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Vier durch vier

Kriminalroman

(Autor)

Buch | Softcover
443 Seiten
2020
Piper (Verlag)
978-3-492-05928-2 (ISBN)
CHF 24,90 inkl. MwSt
  • Titel ist leider vergriffen;
    keine Neuauflage
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Sam Berger ist am Boden zerstört. Neun Monate hat er sich als Privatdetektiv durchgeschlagen, neun Monate, in denen seine Kollegin Molly Blom wie vom Erdboden verschluckt ist. Dabei war Molly doch schwanger. Sind sie und ihre Tochter am Leben? Und ist Berger wirklich der Vater?

Dann wird eine junge Russin entführt, Nadja, und als Sam Berger von ihrer Psychologin den Auftrag erhält, sie zu suchen, ist ihm sofort klar: Dies ist kein gewöhnliches Verbrechen. Auf der Jagd nach den Tätern verstrickt er sich immer weiter in ein Netz aus Lügen – und muss bald nicht nur Nadja retten.

Denn die, die sie gefangen halten, sind international gesuchte Verbrecher. Und sie sind Bergers Schlüssel zu Molly Blom.

Arne Dahl, geboren 1963, hat mit seinen Kriminalromanen um die Stockholmer A-Gruppe eine der weltweit erfolgreichsten Serien geschaffen. International mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über zweieinhalb Millionen Bücher. Sein Thriller-Quartett um die Opcop-Gruppe mit den Bänden »Gier«, »Zorn«, »Neid« und »Hass« wurde ebenfalls zum Bestseller. Mit »Sieben minus eins« begann Arne Dahl 2016 furios eine neue Serie um das Ermittlerduo Berger & Blom, dessen Bände jeweils monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen. Zusammen mit Simon Beckett wurde er 2018 mit dem Ripper Award geehrt. »Vier durch vier« ist Berger & Bloms vierter Fall.

Wibke Kuhn, geb. 1972, arbeitete nach dem Studium der Skandinavistik und Italianistik zunächst im Verlag. 2004 machte sie sich als Übersetzerin selbstständig und studierte Neogräzistik, Finnougristik und Slavistik. Sie überträgt skandinavische, italienische und niederländische Romane und Sachbücher ins Deutsche (u.a. Stieg Larsson und Jonas Jonasson) und lebt in München.

Psychologisch raffiniert, fintenreich und rasant wie nie: Arne-Dahl-Leser kommen im persönlichsten Dahl seit »Sieben minus eins« voll auf ihre Kosten.

I 1 Sam Berger war allein. Es war Nacht. Die in den Ziegeln gespeicherte Sommerwärme brannte ihm auf dem Rücken, als er um die Ecke spähte. Hinter der Hecke sah er in einiger Ferne das Nachbarhaus. Es lag ein bisschen abgeschieden, auf einem Hügel, hinter einem kleinen Gehölz, dunkler noch als die Nacht selbst. Es war die hellste Zeit des Jahres. Die Nacht war nicht länger als ein paar Stunden. Aber gerade die brauchte er. Er brauchte die Dunkelheit. Denn in der Dunkelheit lag die Wahrheit. Sam Berger holte tief Luft und rannte los. Geduckt zwängte er sich durch das Loch, das er in der Hecke entdeckt hatte, und lief den Hügel hinauf. Als er sich dem Hain näherte, zog er seine Pistole aus dem Schulterhalfter. Diese Juninacht war eigentümlich still, und jedes Geräusch, das er hörte, kam von ihm. In der Einsamkeit umgab ihn weiter nichts als der unverwechselbare Duft einer Sommernacht. Er schlich vorsichtig durch das kleine Wäldchen, hielt Ausschau nach Überwachungskameras, konnte aber nichts entdecken. Da war nichts zu sehen. Die Nacht verhüllte alles. Doch die Taschenlampe konnte er noch nicht herausholen. Noch nicht. Wider Erwarten gelang es ihm, sich lautlos bis zum Haus vorzuarbeiten. Was für eine Farbe es hatte, war nicht zu erkennen, im Grunde nicht mal, ob es aus Holz oder Stein gebaut war. Er blieb kurz stehen, spürte die kühle Pistole an der Brust, die Wärme der Hauswand in seinem Rücken. Wartete, bis sein Atem wieder normal ging. Wenn hier denn überhaupt noch die Rede von normal sein konnte. Dann spähte er um die Ecke. Konnte undeutlich eine Kellertreppe erkennen, die vor einer Tür im Souterrain zu enden schien. Jetzt holte er seine Taschenlampe heraus, stellte sie auf die niedrigste Helligkeitsstufe und richtete den Lichtkegel ins Hausinnere, auf den Boden, um ihn so klein wie möglich zu halten – für den Fall, dass über ihm jemand saß und durch die dunklen Fensterscheiben spähte. Berger glitt die Kellertreppe hinunter, bewegte sich vollkommen lautlos. Er schlich sich weiter, Stufe für Stufe, leise, ganz leise. Noch leiser schob er den Dietrich ins Schloss. Ruckelte suchend, bis er einen Widerstand spürte und der Dietrich griff, und drückte dann vorsichtig die Klinke herunter. Zog lautlos die Tür auf. Es war, als würde die schwarze Türöffnung ausatmen, wie ein Schwefelhauch von unten, aus unbekannten Höllenschlünden. Danach roch das Ausatmen fast schon antiseptisch, klinisch. Er machte einen Schritt ins Haus, blieb stehen, geduckt, die Waffe erhoben, die Taschenlampe erhoben. Trotzdem dauerte es eine gute Weile, bevor er das Geringste sehen konnte. Wenn ihm jemand aufgelauert hätte, wäre er jetzt tot gewesen. Es fühlte sich an wie sein Mantra – die Verblüffung, immer noch am Leben zu sein. Zu guter Letzt nahm der Raum, in dem er stand, doch erkennbare Konturen an. Er erstreckte sich über das gesamte Kellergeschoss des Hauses. Ein Hobbyraum, der zu einem Pflegezimmer umgebaut worden war. In der Ecke ein Bett mit einer Art Beatmungsgerät, ein elektrischer Rollstuhl, ein Rollator mit dazugehörigem Infusionsständer. Und er war leer. Nächtlich leer. In der Dunkelheit lag die Wahrheit. Irgendwo in der Dunkelheit. Er schob die Pistole wieder ins Schulterhalfter, drehte die Taschenlampe heller, leuchtete suchend um sich herum. Die Finsternis umschloss ihn. Der Lichtschein schien kaum bis zum Boden zu reichen. Als würde er auf halbem Wege zum Erliegen kommen, auf Widerstand treffen und quasi in der Luft hängen bleiben. Berger bewegte sich mit der Langsamkeit eines Faultiers. Er schob sich am Rollator vorbei, der Beutel mit der Nährlösung schaukelte in dem leichten Windzug, den er verursachte; er ging vorbei am Rollstuhl, stand jetzt beim Bett neben dem stillen Beatmungsgerät, wie mitten in der Bewegung erstarrt. Es war, als wäre diese ganze schwarze Luft ansteckend, bakteriengesättigt. Als befände er sich in einem mittelalterlichen Pesthaus. Die Zeit verging. Er suchte irgendetwas, irgendeinen Fehler, etwas, das hier nicht in Ordnung war. Ein Geräusch brachte ihn schließlich darauf. Einer seiner vorsichtigen Schritte klang anders, direkt neben dem Bett. Er machte ein paarmal auf derselben Stelle einen Schritt vor und zurück. Da war er wieder, der hohle Klang. Berger bückte sich. Wie erwartet, lief ein dünner Strich über den Linoleumboden, ein kleiner Spalt, der bis unters Bett reichte. Vorsichtig schob er das Krankenbett beiseite und legte so das Viereck frei. Es war äußerst geschickt gemacht. Der Spalt im Boden war nur wenige Millimeter breit, und daneben lag ein größerer Teppich. Der wohl normalerweise über die Falltür gezogen wurde. Denn es war garantiert eine Falltür. Und wann wurde der Teppich nicht über die Falltür gezogen? Wenn noch jemand dort unten war. Vergeblich versuchte Berger, den Schauder zu unterdrücken, der ihm über den Rücken lief. Als er neben der Falltür in die Hocke ging und nach dem Griff suchte, befiel ihn das überwältigende Gefühl eines Déjà-vu. Nicht noch so ein Scheißkellerloch in seinem Leben. Der Griff war sehr geschickt in den Linoleumbelag eingearbeitet. Er bekam ihn mit der Linken zu fassen, nahm die Pistole in die Rechte und die Taschenlampe zwischen die Zähne. Dann zog er die Falltür langsam und behutsam nach oben. Er sah die massive Isolierung, die auf der unteren Seite der Tür über die Holzbretter herausragte. Richtete den Strahl eine Treppe hinunter, welche in einem Gang endete. Doch auch dort unten war kein Lebenszeichen zu vernehmen. Erdiger Grabgeruch stieg aus dem Keller unter dem Keller. Berger seufzte tief, blickte zur Decke. Und empfand sein Leben plötzlich als etwas Wertvolles, etwas, was er wirklich gerne behalten wollte. Fast wie etwas, das er zärtlich in der Hand halten und befühlen konnte. Dann begann er mit der Taschenlampe in der einen und der Pistole in der anderen Hand hinunterzuklettern. Jeden seiner Schritte tat er mit äußerster Wachsamkeit. Bis er schließlich am Ende der Treppe angelangt war. Der Raum glich einem Erdkeller. Er war eng, hatte eine niedrige Decke. Für einen Moment dachte Berger, er stünde wieder in einem der Củ-Chi-Tunnel vor Saigon, durch die er in seiner jugendlichen Verwirrung gekrochen war. Und Panik bekommen hatte. Seine Kameraden hatten ihn hinausschleppen müssen. Dabei waren sie doch bloß Touristen gewesen. Genau wie die Gänge in Vietnam wurde auch dieser hier immer enger und enger. Er war kaum ein paar Meter vorangekommen, da hatte sich die Decke schon drastisch abgesenkt, und die Wände rückten immer näher an ihn heran. Am Ende kam er nicht mal mehr geduckt weiter. Er musste auf die Knie gehen und sich auf allen vieren durch den Gang kämpfen. Diese Panik aus seiner Jugend hatte ihn wirklich schon lange nicht mehr erfasst. Auch jetzt spürte er sie nicht, aber er spürte ihre intime Nähe. Spürte, dass sie nicht weit war und ihm auflauerte. Seine Finger kratzten durch die Erdschichten, seine Knie wurden aufgeschürft. So angestrengt er auch nach vorne spähte, er konnte das Ende des Tunnels nicht erkennen. Ob er wohl einfach in einem Trichter ohne andere Ausgänge endete? Berger musste innehalten. Die Augen schließen. Sich konzentrieren. Nicht in den Củ-Chi-Zustand verfallen. Er war jetzt ein erwachsenerer Mann. Ein Mann mit gewissen Erfahrungen. Er schlug die Augen wieder auf. Nahm die Taschenlampe, die er aus der Hand gelegt hatte, kroch weiter. Denn jetzt konnte er nur noch kriechen. Sein Rücken fühlte sich an, als hätte ihm die Tunneldecke bereits die Haut aufgerissen. Der Sauerstoff schien zu Ende zu gehen, das Atmen fiel ihm schwerer und schwerer. Um ihn herum war kein Platz mehr, und es kam Berger vor, als wäre er genauso breit, genauso hoch wie der Tunnel. Es kam ihm vor, als wäre er nicht mehr allein in diesem engen Tunnel: Die Panik kroch neben ihm, ganz dicht neben ihm. Er brauchte nur den Kopf zu wenden und sie einzuatmen. Gerade als sein Inneres die Panik inhalieren wollte, geschah etwas. Ganz unvermutet erweiterte sich der Gang in sämtliche Richtungen, und auf einmal hatte er wieder Platz für alle Gliedmaßen. Kam gleich viel schneller voran. Doch nachdem er etwas schneller weitergekrochen war, hielt Sam Berger genau deswegen inne. Wie dafür gemacht. Er atmete aus und lauschte, was da wohl vor ihm liegen mochte. Dort war eine Tür am Ende des Ganges. Eine Tür, die eine fast normale Höhe hatte. Alle Instinkte drängten ihn, darauf zuzugehen. Alle außer einem. Seinem Polizisteninstinkt. Der ihn niemals verlassen würde, auch wenn sie ihn zehnmal abgesägt und ausgestoßen hatten. Und dieser Instinkt sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Er lauschte nach unten, nach vorne, nach rechts, nach links. Er lauschte nach unten. Er lauschte nach unten, zum Boden. Doch da war kein Boden mehr. Vielmehr war da ein Graben. Ein Loch. Und zwar fünf Zentimeter von seiner linken Hand entfernt. Wäre er auch nur zehn Zentimeter weitergekrochen, wäre er direkt hineingefallen. Der Graben war einen knappen Meter breit. Er hätte keine Chance gehabt zu bremsen. Dann entdeckte Berger, dass da im Boden mindestens fünf parallele Klingen steckten, die rasiermesserscharf vor ihm aufblitzten. Sie erstreckten sich von der einen zur anderen Seite der Kluft. Wenn Sam Berger seinen restlichen Instinkten gefolgt und Richtung Tür gerannt wäre, wäre er völlig verstümmelt worden. Da hätte es Körperteile von Körperteilen getrennt. Weißglühende Wut baute sich in ihm auf. Es gelang ihm, sie in Schach zu halten, während er mit der größten Vorsicht über den tödlichen Graben kletterte. Als er ihn überwunden hatte, konnte er fast aufrecht stehen. Er hatte die Taschenlampe bereits in den Mund gesteckt und den Dietrich gezückt, als er sah, dass die Tür sich nach innen öffnete. Da schob er den Dietrich wieder in die Tasche. Ganz offensichtlich hatte niemand damit gerechnet, dass eventuelle Eindringlinge überhaupt so weit kommen würden, denn die Tür selbst war ziemlich marode. Und sie flog nicht auf, sie ging vielmehr in Stücke, als Bergers weißglühende Wut sich ihren Weg nach draußen bahnte. Der Mann an der Rudermaschine saß mit dem Rücken zu ihm und zog mit voller Kraft. Die Kopfhörer auf seinen Ohren waren zweifellos völlig schalldicht. Berger trat an ihn heran, riss ihm die Kopfhörer herunter und hob ihn mit einer Hand von der Rudermaschine. Sein Gesicht ganz nah vor der Nase des Mannes, starrte er in die reinste Form von Entsetzen. Berger brüllte ihm direkt entgegen: »Verdammt noch mal, wie weit ist ein Mensch eigentlich bereit zu gehen für so einen Scheißversicherungsbetrug?« Er gestattete sich, den Mann niederzuschlagen, der ihn um ein Haar zerstückelt hätte. Während der Typ schlaff über seiner Rudermaschine zusammensackte, wurde Sam Berger von seiner Panik eingeholt. Mit zitternder Hand holte er seine alten Handschellen heraus und fesselte den Mann an die am Boden verschraubte Rudermaschine. Dann schaute er sich um in dem, was aussah wie das unterirdische Fitnessstudio eines Mannes, der vortäuschte, gelähmt zu sein. Es gab keinen anderen Weg hinaus. Die Klaustrophobie blockierte Bergers Atmung. Der Củ-Chi-Zustand überwältigte ihn. Er brauchte sofort Luft. Stürzte durch die zerschmetterte Tür hinaus, und es gelang ihm das Kunststück, über den tödlichen Graben zu hechten. Dann zwang er sich mit einer Energie, die der schieren Panik entsprang, durch die engsten Passagen, erreichte die Treppe, ohne ein einziges Mal zu atmen, rannte hoch, kam im falschen Krankenzimmer heraus, raste sofort die Kellertreppe hinauf und nahm einen der tiefsten Atemzüge seines Lebens. Das süße Lächeln der Sommernacht schaute zaghaft aus dem Dunkel. Berger setzte sich auf einen Stein und spürte die Nacht höhnisch grinsen. Aber so sollte es nicht bleiben. Einen Augenblick lang hatte er zwei Familien gehabt, eine alte und eine neue. Alles, was er sich gewünscht hatte, war in greifbarer Nähe gewesen. Doch schon ein halbes Jahr später schwebte er in einem luftleeren Raum, leerer denn je zuvor. Als Sicherheitsberater. Im Klartext: Privatdetektiv. Er dachte an seine Zwillinge. The still point of the turning world. Zwölf Jahre waren sie jetzt alt. Er würde sie zurückbekommen. Sie waren wieder da. Die kalte Stimme seiner Ex hallte durch die Sommernacht. Ist mir scheißegal, ob du jetzt Unternehmer bist, du bleibst doch Bulle mit Leib und Seele, und das wird uns noch alle umbringen. Der Wegzug der Familie aus Stockholm, das Sorgerecht, auf das er schon vor Jahren verzichtet hatte. Die seltenen, angespannten Besuche. Vielleicht würde es besser werden. Doch er bezweifelte es. Bald würden sie in die Pubertät kommen. Und diese verdammte Firma schluckte all seine Zeit. Von der Kohle ganz zu schweigen. Unglaublich, wie viel es kostete, so eine Firma zu gründen. Und nun bekam er keine anderen Aufträge als diese verfluchten Versicherungsbetrüger. Er starrte zum leicht leuchtenden Himmelsgewölbe empor. So blieb er eine ganze Weile sitzen. Dann zog er ein zusammengefaltetes Foto aus der Innentasche seiner Jacke. Es zeigte eine Frau, eine blonde Frau, mit starkem, aber traurigem, fast entschuldigenden Blick. Sie stand auf einem Flugplatz, und es sah so aus, als würde das Flugzeug hinter ihr gleich das riesige Fenster durchbrechen. Es sah so aus, als würde sie sprechen. Sie schaute direkt in die Kamera. Berger betrachtete es so lange, dass die Szene wieder zum Leben erwachte. Die Frau auf dem Foto begann sich zu bewegen. Das Flugzeug in ihrem Rücken rollte näher heran. Und als sie sprach, hörte er Molly Bloms Stimme: Ich kann nicht, Sam. Ich kann wirklich nicht. Ich brauche Ruhe. Nachdenken. Stille. Dann war tatsächlich alles still. Furchterregend still. Bis der überirdisch schöne Gesang einer Nachtigall durch die Sommernacht drang. Vielleicht gab es ja doch noch ein wenig Gesang auf dieser Welt. 2 Vitenka rückt seine rote Seidenkrawatte zurecht, dreht die Manschettenknöpfe richtig herum und dehnt den Nacken, dass die Wirbel vernehmlich knacken. Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs redet und redet, auf seine leicht gehetzte Art, als würde ihm jemand ein Schwert an die Gurgel halten, doch Vitenka hört nichts. Er hat längst aufgehört zuzuhören. Stattdessen gleitet sein Blick über die Bucht. Auf der anderen Seite meint er, wie immer den japanischen Außenpool auf den Klippen zu sehen, aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht – so weit kann nicht mal er schauen. Ein weiteres großes Kreuzfahrtschiff gleitet vorbei; ausnahmsweise erkennt er es nicht. Es kommt vor, dass er sich wünscht, irgendetwas zu fühlen. Egal was. »Wunderbar, Eldner«, sagte Vitenka jetzt und hebt die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Aber kannst du mir nicht einfach eine kurze Zusammenfassung geben?« Eldner hält inne und senkt kurz den Blick, um seine Suada gedanklich zusammenzustreichen, scheint erfolgreich zu sein und sagt: »Die Trennung wird finanziell marginale Effekte haben.« Vitenka nickt langsam. Versteht. Raushaben wollen sie ihn. Männer wie Alvar Eldner haben ihm damals die Türen der Weltgewandtheit geöffnet. Feingliedrige Herren in maßgeschneiderten Hemden auf höchst vorübergehendem Besuch. Er hat es trotz allem weit gebracht. Und er braucht Männer wie Eldner. Juristen, die ihm die Welt, in der er sich jetzt bewegt, nach Bedarf drehen und wenden, sie ihm zurechtlegen. Rückgratlose Männer, die ihm am Ende herzlich egal sind. »Also gut«, sagt er mit einer Bewegung, bei der Eldner automatisch aufsteht. Trotzdem bekommt der Anwalt noch über die Lippen: »Eine Sache ist da jetzt aber noch aufgetaucht.« Vitenka weiß, dass Eldner so etwas nicht sagen würde, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Er macht eine Geste, die Eldner nicht nur auffordert, sich wieder zu setzen, sondern auch, sich zu räuspern und zu sagen: »Ich glaube, wir könnten eine neue Spur haben.« »Eine neue Spur«, wiederholt Vitenka neutral und schaut über die Bucht, wo das Kreuzfahrtschiff gerade aus ihrem Blickfeld verschwindet. »Es sind mittlerweile ein paar Monate vergangen«, fährt Eldner fort. »Aber Boris hatte ja leider keine neuen Informationen für uns. Diese Geschichte ist ganz einfach nicht der Grund gewesen, warum er sich vor vierzehn Jahren nach Kamtschatka abgesetzt hat.« »Ich weiß«, sagt Vitenka kalt. »Das hat er mir ja alles persönlich erzählt. Wenn auch ziemlich … abgehackt …« »Vierzehn Jahre lang war es nicht mehr als ein Gerücht.« Eldner lässt sich nicht beirren. »Zwanzig Millionen verschwundene Euro. In immer noch gültigen Scheinen.« »Die Fakten sind mir bekannt. Komm zur Sache, Eldner.« »Wir haben das Gefühl, dass wir jetzt doch noch einen neuen Zusammenhang gefunden haben. Eine direkte Verbindung zu Stepanka.« Vitenka merkt, wie er zusammenzuckt. Er darf nicht zusammenzucken. Leute wie Vitenka zucken nicht zusammen. Also blickt er jäh auf und sagt: »Eine direkte Verbindung?« »Wir hoffen es«, nickt Eldner. »Falls sich das Gerücht wirklich bestätigen sollte, dass Ihr Vorgänger Stepanka das Geld versteckt hat.« »Aber der ist ja von uns gegangen, wie wir alle wissen«, entgegnet Vitenka, der seine Fassung inzwischen wiedergewonnen hat. Alvar Eldner blättert in seinen Papieren. Als ob er noch nicht genau wüsste, was er sagen soll. »Sag es einfach«, drängt Vitenka. Eldner runzelt die Stirn und erklärt: »Stepanka ist von uns gegangen, das stimmt schon. Aber jetzt sind doch gewisse Unregelmäßigkeiten ans Licht gekommen, was diesen Todesfall vor vierzehn Jahren angeht.« Ausnahmsweise ist die Bucht jetzt einmal leer. Nicht ein Schiff bricht die stille Oberfläche, nicht eine Welle. Vitenka schaut von seinem hohen Aussichtspunkt aufs Wasser hinunter. Genau so muss es ausgesehen haben zur Zeit der Landnahme, als die starken und autarken Wikinger auf dieser gottverlassenen Insel ankamen und sich des Landes bemächtigten. Genau wie wir, dachte Vitenka, als die Mauer fiel. Niemand konnte uns zurückhalten. Wir suchten die Freiheit, die richtige, grenzenlose Freiheit. Für uns gab es keine Grenzen. Keine politische und keine polizeiliche Macht konnte uns etwas anhaben. Wir sind die Wikinger der Gegenwart. Die Zeit der Landnahme. »Unregelmäßigkeiten?«, fragt Vitenka schließlich. Eldner nickt. »Drei Männer aus Stepankas persönlicher Leibwache sind vor vierzehn Jahren verschwunden, ungefähr zur selben Zeit, als das Geld verschwand. Es liegt nahe, dass das irgendwas mit der Sache zu tun hat. Ein vierter sitzt … da unten. Er heißt Adrian Fokin.« »Ah«, sagt Vitenka. »Dann möchtest du jetzt sicher gerne gehen, Eldner?« Vitenkas Blick folgt Eldner, bis der sich endlich verkrümelt hat. Er kann bloß Verachtung empfinden für die Gierschlünde, die immer nur den Rahm an der Oberfläche abschöpfen wollen und so tun, als wüssten sie nicht, was in der Tiefe liegt. Wahrscheinlich, damit sie noch mit sich selbst leben können, damit sie sich einreden können, sie seien noch Teil des Lichts, sie machten ja nur ihren Job und zahlten ihre Steuern, um in Ruhe und Frieden das eigene Oberklassendasein zu genießen. Er steht auf und schaut noch einmal über die Bucht. Das scharfe Spätsommerlicht scheint von überall zu kommen, durch sämtliche Panoramafenster der eleganten einstöckigen Villa. Das Licht strömt über ihn, als er ans Bücherregal tritt. Er kann nicht anders, jedes Mal, wenn er die Buchrücken in der richtigen Reihenfolge eindrückt, muss er auflachen. Seine eigene kleine Satire auf den kulturellen Firnis der Bourgeoisie. Das Bücherregal gleitet geschmeidig zur Seite und gibt den Blick auf eine Stahltür frei. Vitenka schaut in die Linse des Irisscanners und gibt den langen Code ein. Die Aufzugtüren gleiten auf. Er steigt ein, wird nach unten gefahren, ganz tief nach unten. Jedes Mal spürt er den Druck auf den Ohren. Dann gleiten die Stahltüren wieder auf. Zwei schwer bewaffnete Wachen nicken ihm im Dunkeln zu und öffnen mit großen Schlüsseln die nächste Stahltür für ihn. Man kann den nackten Mann kaum sehen, der dort in der hinteren Ecke des Raumes hängt. Die blanken Füße erreichen mit Müh und Not den Boden, und seine Hände sind an zwei Turnringen oder etwas in der Art festgebunden, die von der Decke hängen. Seine Augen sind fast genauso groß wie der Knebel, den man ihm in den Mund gestopft hat. Vitenka zieht einen Stuhl heran und setzt sich an den Schreibtisch, der vor dem Mann steht. Er sagt: »Du weißt, worum es hier geht, Adrian. Vor vierzehn Jahren ist eine komplette Lieferung verschwunden, zwanzig Millionen Euro. Ich gehe hier nicht weg, bevor ich nicht weiß, wohin das Geld verschwunden ist.« Der Mann starrt ihn an. Schweiß tropft ihm vom Gesicht. Er zuckt und zappelt so viel, wie es eben geht. Viel ist das nicht. Vitenka nimmt bedächtig seinen roten Schlips ab, faltet ihn sehr exakt in der Mitte zusammen und legt ihn ganz glatt auf den Tisch. Dann zieht er eine Schublade auf und nimmt ein großes Schwert mit breiter Klinge heraus. Es sieht aus wie ein Wikingerschwert. Er platziert das Schwert neben dem präzise zusammengelegten Schlips. Sie sind genau gleich lang. »Ich werde dir ein Privileg einräumen, Adrian. Willst du wissen, was für ein Privileg das sein wird?« Der Mann starrt ihn mit wild aufgerissenen Augen an. Dann nickt er. Eine Spur von Hoffnung flackert in seinem Blick auf. Vitenka lächelt. »Du darfst dir selbst aussuchen, in welcher Reihenfolge du deine Körperteile verlierst, Adrian. Ist das nicht nett von mir?« Als Vitenka aufsteht und das Schwert ergreift, geht sein Pulsschlag nicht einen Schlag schneller als sonst.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Berger & Blom ; 4
Übersetzer Wibke Kuhn
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Friheten
Maße 136 x 205 mm
Gewicht 521 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 4 durch 4 • 5 plus 3 • 6 mal 2 • 7 minus 1 • A-Team • Berger und Blom • Berger und Blom 4 • Bestseller • blutige Rache • Buch • Bücher • Bücher • Entführung • Entführung • Ermittlerduo • Folter • Fünf plus drei • Fünf plus drei • grausam • Hörbuch • Hörbuch • internationales Verbrechen • Krimi • Krimiserie • Mafia • Menschenhandel • Molly Blom • Opcop • Prostitution • Rache • Russische Mafia • Sam Berger • Schwedenkrimi • Schwedischer Krimi • Sechs mal zwei • Showdown • Sieben minus eins • Skandinavien • Skandinavienkrimi • Skandinavischer Krimi • spannende Bücher • spannende Bücher • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestsellerautor • Stockholm • überraschende Wendungen • überraschende Wendungen • Zwangsprostitution
ISBN-10 3-492-05928-7 / 3492059287
ISBN-13 978-3-492-05928-2 / 9783492059282
Zustand Neuware
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