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Lautlos sank Josefines schlanker Körper auf einen Klappstuhl, der ganz hinten in der Ecke neben dem Eingang stand. Sie stützte ihren Kopf auf die Handballen und vergrub die Hände in ihrem sanft gewellten, rotblonden Haar. Nur mit Mühe schaffte sie es, ein Stöhnen zu unterdrücken. Sie sah an sich hinab, um sicherzugehen, dass ihre Beine nach wie vor ihre Beine waren und nicht die eines Elefanten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals dermaßen durch die Gegend gehetzt worden zu sein. Frau Laux, haben Sie. Frau Laux, können Sie. Die fünfzig Gäste, die nun friedlich im großen Veranstaltungsraum ihres Weinguts saßen, hatten fast alle eine dämliche Frage, eine Unverträglichkeit oder sonst ein besonderes Anliegen mitgebracht. Von den Ansprüchen des Veranstalters selbst ganz zu schweigen.
Dr. Hans-Peter Thiel vom Institut für ganzheitliches Zeitmanagement war ein hochgewachsener, charismatischer Mann. Mit seiner weichen, vollen Stimme hatte er die Zuhörer schon nach wenigen Sätzen in seinen Bann gezogen. Am Nachmittag, als er kurz hergekommen war, um anzusagen, wie der Raum vorbereitet und bestuhlt werden sollte, war er allerdings alles andere als charmant gewesen. Unruhig war er herumgeschritten, hatte immer wieder betont, wie es unbedingt zu laufen hätte und was auf gar keinen Fall passieren durfte. Als ob Josefine auch nur auf die Hälfte der Punkte einen Einfluss gehabt hätte. Er war ungehalten, weil sie seine Anweisungen nicht so schnell mitschreiben konnte, wie er sie von sich gab. Und weil sie manches wiederholte, um sicherzugehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte.
Nun stand er da. Blickte wissend, vielleicht auch ein bisschen amüsiert über sein Publikum hinweg, während er darauf wartete, dass von einem der drei Beamer, die er mitgebracht hatte, ein Schaubild an die Wand projiziert wurde. Es zeigte eine große weiße Fläche mit einem Smiley, darunter befand sich ein Herzchen und darunter wiederum ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte.
„Das Leben“, sagte er dann, „ist einfach.“
Ein erstauntes und zugleich protestierendes Raunen ging durch die Reihen der Gäste. Doch Thiel hob beschwichtigend die Hände.
„Es ist geradezu lächerlich einfach! Und es ist auch immer noch exakt dasselbe Leben wie früher …“ Einige lachten. Andere protestierten nun wirklich lautstark oder schnaubten genervt. „Meine Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich zuerst in aller Ruhe ausführen, was ich für Sie vorbereitet habe. Schauen Sie, wir haben hier einen Menschen. Und dieser Mensch hat Kopf, Herz und Bauch.“ Thiel trat nun in den Lichtkegel des Projektors, sodass der Smiley über seinem Gesicht, das Herz auf der Brusttasche seines hellen Seidenhemdes und der Punkt im Kreis dort lag, wo Josefine seinen Bauchnabel vermutete.
„Ja“, sagte Thiel zufrieden. „Das ist unser Mensch. Seine Mitte. Körper, Geist und Seele. Und es wird immer davon gesprochen, dass wir die in Einklang bringen müssten. Doch tun wir einfach mal so, als sei das gar nicht die Frage. Tun wir einmal so, als seien wir schon zentriert. Und dann schauen wir uns an, was wir in diesem Leben zu tun haben.“ Er zeigte in die linke untere Ecke des Schaubildes. „Wir arbeiten. Wir brauchen einen Broterwerb. Üben einen Beruf aus oder leben unsere Berufung.“ Er schnippte mit den Fingern, und die drei Begriffe erschienen dort. „Dabei haben wir zwangsläufig mit anderen Menschen zu tun. Also müssen wir kommunizieren. Uns auseinandersetzen. Und um das hinzukriegen, brauchen wir Freunde.“ Er schnippte abermals mit den Fingern. Die Worte Menschen und Freunde wanderten oben links ins Bild. Oben rechts folgten die Hobbys. Besondere Begabungen, die im Berufsfeld nicht ausgelebt werden könnten. Entspannung, Ausgleich oder auch Haustiere seien hier einzuordnen. „Und irgendwann wollen wir ja auch einmal zur Ruhe kommen. Wir brauchen einen Ort, wo wir uns zurückziehen, wohlfühlen und neue Kraft sammeln können. Wenn das gelingen soll, müssen wir aber etwas tun. Nämlich putzen, Wäsche waschen, einkaufen und kochen. Und wir begegnen denen, kümmern uns um die, mit denen wir unser Zuhause teilen.“
Thiel hatte zum letzten Mal mit den Fingern geschnippt, und der Begriff Zuhause stand in der linken unteren Ecke des Schaubildes. Er lächelte stolz. „Das war es. Meine Damen, meine Herren. Das ist schon alles. Ganz einfach, oder?“ Er machte eine Kunstpause. „Bevor ich mich gleich den vielen Fragen widmen werde, die Sie auf dem Herzen haben, lassen Sie mich noch einen großen Mythos ausräumen. Den Mythos vom Hamster im Rad.“ Mit seinem Arm beschrieb er einen weiten Kreis, der sogleich in Rot auf dem Schaubild erschien. „Das Leben, meine Damen und Herren, ist eine runde Sache. Arbeit, Menschen, Hobbys, für sich und die Lieben sorgen. Im engeren wie im weiteren Sinne, denn Geist und Seele wohnen im Körper, und der Körper wohnt in den Räumen, die wir Zuhause nennen. Und dann fängt es alles wieder von vorne an.“ Thiel grinste. „It’s the circle of life.“ Die Melodie des Stückes aus dem ‚König der Löwen‘ wurde leise eingespielt. „Der Kreis des Lebens. Jeder hat seinen eigenen. Ob wir da hineingeworfen werden von einem Gott, dem Schicksal oder sonst einer höheren Macht? Ob wir das, was da heute drinsteht – bewusst oder unbewusst – selbst so geschaffen haben? Darüber ließe sich lange philosophieren. Doch bringt uns das weiter? Bei uns im Institut für ganzheitliches Zeitmanagement haben Sie die Möglichkeit, sich Ihren persönlichen Lebenskreis einmal ganz genau anzuschauen. Sie können ihn aufräumen, effektiver gestalten, ändern oder erweitern. Und Sie selbst können das Tempo bestimmen, mit dem Sie dieses Rad künftig drehen möchten. Doch genau das, was ich jetzt gerade mache“, Thiel trat aus seinem Schaubild heraus, „das können Sie im wirklichen Leben eben nicht tun!“ Seine Stimme klang nun tief und bedeutungsvoll. „Wir können nicht aussteigen. Wir können nicht raus aus dem Rad, wie es im klassischen Zeitmanagement seit über dreißig Jahren empfohlen wird. Das Leben ist ein ewiger Kreis. Und dieses große, lebendige Getriebe funktioniert nun einmal durch das Zusammenspiel vieler einzelner Räder und Rädchen, in denen jemand sitzt, der selbstverantwortlich steuert.“ Er zwinkerte schalkhaft. „Das kann ein Hamster sein.“ Die Musik schwoll an. Auf beiden Seiten des Schaubildes wurden nun Fotos und kleine Filme eingespielt. Eines zeigte tatsächlich einen fröhlich marschierenden Goldhamster. In einem geblümten Rhönrad drehte eine Frau kunstvolle Schleifen. Ein Mädchen auf einem Mini-Traktor, ein Mann auf einem Roller, in entgegengesetzter Richtung fuhren sie auf einem Rasen immer im Kreis herum. Ein junges Paar auf der Achterbahn. Eine Biene beim Rundtanz …
Josefine sprang auf und eilte nach nebenan ins Flaschenlager. Gleich wäre der erste Teil des Vortrags zu Ende, und sie musste noch die Frischhaltefolie von den Platten mit den Schnittchen und Käsespießchen nehmen. Die Mini-Quiches, die sie am Vormittag gebacken hatte, standen zusammen mit den Sektgläsern schon auf den Stehtischen bereit. Sie nahm den Spätburgunder brut aus dem Kühlschrank und öffnete die Flaschen so leise wie möglich.
„Soll ich dir beim Einschenken helfen?“ Charlotte hatte sich wohl unbemerkt aus dem Raum geschlichen und war hinter sie getreten. Über sie war der Kontakt zustande gekommen. Die engagierte Buchhändlerin hatte sich zu ihrem fünfzigsten Geburtstag im Januar selbst ein individuelles Coaching bei Dr. Thiel geschenkt und Josefine mit wachsender Begeisterung davon erzählt.
„Meinst du wirklich?“ Josefine schaute ihre Freundin forschend an. Ihre blassblauen Augen wanderten nervös umher. Als sie sich eine Strähne ihres kinnlangen, weißblonden Haares hinters Ohr strich, sah Josefine, wie sehr ihre Hand zitterte. „Bist du nicht zu aufgeregt?“
„Oh. Ja. Doch. Aber – ich habe … Ich fühle mich irgendwie mitverantwortlich. Sowohl dir als auch Hans-Peter gegenüber …“ Sie sah sich um. „Es ist ja wirklich ein großer Aufwand gewesen.“ Aus dem Raum war verhaltener Beifall zu hören.
„Wieso stellst du dich nicht an die Tür und drückst jedem der Teilnehmer ein Klemmbrett mit dem Ausdruck dieses Schaubildes in die Hand? Sie sind da drüben auf dem Wägelchen gestapelt.“
„Ja“, atmete Charlotte erleichtert auf, „das mache ich gerne! Da kann ich keinen großen Schaden anrichten.“ Sie lächelte verzückt, als sie das erste Brett in die Hand nahm. „Der Gestaltungsrahmen. Oder auch der Rahmen unserer Möglichkeiten. Meinen habe ich damals auch zusammen mit Hans-Peter ausgefüllt.“
„Wieso Rahmen?“, fragte Josefine verwirrt. „Sagte er nicht gerade, es sei ein Kreis?“
„Es ist die Quadratur des Kreises, meine Liebe. Seit ich damit arbeite, bin ich wirklich ein anderer Mensch!“
Charlotte wäre bestimmt einmal mehr ins Schwärmen geraten, wenn nicht nach und nach die Gäste hereingekommen wären und sie mit Fragen überhäuft hätten. Sie gab gezielt Auskunft, sprach mehr allgemein und doch überaus begeistert von ihrem Coaching und bemerkte zum Glück den überaus missbilligenden Blick nicht, den Dr. Thiel ihr zuwarf, als er zu der Gruppe stieß. Josefine wunderte sich darüber. Gab es denn bessere Werbung als eine zufriedene Kundin? Noch dazu eine wie Charlotte, die dermaßen seriös wirkte, sich wunderbar ausdrücken konnte und andere mit ihrem Enthusiasmus anstecken würde?
„Sie haben ein Wertungsproblem“, hörte sie ihn nun das Wort an sich reißen. Das machte er so geschickt, dass es außer Josefine wahrscheinlich niemandem aufgefallen war. Die ältere Frau, die eine Frage zur Hausarbeit gestellt hatte, würde...