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Der Flügel der Zeit -  Dieter Bührig

Der Flügel der Zeit (eBook)

Ein Capriccio über die Lübeck-Reise des jungen Johann Sebastian Bach
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
Kadera-Verlag
978-3-948218-08-9 (ISBN)
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In einem Lübecker Haus aus alten Zeiten steht ein merkwürdiger Konzertflügel - und ein mystischer Instrumentenbauer verrät dessen Zauber: Wer darauf spielt, reist nicht im Traum, sondern ganz real in die Vergangenheit. Autor Dieter Bührig verwendet diesen Zauber, um den musikkundigen Erben des Hauses auf eine Zeitreise ins Jahr 1705 zu entsenden, als der 20-jährige Johann Sebastian Bach in Lübeck weilte, um den Kirchenmusiker Buxtehude zu behorchen. Und so begeben wir uns mitten hinein ins bürgerliche Leben jener Zeit, aus dem die Rückkehr ihre spanneden Tücken hat.

Dieter Bührig verband sein Studium der Elektrotechnik mit einem Studiengang zum Diplom-Tonmeister. Als Studienrat unterrichtete er in Lübeck Physik und Musik, leitete Schulchöre. Er promovierte über das Thema »Schule in der Musik«. Seine Veröffentlichungen u.a. zu Fragen der Musikpädagogik führten ihn schließlich auch zur belletristischen Literatur. Mehrere Romane verbinden historische Ereignisse mit der Musik dieser Zeit. www.dieterbuehrig.de

Kapitel 1 · Der Flügel der Zeit


Wahrlich, es ist nicht unbedingt das große Glück, ein Haus in Lübeck zu erben. Zumal, wenn es mit dem Siegel des Denkmalschutzes belastet ist. Ein immobiler Pflegefall also. Und wer hat denn Eigenbedarf für einen engen Altbau. Ein doppelt geschenktes Buch kann getauscht werden, für einen Theater-Gutschein findet sich leicht ein Liebhaber. Doch eine Immobilie, weder verrück- noch veränderbar, nicht umzutauschen oder weiterzuschenken – wer könnte so etwas kaufen wollen?

Das Haus, das den Anlass für diese Geschichte liefert, liegt am Rande der Altstadt. Seine Rückseite war einst Bestandteil der mittelalterlichen Wehranlage, die den Stadthügel umgab. Als die Stadt prosperierte und der Wohnraum in der umschlossenen Innenstadt immer knapper wurde, hatten die Bürger schon früh damit begonnen, ihre Häuser an die Innenseite der Stadtmauer zu heften. Dadurch ersparten sie sich eine komplette Hauswand. Backsteine waren damals teuer.

Die Mauer war auf die Ewigkeit berechnet, und so wundert es nicht, dass die Fenster hinaus zum Vorfeld auch heute noch wie Schießscharten anmuten. Nur hoch oben im zweiten Stock, hatte ein Vorbesitzer eine zwei Meter breite Öffnung herausgeschlagen und einen lichtspendenden Erker eingebaut, zu einer Zeit, als es vor den Toren keine Feinde mehr gab und innerhalb der Stadtmauer noch keinen Denkmalschutz.

Zur Stadtseite hin zeigt sich das Gebäude mit seiner Backsteingotik, mit den offenen Fensterfluchten und der hohen Dielenetage wie viele andere Bürgerhäuser, die sich den Stromschnellen der Zeit unbeschadet widersetzt haben. Ein dreistöckiger Staffelgiebel krönt die Fassade, eigentlich Blendwerk, denn dahinter verstecken sich lediglich steile, kaum bewohnbare Dachgeschosse. Es wäre unangemessen, dies als Angeberei des Hausbesitzers abzutun. Wir sollten uns hüten, vergangene Zeiten aus unserem heutigen Blickwinkel zu beurteilen. Natürlich spielten schon damals Besitz und Vermögen eine wichtige Rolle, doch sie waren kein Selbstzweck, sie bestimmten sich durch die Ständeordnung, in die man hineingeboren wurde.

In meinem Erbhaus wohnte früher einer der wichtigsten Zöllner der Stadt, denn es schließt unmittelbar an das Burgtor an, das den nördlichen Zugang zur Stadt sicherte. Mit seinen fünf Stockwerken und der an eine preußische Pickelhaube erinnernden Bedachung sieht das Tor wie ein riesiger Zinnsoldat aus, dessen zu kurz geratene Beine die Straßendurchfahrt flankieren.

Oft war ich durch das Burgtor geradelt, um in der Innenstadt einzukaufen oder in einer Kneipe einzukehren. Nie hätte ich es mir träumen lassen, eines Tages mit diesen alten Mauern beerbt zu werden.

Nun gut, ich liebe die Stadt und flaniere gern durch ihre mittelalterlichen Gassen. Doch wohnen in jener pseudoromantischen Idylle, in der man auf Schritt und Tritt von der Schwere einer verblassten Geschichte erdrückt wird, wo es ständig nach Kohl riecht, wo man die Sonne nur in den oberen Stockwerken genießen kann und wo allenfalls ein paar Löwenzähne in löchrigen Regenrinnen dahinvegetieren? Gar als Hausbesitzer? Ein Altstadthaus als Statussymbol?

Nein, das brauchte ich nun wirklich nicht.

Den Erblasser kannte ich nicht, nicht einmal vom Namen her. Die Ironie des Zufalls hatte mich zum Besitzer eines geschichtsträchtigen Stadthauses gemacht, mit dem ich, wie gesagt, herzlich wenig anzufangen wusste.

Sollte ich es vermieten? Das hätte Investitionen in eine Renovierung erfordert, die ich mir im Moment nicht leisten konnte. Oder sollte ich es selbst beziehen? Nein, meine alte Wassermühle, mein Anwesen im ländlichen Umkreis mit der guten Anbindung an die Autobahn, mochte ich nicht aufgeben. Also wollte ich einen Makler beauftragen, einen Käufer zu finden. Mit dem Erlös könnte ich mir vielleicht eine Reise um die Welt leisten.

Aber erst einmal wollte ich das Objekt genauer in Augenschein nehmen. Bevor ich den ersten Schritt über die Schwelle setzte, erkundigte ich mich bei den Nachbarn. Was ich dort hörte, war nicht unbedingt ermutigend. In den letzten Jahren hatte das Haus leer gestanden, nur ein Hausmeisterdienst war mit den nötigsten Wartungsaufgaben betreut worden. Wahrscheinlich sah es im Inneren trostlos aus. Schimmel an den Wänden, bröckelnder Putz, undichtes Dach, Schwamm im Keller, marode Leitungen, kaputte Heizungen, undichte Fenster und wer weiß was sonst noch.

Zuletzt hatte dort ein Musiker gewohnt, ein Eigenbrötler, wie die Nachbarn sagten. Er hauste in dem Gebäude wie ein Bohemien in einem vergessenen Elfenbeinturm. Außer seiner Musik interessierte ihn nichts. Nicht einmal Blumenkästen oder Vorhänge gönnte er sich. Während die Nachbarn ihre Fenster schmückten, machte seine Hausfront stets einen unwirtlichen Eindruck.

Angeblich sollte er vor drei Jahren verstorben sein, doch die Nachbarn behaupteten, dass weiterhin jeden Abend Klaviermusik aus dem Turmzimmer herab auf die Straße töne. Keine definierte Musik, keine Mozartsonate, keine Bachfuge. Es klänge eher, als würde der Geist des Toten ein Klavier mit einem unendlichen Tonumfang stimmen.

Mit verhaltener Neugier stieg ich die wenigen Stufen hinauf zur Eingangstür. Auf einem verwitterten Messingschild prangte immer noch der Name des Sonderlings:

Silbermann, Instrumentenbauer

Ich sollte das Schild bei nächster Gelegenheit entfernen lassen. Doch, was sollte an seine Stelle treten? Ohne Namen ist ein Bauwerk ein anonymes Objekt, eine Hütte, eine Höhle, eine Behausung, aber eben kein Zuhause.

Meinen eigenen Namen wollte ich der Öffentlichkeit nicht preisgeben, schließlich kannte man mich als naturverbundenen Träumer, als Liebhaber der Landluft. Immerhin hatte ich die alte Wassermühle zu neuem Leben erweckt. Das Mühlrad war repariert worden. Es versorgt mich sogar mit elektrischem Strom. Demnächst will ich auch das Räderwerk um den Mühlstein herum erneuern. Schon der Anblick der Zahnkränze und Gestänge fasziniert mich. Wie ein riesiges Uhrwerk mutet es an. Es scheint nur darauf zu warten, als Perpetuum der Zeit erneut in Gang gesetzt zu werden.

Vielleicht wird meine Mühle eines Tages Getreide mahlen, Korn, Symbol des Lebens. Was gibt es Edleres, als sich dem Leben, der Zukunft zu widmen? Nein, auf keinen Fall will ich meinen wirklichen Namen an die Tür eines mit verstaubter Vergangenheit durchtränkten Stadthauses heften.

Das unscheinbare Vergissmeinnicht, das auf der obersten Stufe in einer Ritze neben der Haustür dahinvegetierte, erinnerte mich an meinen Garten, an die Obstbäume hinterm Haus, die ich selbst gepflanzt hatte und die seit dem letzten Jahr Früchte tragen, und an die blumenübersäte Wiese am Rande des Mühlenteichs.

Bei der Anlage meines Gartens hatte ich mich von einem englischen Gartenbauer aus der Barockzeit inspirieren lassen, Alexander Pope, ein Mann, der sich im Geiste der Aufklärung für einen natürlichen Umgang mit der Gartenkunst einsetzte. Das kam meinen Anschauungen entgegen.

Als ich kürzlich sein Konterfei auf einem antiquarischen Ölgemälde sah, wurde er mir richtig sympathisch. Es war, als stände ich vor einem Spiegel, nur die Kleidung stimmte nicht überein. Ein Zwillingsbruder, nein, mein eigenes Ich stand vor mir, getrennt durch einen Zeitsprung von über 300 Jahren.

Bin ich gar seine Wiedergeburt?

Alexander Pope, ein passender Name für mich. Warum sollte er nicht das Türschild meines neuen Eigentums zieren?

Alexander Pope, Gartenarchitekt

*

Die Türangeln knirschten träge, als ich eintrat, ein Zeichen, dass sie in letzter Zeit nur selten benutzt wurden. Das brüchige Geräusch klang, als wollte die Tür mich fragen: Was suchst du hier? Das ist nicht deine Welt! So klingt kein Willkommensgruß, fand ich.

Die Diele machte einen überraschend geräumigen Eindruck. Nichts, absolut nichts befand sich in dem hohen Raum, kein Schrank, kein Stuhl, kein Bild, nicht einmal ein abgebrannter Kerzenstummel. Nichts, nur Staub und tote Fliegen.

Hier war die Zeit stehen geblieben. Unverputzte Backsteine starrten mich an, als seien sie die Augen früherer Bewohner. Die Dielenbretter knarrten unter den Fußtritten unsichtbarer Geister. Der Luftzug durch die Fenster sang passend dazu sein altes Lied.

Ähnlich sah es in den anderen Räumen aus, bis hinauf ins Dachgestühl. Wenigstens fand ich weder Schimmel an den Wänden noch bröckelnden Putz. Es würde also nicht allzu schwierig sein, den alten Gemäuern wieder neues Leben einzuhauchen.

Schon wollte ich mich wieder auf den Rückweg machen, da entdeckte ich in der Nische unter der Wendeltreppe eine unscheinbare Tür, hinter der ich eine Rumpelkammer vermutete. Doch der vermeintliche Abstellraum entpuppte sich als schmaler Aufgang zu einem der Obergeschosse des benachbarten Burgtors. Über einen dunklen Treppengang gelang ich in einen höchst merkwürdigen Raum, in eine Art Faradaykäfig, an dessen Mauern der elektrisierende Strom der Zeit abprallte.

Ich wurde plötzlich ins Mittelalter zurückgeworfen. Die unverputzten Backsteinwände stammten offenbar aus jener Zeit, ebenso die hohen Fenster, die aus Butzenglas mit Bleifassungen bestanden. Sie gingen zur Stadtseite hinaus, nach Süden, und sie sorgten dafür, dass der Raum in ein helles, doch nebeliges Licht getaucht wurde. An der Nordseite gab es lediglich drei längliche Öffnungen, jene Schießscharten, von denen ich bereits berichtete, die nur einen engen Blick in das Vorfeld erlaubten, aber nur, wenn man sich auf Zehenspitzen stellte.

Durch die Butzenglasfenster blickte ich hinab auf die...

Erscheint lt. Verlag 5.11.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-948218-08-0 / 3948218080
ISBN-13 978-3-948218-08-9 / 9783948218089
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