doch da wurde Michael abgelenkt. Als der Diener ihm Hut und Mantel abnahm, gewahrte er im Hintergrund der Halle die erste Seltsamkeit.
Er gewahrte einen Regen von Spielkarten.
In dem Kronleuchter brannten nur wenige Birnen, und die vollgestopfte Halle lag im Halbdunkel. Gleichwohl sah er neben einer der Türen im Hintergrund rechts ein Lacktischchen, und er erhaschte einen Blick auf eine Gestalt, deren Hand auf dem Tischdien ruhte und die zu der Tür zurückwich. Ob es Zufall oder Absicht war, jedenfalls flogen Karten durch die Luft und fielen verstreut zu Boden. Die Tür öffnete und schloss sich.
Er schaute den Diener an. Der Mann, der ein rundes, ehrlich wirkendes Gesicht hatte, schien nichts bemerkt zu haben. Aber er sah verlegen aus. Er ließ sich Michaels Namen nennen und führte ihn zu einer Tür auf der linken Seite. Er traf keinerlei Anstalten, die Karten aufzuheben, ja, er beachtete sie gar nicht.
»Doktor Michael Tairlaine, Eure Lordschaft.«
Das kleine Zimmer war teils mit Büchern, teils mit Dingen angefüllt, die Michael für Indianerdecken, Trommeln und Kriegstrophäen hielt. Die rotgelben Decken...
| Erscheint lt. Verlag | 6.3.2020 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Apex-Verlag • Bestseller • düster • eBook • E-Book • Geheimnis • geheimnisvoll • Gewalt • Klassiker • klassisch • Krimi • Mord • Morde • Neuausgabe 2020 • neuerscheinung 2020 • Roman • Romane • Spannung • Suspense • Thriller • USA • Verbrechen |
| ISBN-13 | 9783748731047 / 9783748731047 |
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