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Milchmann (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1., Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
464 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-11574-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Milchmann - Anna Burns
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»'Milchmann' ist stilistisch vollkommen unverwechselbar. In einem Moment beängstigend, dann wieder inspirierend. Überwältigend.« Jury des Man Booker Prize - SPIEGEL BESTSELLER - Man Booker Prize 2018 (Fiction) - National Book Critics Circle Award 2018 (Fiction) - Orwell Prize 2019 »Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.« Mit Milchmann legte Anna Burns das literarische Großereignis des vergangenen Jahres vor. Ein Roman über den unerschrockenen Kampf einer jungen Frau um ein selbstbestimmtes Leben - weltweit gefeiert und ausgezeichnet mit dem Man Booker Prize. Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt man besser niemandes Interesse. Und so versucht sie, alle in ihrem Umfeld über ihre Begegnungen mit dem Mann im Unklaren zu lassen. Doch Milchmann ist hartnäckig. Und als der Mann ihrer älteren Schwester herausfindet, in welcher Klemme sie steckt, fangen die Leute an zu reden. Plötzlich gilt sie als »interessant« - etwas, das sie immer vermeiden wollte. Hier ist es gefährlich, interessant zu sein. Doch was kann sie noch tun, nun, da das Gerücht einmal in der Welt ist? Milchmann ist die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem Weg für sich sucht - in einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen dunklen Wahrheiten erfindet und in der jeglicher Fehltritt enorme Konsequenzen nach sich zieht. Stimmen zur englischen Ausgabe »Ein einzigartiger Blick auf Irland in Zeiten des Aufruhrs.« Jury des Man Booker Prize »Brillant. Die beste Booker-Preisträgerin seit Jahren.« Metro »Tiefgründige, ausdrucksstarke, eindringliche Prosa.« Sunday Telegraph »Auf ein solches Buch haben wir dreißig Jahre lang gewartet.« Vogue »Originell, witzig, entwaffnend schräg. Einzigartig.« The Guardian »Beeindruckend, wortstark, lustig.« Irish Times »Milkman blickt mit schwarzem Humor und jugendlicher Wut auf die Erwachsenenwelt und deren brutale Absurditäten.« The New Yorker »Dieser Roman knistert vor intellektueller Kraft.« New Statesman

Anna Burns, geboren in Belfast, Nordirland, ist Autorin mehrerer Romane. 2018 erhielt sie für Milchmann den Man Booker Prize. Das Buch wurde zu einer internationalen Sensation und mit zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Orwell Prize und dem National Book Critics Circle Award. Milchmann erschien bisher in 30 Ländern. Anna Burns lebt in East Sussex, England.

Anna Burns, geboren in Belfast, Nordirland, ist Autorin mehrerer Romane. 2018 erhielt sie für Milchmann den Man Booker Prize. Das Buch wurde zu einer internationalen Sensation und mit zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Orwell Prize und dem National Book Critics Circle Award. Milchmann erschien bisher in 30 Ländern. Anna Burns lebt in East Sussex, England. Anna-Nina Kroll, geboren 1988, überträgt u. a. die Werke von Donal Ryan, John Irving und Carmen Maria Machado ins Deutsche. Für ihre Übersetzung von Milchmann erhielt sie 2021 den Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW.

»Der Stil von Anna Burns ist unverwechselbar. Immer wieder schafft es die Autorin, eine perfekte Mischung zwischen Sachlichkeit und einem sich leise einschleichenden unguten Gefühl zu erzeugen.«
Josephin Hartwig, t-online.de, 08.03.2020

»Diese Erzählung ist so dicht, dass keine Zeit für Atempausen bleibt.[...] Ein stilistisch beeindruckender, peinigend intensiv zu lesender Fluss aus Gedanken, Beobachtungen, Erinnerungen ergießt sich über das Papier.«
Gunda Bartels, Tagesspiegel, 24.05.2020

»Tatsächlich hat bisher wohl niemand so originell, so genau und zugleich entwaffnend komisch über die Troubles geschrieben.«
Tilman Rather, Buchjournal, 28.02.2020

»Warum die Opfer sexualisierter Gewalt manchmal darüber schweigen, weshalb Erzählen unendliche Kraft kostet und wie sich Angst und Verzweiflung in Herz und Hirn fressen wie Batteriesäure, beschreibt Burns in diesem Werk ohne Pathos und mit so einfacher Sprache, dass das Lesen schmerzt. Auszuhalten ist das bloß, weil man der Protagonistin etwas voraushat: Der Milchmann wird sterben, man erfährt es gleich auf der ersten Seite. Und die Erzählerin? Findet ihre Stimme wieder. Sie erzählt uns ja davon.«
Elisa von Hof, Spiegel.de, 25.03.2020

»Anna Burns macht aus dem Bürgerkrieg ein aberwitziges Sprachspiel auf Leben und Tod, das bei aller Tragik einer absurden Komik nicht entbehrt. Dieser virtuose Roman hätte die Aktualität gar nicht nötig, die ihm durch den Brexit zugefallen ist.«
Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 23.03.2020

»Dunkel, packend, aufwühlend – ein spätwinterlicher Lektüretipp!.«
Matthias Eichardt, Stadtmagazin 07. Februar 2020

»Mit sezierendem Blick und literarisch sehr eigenwillig zeigt Anna Burns eine soziale Gemeinschaft und eine Gesellschaft, die sich selbst zersetzen. Es ist ein außergewöhnlicher Roman.«
Karsten Herrmann, Literaturkritik.de, 05.2020

»Der Roman erzählt den Kampf einer Frau um ein selbstbestimmtes Leben in Zeiten der Krise. Eine intelligente und herausragend geschriebene Geschichte mit Nachhall.«
Mario Mirschberger, Esquire, 23.04.2020

»Milchmann ist kein Roman über Nordirland. Milchmann ist ein großartiger Roman über den Krieg und über das, was Krieg mit und aus den Menschen macht.«
Tiroler Tageszeitung, 17.04.2020

»Burns […] klarer Ton seziert diese Welt, in der man die sich formierenden Feministinnen spitz für gefährliche "Aufrührerinnen" hält, analytisch scharf. Zugleich ist er emotional, warm. […] Milchmann ist als Emanzipationsstory und politisches Mahnmal gleichermaßen gelungen.«
Michael Wurmitzer, Der Standard, 25.02.2020

»Dieses ungewöhnliche, eindringliche und großartig übersetzte Buch mit all den ausufernden, dramatischen, aber auch komischen Exkursen, ähnlich einem großen inneren Monolog, überzeugt mit kraftvoller Sprache und ist keine ganz leichte, aber eine überaus lohnende und über weite Strecken sehr unterhaltsame Lektüre.«
Christine Schwalbe, Neue-Buchtipps.de, 13.07.2020

»Die Lage ist rabenschwarz, aber komisch ist sie eben auch, dank der Überdeutlichkeit, zu der das Absurde seine Gestalten ausbildet. Für den Leser heißt es, dass er diese Spannung zwischen Witz und Qual aushalten muss. Es ist ein Erlebnis von verblüffender Intensität.«
Burkhard Müller, Die Zeit, 13.03.2020

»Die politisch-religiösen Konflikte, die Burns beschreibt, meinen immer auch allgemeinere, universale Erfahrungen: prädigitale Überwachung und soziale Kontrolle durch Klatsch, Gerüchte und Gerede, sexuelle Übergriffe im Namen der guten Sache, patriarchalische Verhaltensweisen, die sich unter hohem Außen- und Konformitätsdruck zu fast totalitären Strukturen verfestigen.«
Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.2020

»Aber dann, wie die schreibt: Ein Lesefest, unerhört! [...] Dass es gelingen kann, eine so ja tatsächlich todernste Angelegenheit in spielerischem Ton zu schildern und dabei den Konflikt nicht zu verharmlosen, sondern viel mehr in seinem absurden Kern zu entblößen.«
Wolfgang Schütz, Augsburger Allgemeine, 07.03.2020

»Burns' Kunstgriff lässt die historisch grundierte Geschichte klingen wie eine surreale Parabel, die einen unruhig gestimmt zurücklässt. […] Milchmann ist nicht nur Zeitgemälde, sondern auch Bildungsroman über das Frauwerden in Krisenzeiten.«
Julia Lorenz, taz, 12.03.2020

»Es ist eine Stärke des Buches, die Fassetten der Brutalität in Bilder zu verpacken, die vor allem auf der suggestiven Ebene nicht mehr loslassen.«
Jens Roger, Lesering, 15.03.2020

»Es ist atemberaubend, wie sie über die Ausgesetztheit eines jungen Mädchens eine psychisch zutiefst vergiftete politisch-gesellschaftliche Realität zu porträtieren versteht.«
Bernadette Conrad, St. Galler Tagblatt, 25.04.2020

»Großartig!«
Womat.at, 12.03.2020

»Obwohl der reale Hintergrund des Geschehens sich bald abzeichnet, gelingt es Burns, ihre Romanwelt über dem rein Faktischen in der Schwebe zu halten und grundsätzlich das Wahnhafte, Groteske, die Seelen durch und durch Vergiftende eines solchen Kriegszustands fassbar zu machen. [...] Schwere Kost, möchte man denken; aber die Schriftstellerin legt ihre Geschichte einer hinreissenden Erzählerin in den Mund. [...] Die so geschaffene Möglichkeit, eine jugendliche Stimme mit vertiefter Reflexion zu unterlegen, setzt Burns in einen zugleich lässigen und präzisen, mit schwarzem Humor gesäumten Sprachduktus um, den Anna-Nina Kroll gewandt ins Deutsche gebracht hat.«
Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 07.03.2020

»Lesens- und liebenswert«
Marion Hinz, kultur-port.de, 28.04.2020

»[Burns] tut dies mit heilsamen Humor und einer wunderbar eigenwilligen Sprache«
Simone von Büren, NZZ am Sonntag, 23.02.2020

»Milchmann ist ein besonderer Roman, sowohl stilistisch als auch in seiner Verbindung von absurdem Humor, tragischer Groteske, surrealer Grundzeichnung und doch eben auch eines Hyperrealismus, der in jeder Zeile mitschwingt.«
Guy Helminger, Luxemburger Tagblatt, 08.05.2020

»Es ist atemberaubend, wie [Anna Burns] über die Ausgesetztheit eines jungen Mädchens eine psychisch zutiefst vergiftete politisch-gesellschaftliche Realität zu porträtieren versteht.«
Bernadette Conrad, Berliner Zeitung, 29.03.2020

»Der Roman ist groß. (…)Möglicherweise hat Anna Burns sogar die einzig angemessene Art gefunden, sich einem Konflikt dieses Ausmaßes schreibend zu nähern. Es lohnt, sich darauf einzulassen.«
Elisabeth Mayer, Bücher-Magazin, Juli/Juli 2020

»Anna Burns Stil ist wie eine Rose wunderschön, literarisch duftend, aber auch kratzbürstig und stachelig! Die Schönheit von Anna Burns Sprache ist ein literarischer Hingucker, man riecht und schmeckt was sie schreibt, man sieht es groß vor sich, man fühlt es, ist gefesselt von so viel Klarheit, Witz und kreativer Sprachgewandtheit.«
Alex Dengler, Denglers Buchkritik, 09.03.2020

»[…] Anna Burns ist […] ein Roman mit universeller Aussagekraft gelungen. Die Nordirin prangert einengende Geschlechternormen an und verurteilt die Gemeinschaft, die übergriffiges Verhalten deckt oder verharmlost. Das einen der Roman in seiner Schwere nicht erschlägt, liegt vor allem am auflockernden Humor, mit dem Moralapostel, unfähige Soldaten und inkonsequente Rebellen demontiert werden.«
Simon Knopf, Kulturtipp, März 2020

»Wer nun einen Problemroman erwartet, in dem die Übel der Welt aufgezählt und abgearbeitet werden, irrt. Denn Milchmann ist auch sehr unterhaltsam. Wegen seiner Erzählstimme, deren Sätze so ungewöhnlich und rhythmisch sind, dass man sie gerne laut lesen möchte.«
Anna Vollner, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.03.2020

»Diese Stimme bestrickt den Leser vom ersten Satz weg.«
Sigrid Löffler, FALTER, März 2020

Eins


Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal. Anderen hingegen war er nicht egal, und manche von denen kannten mich »vom Sehen«, wie man so sagt, und es gab Gerede über mich, weil jemand, höchstwahrscheinlich Schwager Eins, das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, ich hätte eine Affäre mit diesem Milchmann, und dabei sei ich erst achtzehn und er einundvierzig. Wie alt er war, wusste ich nicht nur, weil über seinen Tod in der Presse berichtet worden war, sondern weil es schon Monate zuvor Gerede von diesen Leuten gegeben hatte, einundvierzig und achtzehn sei doch widerlich, dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied seien widerlich, er sei verheiratet, und er solle sich bloß nicht von mir um den Finger wickeln lassen, denn es gebe jede Menge stiller, unauffälliger Leute, die Augen und Ohren offen hielten. Und anscheinend war sie auch noch meine Schuld gewesen, diese Affäre mit dem Milchmann. Dabei hatte ich gar keine Affäre mit dem Milchmann. Ich mochte ihn nicht mal, seine Annäherungsversuche machten mir Angst und verwirrten mich. Schwager Eins mochte ich genauso wenig. Der dachte sich zwanghaft Lügen über das Liebesleben anderer Leute aus. Über mein Liebesleben. Als ich noch jünger war, nämlich zwölf, als meine älteste Schwester ihren langjährigen Freund verließ, weil der sie betrogen hatte, da stand plötzlich dieser Mann als ihr Trostpflaster auf der Matte, schwängerte sie, und die beiden heirateten auf der Stelle. Vom ersten Moment an machte er in meiner Gegenwart anzügliche Bemerkungen – über mein Schmuckkästchen, mein Kätzchen, meine Schatulle, meinen Honigtopf, meine Brosche, meinen Blütenkelch, meine Blöße –, er benutzte Wörter, sexuelle Wörter, die ich nicht verstand. Und er wusste genau, dass ich sie nicht verstand, aber schon irgendwie ahnte, dass es um Sex ging. Das kostete er voll aus. Er war fünfunddreißig. Zwölf und fünfunddreißig. Das waren auch dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied.

Schwager machte also seine Bemerkungen und empfand das als sein gutes Recht, und ich schwieg, weil ich nicht wusste, wie ich mit diesem Menschen umgehen sollte. Er machte solche Bemerkungen nie, wenn meine Schwester dabei war. Aber sobald sie den Raum verließ, legte er los. Das Gute war: Ich fühlte mich nicht körperlich bedroht. Damals, dort, an diesem Ort, maß jeder alle anderen vor allem an der Gewaltbereitschaft, und ich erkannte sofort, dass er keine hatte, dass er so nicht tickte. Trotzdem ließ mich seine raubtierhafte Art jedes Mal vor Angst erstarren. Schwager Eins war also ein Stück Dreck und meine Schwester übel dran, weil sie schwanger von ihm war, weil sie ihren früheren Mann noch immer liebte und nicht fassen konnte, was er ihr angetan hatte, nicht glauben konnte, dass er sie nicht vermisste, denn das tat er nicht. Er vergnügte sich mit einer anderen. Diesen Mann hier sah sie gar nicht richtig, diesen älteren Mann, den sie geheiratet hatte, als sie viel zu jung und zu unglücklich und zu verliebt gewesen war – nur eben nicht in ihn –, als dass sie sich wirklich auf ihn hätte einlassen können. Ich hörte auf, sie zu besuchen, obwohl sie so traurig war, weil ich seine Anzüglichkeiten und Grimassen nicht mehr ertrug. Sechs Jahre später, als er versuchte, sich an mich und meine übrigen älteren Schwestern ranzumachen, und wir drei ihn – auf direkte, indirekte, höfliche, Jetzt-verpiss-dich-Art – abwiesen, trat aus dem Nichts genauso unerwünscht, allerdings viel bedrohlicher, viel gefährlicher, der Milchmann auf den Plan.

Ich wusste nicht, wessen Milchmann er war. Unserer jedenfalls nicht. Ich glaube, er war niemandes Milchmann. Er nahm keine Bestellungen auf. Hatte nie Milch dabei, lieferte keine Milch aus. Er fuhr nicht mal einen Milchwagen. Stattdessen fuhr er Autos, verschiedene Autos, oft rasante Autos, obwohl er selbst gar kein rasanter Typ war. Und trotzdem bemerkte ich ihn und seine Autos erst, als er auf einmal vor meiner Nase darin herumsaß. Dann gab es noch den Lieferwagen – klein, weiß, unscheinbar, nicht zu greifen. Auch am Steuer dieses Lieferwagens wurde er hin und wieder gesehen.

Eines Tages war er da, kam plötzlich mit einem seiner Autos angefahren, als ich im Gehen Ivanhoe las. Ich las oft im Gehen. Das war für mich nichts Ungewöhnliches, und doch sollte es ein weiteres Indiz zu meinen Lasten werden. Lesen im Gehen war eindeutig verdächtig.

»Du bist doch eine von den Dingsda-Schwestern, oder? Der-und-der war dein Vater. Deine Brüder Dings, Dings, Dings und Dings waren doch im Hurling-Team. Spring rein. Ich nehm dich mit.«

Das sagte er ganz beiläufig und öffnete schon die Beifahrertür. Ich schreckte von meinem Buch hoch. Ich hatte das Auto gar nicht kommen hören. Hatte auch den Mann am Steuer vorher noch nie gesehen. Er beugte sich vor, schaute zu mir heraus, lächelte und gab sich ganz freundlich und zuvorkommend. Aber mittlerweile, im Alter von achtzehn Jahren, war ich bei lächelnd, freundlich und zuvorkommend schon halb auf den Bäumen. Nicht wegen der Mitfahrgelegenheit. Die Leute hier, die ein Auto hatten, hielten oft und boten an, einen mitzunehmen. Damals gab es noch keinen solchen Überfluss an Autos, und der öffentliche Verkehr war wegen Bombendrohungen und Fahrzeugentführungen häufig vorübergehend ausgesetzt. Und den Begriff »Autostrich« hatten vielleicht manche schon mal gehört, aber so was gab es hier nicht. Ich zumindest hatte ganz sicher noch nie davon gehört. So oder so wollte ich nicht mitgenommen werden. Ganz grundsätzlich. Ich ging gern spazieren – ich spazierte und las, spazierte und dachte nach. Und auch im konkreten Fall wollte ich nicht zu diesem Mann ins Auto steigen. Ich wusste nur nicht, wie ich ihm das klarmachen sollte, denn er war ja nicht unhöflich, und er kannte meine Familie, er hatte schließlich die wichtigsten Daten genannt: die Namen der männlichen Familienmitglieder, und ich konnte schlecht unhöflich sein, wenn er nicht unhöflich war. Deshalb geriet ich ins Stocken, erstarrte förmlich, was ziemlich unhöflich war. »Ich gehe zu Fuß«, sagte ich, »ich lese«, und dabei hielt ich das Buch hoch, als könnte Ivanhoe das Gehen erklären, die Notwendigkeit des Gehens. »Du kannst doch auch im Auto lesen«, sagte er, und was ich darauf entgegnete, weiß ich nicht mehr. Schließlich lachte er und sagte: »Dann eben nicht. Macht nichts. Viel Spaß noch mit deinem Buch da«, und damit zog er die Tür zu und fuhr weiter.

Beim ersten Mal passierte nichts weiter – und trotzdem machte schon da ein Gerücht die Runde. Älteste Schwester kam zu uns, weil ihr Mann, mein einundvierzigjähriger Schwager, sie geschickt hatte. Sie sollte mich in Kenntnis setzen und ermahnen. Ich sei gesehen worden, wie ich mit dem Mann sprach.

»Ach, halt’s Maul!«, rief ich. »Was soll das denn heißen: gesehen worden? Wer will mich denn bitte gesehen haben? Dein Mann?«

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte sie. Aber ich hörte nicht zu, wegen ihm und seiner Doppelmoral, und weil sie die einfach so hinnahm. Mir war vorher nicht klar gewesen, dass ich ihr die Schuld gab, ihr schon lange die Schuld gab für seine ständigen Anzüglichkeiten mir gegenüber. Dass ich ihr die Schuld dafür gab, ihn geheiratet zu haben, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn nicht liebte und auch nicht achten konnte, denn sie musste doch gewusst haben, anders konnte es gar nicht sein, was für Spielchen er spielte.

Sie versuchte weiterhin hartnäckig, mich zur Vernunft zu bringen. Ich täte mir selbst keinen Gefallen; von allen Männern, mit denen ich mich hätte einlassen können … Aber mir reichte es. Ich war sauer und fluchte noch ein bisschen mehr, weil sie das nicht ausstehen und man sie nur so vertreiben konnte. Aus dem Fenster schrie ich ihr hinterher, der miese Feigling solle selbst vorbeikommen, wenn er mir was zu sagen habe. Das war ein Fehler: Gefühlsregungen gezeigt zu haben, dabei gesehen und gehört worden zu sein, wie ich aus dem Fenster schrie, über die Straße, wie ich mich gehen ließ. Normalerweise konnte ich mich zusammenreißen. Aber ich war wütend. Ich hatte so viel Wut in mir – auf sie, weil sie die brave Hausfrau gab, weil sie seinen Anweisungen immer wieder aufs Wort folgte, und auf ihn, weil er mir seine eigene Verachtungswürdigkeit andichten wollte. Mein Trotz war geweckt, mein »Geht dich einen Dreck an«. Dummerweise bedeuteten diese Gefühle jedes Mal, dass ich total durchdrehte, nicht aus Erfahrung lernte und mir ins eigene Fleisch schnitt. Die Gerüchte über den Milchmann und mich tat ich...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2020
Übersetzer Anna-Nina Kroll
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Befreiung • Belfast • Bestseller • Booker Prize • Bücher • Diskurs • Emanzipation • Englisch • Familie • Feminismus • Frau • Freiheit • Gewalt • Irland • Joggen • Junge Frau • Konflikt • Krieg • Lesen • Man Booker Prize • Margaret Atwood • #metoo • metoo • Nordirland • Nordirland-Konfikt • Politik • Preisgekrönt • Roman • Schwestern • Selbstfindung • Sexismus • stark • Welterfolg • Weltliteratur
ISBN-10 3-608-11574-9 / 3608115749
ISBN-13 978-3-608-11574-1 / 9783608115741
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