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Drei Leben lang -  Felicitas Korn

Drei Leben lang (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
304 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70120-0 (ISBN)
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Sie wollen nach Spanien fahren. Wie jedes Jahr. Die langersehnten Sommerferien. Doch dann kommt alles anders. Ein entgegenkommendes Auto. Eine Tunnelwand. Der Unfall macht Michi und Xandra zu Vollwaisen. Sie haben keine Verwandten, die Jugendfürsorge ist überfordert, den Geschwistern droht die Unterbringung in verschiedenen Heimen. Michi ist zwar erst vierzehn, will die Sache aber selbst in die Hand nehmen, sich um seine kleine Schwester kümmern, ein gemeinsames Zuhause für sie beide finden. Seine größte Hoffnung: Aziz, Automechaniker und langjähriger Freund ihres Vaters. Und nicht nur Michi sucht Hilfe bei Aziz. Auch der King, in illegale Geschäfte verstrickt, und Loosi, der gegen den Alkohol kämpft und die Liebe sucht, hoffen auf seine Unterstützung. Und ein paar falsche Entscheidungen später zeigt sich: Ihre Schicksale sind unauflösbar miteinander verbunden.Virtuos verknüpft Felicitas Korn die Geschichten dreier Leben, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Felicitas Korn, geboren 1974 in Offenbach am Main, ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Werke sind u.a. der Musikclip zum gleichnamigen Hit »Supergirl« der Band Reamonn, der Kurzfilm nass mit Bela B. von der Band Die Ärzte und der Spielfilm Auftauchen, der nicht zuletzt aufgrund seiner »Radikalität und Konsequenz« (FBW) internationales Aufsehen erregte. In den letzten Jahren schrieb sie auch immer wieder für verschiedene Fernsehformate. Drei Leben lang ist Felicitas Korns erster Roman, dessen Verfilmung sie gerade vorbereitet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Felicitas Korn, geboren 1974 in Offenbach am Main, ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Werke sind u.a. der Musikclip zum gleichnamigen Hit »Supergirl« der Band Reamonn, der Kurzfilm nass mit Bela B. von der Band Die Ärzte und der Spielfilm Auftauchen, der nicht zuletzt aufgrund seiner »Radikalität und Konsequenz« (FBW) internationales Aufsehen erregte. In den letzten Jahren schrieb sie auch immer wieder für verschiedene Fernsehformate. Drei Leben lang ist Felicitas Korns erster Roman, dessen Verfilmung sie gerade vorbereitet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

1.


Der Mund des fremden Mannes öffnet und schließt sich wie eine freundliche Auster. Michi folgt jeder seiner Lippenbewegungen, versucht, seine Codes zu entschlüsseln, aber was herauskommt, macht keinen Sinn.

»Um sechs Uhr gibt es Frühstück, um dreizehn Uhr Mittagessen, um achtzehn Uhr Abendessen, ab einundzwanzig Uhr ist Bettruhe.«

Schock, haben die Polizisten geflüstert, Trauma und so, und Michi hat getan, als verstünde er alles, er ist schließlich fast fünfzehn, aber in Wahrheit versteht er nichts. Die Wörter, die einzelnen, kennt er, aber zusammengenommen strömen sie einfach nur durch seinen Gehörgang, klopfen irgendwo an, keiner macht auf, und schwups, weg sind sie.

Wieso sitzt er überhaupt hier? Auf dieser Couch? In diesem kackbraunen Büro?

Er traut sich kaum, zu Xandra zu gucken. Ihr kleiner Körper schüttelt sich etwas weniger unter den Tränen als noch am Bahnhof. Sie sitzt unverändert am anderen Ende der Couch. Sie weint schon die gesamten zwei Tage. Er selbst ist seitdem still. Keine Regung. Kein Wort. Als hätte man ihn anästhesiert. Trauma und so. Theoretisch könnte er seine Hand ausstrecken und Xandras nehmen, vielleicht würde sie das trösten. Aber die Hand gehorcht ihm nicht. Er hat es schon ein paarmal probiert. Er würde wenigstens gern seufzen, aber auch das gelingt ihm nicht. Also beginnt er, die Streifen auf der Hose des Mannes zu zählen, der sich als Herr Schneider vorgestellt und erklärt hat, dass ein Vormund der Elternersatz vor dem Gesetz ist. Wenn man keine Eltern mehr hat.

Zweiundzwanzig Streifen zählt Michi auf der Vorderseite. Also bis zu den Nähten an der Seite. Das heißt vierundvierzig Streifen rundherum. Vierundvierzig, wie das Alter von Papa. Beide Hosenbeine zusammen also fast das Alter von Papa plus Mama. Der Mann trägt Socken in dem gleichen Hellbraun wie sein Pullover. Es passt gut zu seinem bereits ergrauten Haar. Hoppla, die Auster bewegt sich nicht mehr. Und der Mann guckt ihn erwartungsvoll an. Hat er was verpasst?

Schnell guckt Michi zu Xandra. Auch sie hat den Blick gehoben und schaut den Mann mit ihren roten Augen an. Wenn er sich nur konzentrieren könnte. Blut in die Hände kneten. Gedanken greifen. Er ist ihr großer Bruder, verdammt.

»Wie lange bleiben wir hier?«, ist das Erste, was ihm einfällt. Es ist das Erste, was er sagt, seit dem Schwarz.

Der Mann scheint erleichtert. »Das weiß man nicht genau. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht mehrere Monate.«

»Wir schlafen nicht im selben Zimmer?«

Jetzt findet auch Xandra ihre Stimme wieder. Sie klingt dumpf, als dringe sie durch eine Wand. Und in Xandras Augen steht die Hoffnung, dass der fremde Mann mit seiner nächsten Antwort ihre Eltern hereinholt in dieses Hattersheimer Übergangsding und ihnen auf magische Weise schlagende Herzen einpflanzt. Die Hoffnung, dass alles nur ein Traum ist. Ein böser Traum. Mein Gott, Xandra, sei nicht so naiv!, und sie hält den Atem an, als der Mann freundlich wiederholt, was er schon erklärt hatte, als er ihnen ihre Zimmer gezeigt hat.

»Die Mädchen wohnen im oberen Trakt, die Jungen im Souterrain.«

»Aber wir können weiter in die Taunusschule gehen?«

Das ist sein zweiter Satz.

Genau genommen die zweite Frage.

Fühlt sich komisch an.

Aber alles fühlt sich komisch an, seitdem die Sanitäter sie aus dem Auto gezerrt und ihre Eltern in große Planen verpackt haben.

Zuerst haben die die Beine verschluckt. Dann die Hüfte, die Hände, die irgendwo lagen, neben den Oberschenkeln, auf dem Bauch, er weiß es nicht mehr, dann die Brust, den blassen Hals von Mama, den blutigen von Papa, sein Kinn, ihre Nase, die geschlossenen Augen, die rot und nass verklebten Haare. Dann alles nur noch Planen. Zwei dunkle Säcke. Hellschwarz. Oder Dunkelgrau?

Wie unter einer Glocke, denkt er.

Wie unter einer Glocke.

Trauma?

Oder so.

Wieso starrt er die ganze Zeit nur so blöd vor sich hin?

Der Mann lächelt. »Wir geben unser Bestes.«

Das Lächeln soll wohl der Fels in der Brandung sein.

Plötzlich würde Michi ihm am liebsten sein Scheißlächeln aus dem Gesicht schlagen. Er wollte Xandra und sich beruhigen mit der Frage nach der Schule. Und jetzt das hier. Dass das Beste nie gut genug ist, versteht selbst eine Elfjährige. Schon sackt Xandra wieder in sich zusammen.

Erwartet man eigentlich auch von ihm, dass er weint?

 

Michi fährt hoch.

Der Junge im Bett neben ihm schnarcht.

Das helle Licht des Mondes fällt auf die Wand neben seinem Bett. Michi fühlt, wie sein Herz rast, und hört sich keuchen. Er hat wieder von dem Unfall geträumt. Ins Licht der Scheinwerfer gestarrt, die auf sie zugerast sind. Den Aufprall auf die Tunnelwand gespürt.

Auch als sich sein Atem beruhigt hat, bleibt er kerzengerade im Bett sitzen. Bloß nicht wieder einschlafen. Wenn seine Mutter jetzt da wäre, würde sie ihn in den Arm nehmen, wie sie es früher immer gemacht hat, wenn er schlecht geträumt hatte.

Das entfernte Läuten eines Kirchturms sagt ihm, dass er erst zwei Stunden geschlafen hat. Um sich abzulenken, überlegt er, was das Letzte ist, an das er sich erinnern kann. Vor der Fahrt. Vor dem Tag der Abreise. Vor dem Tag vor dem Tag der Abreise. Aber: nichts. Er bekommt die Bilder nicht scharf gestellt. Stattdessen wird ihm übel.

Er sieht sich um. Vier Risse durchkreuzen das Zimmer. Einer links neben ihm die Wand hinauf. Auf halber Strecke nach oben kreuzt der einen anderen. An der Stelle, an der dieser oben in die Decke übergeht, kreuzt der dritte, und der kreuzt in der Mitte der Decke den längsten. Jesus am Kreuz fällt ihm ein. Gott. Was Gott mit der ganzen Sache zu tun hat? Sein Hintern ist kalt. Die Matratze hängt durch, es fühlt sich an, als säße er direkt auf dem Rost.

Einfach nur, weil er nicht weiß, was er sonst tun soll, legt er sich wieder hin. Das Kissen riecht nach dreckigen Füßen. Er versteht das alles nicht. Dieses Übergangsheim. Was soll das eigentlich sein? Xandra und er in einem Heim für Kinder, die keine Eltern mehr haben, für begrenzte Zeit, bis es neue Eltern gibt. Als ob das ginge. Neue Eltern. Und wenn sich niemand findet, geht es in ein anderes Heim, oder was? Bis man achtzehn ist?

Er weiß einfach nicht, was er Xandra sagen soll. Wie er ihr erklären soll, was jetzt passiert. Er weiß gerade nur eins: Das Bett ist zu weich. Er fühlt sich wie gefangen in einem ausgelutschten Marshmallow. Wie kann der andere Junge bloß so tief schlafen?

So leise er kann, richtet Michi sich wieder auf, sieht den Jungen an, starrt ihm für einen Augenblick direkt ins Gesicht. Er wirkt angespannt, der Mund steht offen. Was der wohl gerade träumt? Und wie lange er schon hier ist? Vielleicht sind auch seine Eltern noch in einer Kühlkammer. Bis der Rücktransport erfolgt und die Beerdigung stattfinden kann.

 

Am Morgen schleppt Michi sich irgendwie zum Frühstück. Die Tischordnung scheint nach einem bestimmten System organisiert. Nicht ausgesprochen, aber die Kinder fügen sich. Die Kleinen sitzen an einem Tisch, die Großen am nächsten, die Lauten am dritten, die Stillen am vierten. Der Schnarcher gehört zu den Stillen. Michi und Xandra haben einen Platz am fünften Tisch gefunden, dem Tisch der Neuen. Niemand beachtet sie. Hier sucht man sich seine Zugehörigkeit, oder man lässt es.

Später sitzen sie in der Mitte des Hofes auf einer Bank, die schon bessere Tage gesehen hat. Xandra hängt in seinen Armen, ihr Brustkorb bebt, und das Mittelblau seines Shirts ist dem Dunkelblau eines Meeres gewichen, an der Stelle, wo Xandras Nase in seine Schulter sticht, eine kleine Pfütze Tränen, ein winziger Klecks Ozean auf seinem Shirt.

Endlich sind sie mal allein. Also, allein zu zweit. Also, zumindest will niemand was von ihnen. Ein paar andere Kinder sind zwar auch im Hof, aber die spielen oder lesen oder gucken vor sich hin, die Augen auf Halbmast oder weit aufgerissen, wie in einem festgefrorenen Überraschungsschmerz. Die Stillen halten ihre Münder geschlossen, die Lauten schreien aggressiv, und der Junge, der schnarcht, sitzt allein auf einer Schaukel.

Endlich bekommen sie auch mal nichts erklärt. Neben Schneider und einer Frau, die sich als Heimleiterin vorgestellt hat, war da gestern noch die Frau, die sie »psychologisch betreut«, wie sie gesagt hat. Ihr haben Michi und Xandra die meisten Fragen beantworten müssen. Viele, unendliche Fragen darüber, ob sie verstehen, warum sie hier sind. Was sie fühlen. Was sie denken. Wie es ihnen gefällt. Ob sie etwas brauchen. Ob sie selbst Fragen haben. Als ob die ganze Rederei irgendwas nützt.

»Wieso können wir nicht einfach nach Hause?«

Xandras Worte sind unter ihrem Schluchzen kaum zu verstehen.

Ein Häufchen Spucke füllt den Ozean weiter auf. Das warme Nass breitet sich aus. Xandras Trauer auf seiner Haut beruhigt ihn. Von irgendwoher riecht es auf einmal nach gebratenem Fleisch. Wie gern äße er jetzt Mamas Frikadellen mit dem selbst gemachten Kartoffelsalat. Er würde sogar nach dem Essen Mau-Mau spielen. Das Spiel, für das er längst zu alt ist. Das Xandra so liebt. Ja, er würde seine Matchboxautos geben dafür oder die Plattensammlung, vielleicht sogar das Mofa, das er zum Geburtstag bekommen sollte, um noch ein einziges Mal mit Mama und Papa und Xandra darüber zu streiten, wer mischt, wer gibt und wer mit wem ein Team bildet. Sie hatten nämlich ihre ganz eigene Version von Mau-Mau. Und das in warmen Holztönen eingerichtete Wohnzimmer würde Zeuge, wie Xandra leichthändig gewinnt und dabei stolz kichert. Mama würde fernsehen, Papa Musik anmachen und Michi erklären, wie man Hechte...

Erscheint lt. Verlag 27.2.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alkohol • Automechaniker • Debüt • Drogenmilieu • Koks • Unfall • Vollwaisen
ISBN-10 3-311-70120-8 / 3311701208
ISBN-13 978-3-311-70120-0 / 9783311701200
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