Ástas Geschichte (eBook)
464 Seiten
Piper ebooks (Verlag)
978-3-492-99509-2 (ISBN)
Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor ihm mit »Himmel und Hölle« (2009) der internationale Durchbruch gelang. Seither wurde sein Werk in über 20 Sprachen übersetzt und in ganz Europa ausgezeichnet. »Dein Fortsein ist Finsternis« erhielt 2022 als bester ausländischer Roman des Jahres den französischen Prix du Livre étranger, die deutsche Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig wurde mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis 2023 geehrt. Zuletzt erschien der hochgelobte Roman »Mein gelbes U-Boot«.
Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor er sich in Mosfellsbær bei Reykjavík niederließ. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und in ganz Europa ausgezeichnet, u.a. mit dem isländischen Literaturpreis. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit "Himmel und Hölle", zuletzt erschienen "Fische haben keine Beine" und "Etwas von der Größe des Universums". 2018 war Jón Kalman Stefánsson für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert.
Erster Teil
Man fängt mit dem Anfang an: Wir befinden uns zu Beginn der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Reykjavíker Weststadt, und ich berichte, wie es zu Ásta kam, verliere dann aber den Zugriff.
Ástas Eltern, Helga und Sigvaldi, wählten den Namen schon, als Ásta noch im Leib ihrer Mutter steckte, überzeugt, sie bekämen ein Mädchen, und sie entnahmen ihn einem Buch von Halldór Laxness, Sein eigener Herr, erschienen in den Jahren 1934 und 1935. Sie lasen den Roman gemeinsam, während Ásta im Mutterleib Gestalt annahm und wuchs, und über sein Ende kamen ihnen die Tränen. Auch Sigvaldi, der seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte und der Meinung war, er habe das Weinen verlernt. Sie weinten, als Ástas Vater Bjartur seine Tochter auf den Arm nimmt, weil sie, am Ende ihrer Kräfte angelangt, im Sterben liegt, und die beiden weiter in das unwirtliche Hochland ziehen, weg vom Leben. »Halt dich gut an meinem Hals fest, meine Blume«, sagt Bjartur. »Ja, flüsterte sie. Immer – solange ich lebe. Deine einzige Blume. Deine Lebensblume. Und ich sterbe noch lange, lange nicht.«
Natürlich weinten sie. Diese Zeilen, dieses Ende konnten Steine zu Tränen rühren. Doch ist man versucht, sich die Frage zu stellen, ob es wirklich nachahmenswert war, sein Kind nach einer Romanfigur zu nennen, die einen ganz gewiss faszinieren kann, die aber auch im Schatten eines Vaters lebt und stirbt, in dem kaum etwas anderes als Sturheit, Unglück und die grausame Brutalität gedeiht, die aus der völligen Unfähigkeit resultiert, sich in andere hineinzuversetzen. Ich taufe dich auf den Namen Ásta, weil eine andere Ásta Blut hustend im kalten Hochland auf dem Altar ihres Vaters gestorben ist.
Sigvaldi hatte den Namen vorgeschlagen. Helga zögerte, stimmte aber sofort zu, als sie vor sich sah, dass man nur den letzten Buchstaben weglassen musste, um das Wort ást zu erhalten, was auf Isländisch Liebe bedeutet. Ástas Name würde also nicht nur die Begeisterung für den großen Roman bekunden und auf den tiefen Eindruck verweisen, den seine Lektüre bei ihren Eltern hinterlassen hatte, sondern Helga und die ganze Welt zugleich in ihrer Vorstellung daran erinnern, wie nah in diesem Leben die Liebe war. Dass Ástas Leben aus Liebe entstand und dass sie von Liebe umgeben aufwachsen sollte.
Als Ásta gezeugt wird, ist Helga knapp neunzehn, Sigvaldi mehr als zehn Jahre älter. Das ist kein bedeutender Unterschied, eigentlich so gut wie gar keiner, wenn das Leben fortschreitet. Nach und nach wird es immer unwichtiger, ob ein Paar zwei, zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre auseinanderliegt. Mit knapp neunzehn befindet man sich allerdings nicht im gleichen Lebensabschnitt wie mit über dreißig.
Doch schon haben sie ein sieben Monate altes Mädchen und eine sehr akzeptable Kellerwohnung in der Weststadt sowie den Vorsatz, in etwa zwei bis vier Jahren nach oben ins Erdgeschoss aufzusteigen. Sigvaldi hat in den letzten Jahren sehr erfolgreich als Maler und Anstreicher gearbeitet, eine Arbeit, die er aufgenommen hat, um Geld zurückzulegen, allerdings holt er Pinsel und Farbeimer erst hervor, wenn der Frühling kommt. Die isländische Gesellschaft ist zu diesem Zeitpunkt so unterentwickelt – das zwanzigste Jahrhundert hat in Island streng genommen erst vor zehn Jahren begonnen –, dass sie noch nicht so weit ist, mehreren Anstreichern rund ums Jahr ein Auskommen zu ermöglichen; die Entwicklung schreitet jedoch so rasch voran, dass Sigvaldi bald keinen Zweitberuf mehr wird ausüben müssen. In den Jahren aber, die damals schon hinter ihm liegen, ist er winters noch zur See gefahren und hat bei der schweren Arbeit in den Fischerhütten Geld verdient. Er ist bärenstark und überaus tüchtig, man nimmt ihn gern. Doch in den ersten Wochen des Januars, in dem wir uns jetzt befinden, rudert niemand zum Fischen auf See. Die Seeleute streiken nämlich. Ein Streik, in dem es schon seit zehn Tagen hart auf hart geht, als Helga leicht kichernd auf dem vom Abendessen abgeräumten Esstisch liegt, ihr Rock hochgeschoben, die Unterhose auf dem Fußboden, und Sigvaldi in ihr steckt.
So erregt, dass er nicht einmal die Hose ausgezogen hat. Er hat sie lediglich auf die Oberschenkel gestreift, doch von da rutscht sie tiefer, als er sich zu bewegen beginnt, als er sich leicht vorbeugt und die Arme auf den Tisch stützt, seine Lippen öffnen sich, er atmet heftig, bewegt sich schneller, die Hose rutscht, und Helga kichert nicht mehr. Sie seufzt, sie stöhnt, sie spreizt die Beine, um ihn tiefer in sich zu spüren, sie flüstert: Mein Liebling, mein Liebling, schaut ihren Mann an, entblößt die Zähne, richtet sich auf und flüstert ihm heiser ins Ohr: Nimm mich! Mach! Fester! Sie weiß, dass ihn das erregt, dass es ihn verrückt macht. Fester! Und der Esstisch ruckt, als Sigvaldi fest zustößt und der angestauten Tatenlosigkeit der letzten Tage freien Lauf lässt.
Untätigkeit hat ihm nie gutgetan. Hände, die mit nichts beschäftigt sind, sind vollkommen nutzlos – da kann man sie auch gleich auf den Müll werfen.
Doch es handelt sich um einen erbitterten Arbeitskampf. Die Seeleute wollen bessere Arbeitsbedingungen erstreiken, und die Sozialisten werden in einer Stunde im Gemeinschaftsraum der Molkerei im Laugavegur 162 eine Versammlung abhalten. Sigvaldi stößt so heftig in Helga hinein, dass der Tisch dabei fast zu Bruch geht. Es ist ein einfacher, aber solider Tisch, den er selbst gebaut hat, als sie vor zwei Jahren eingezogen sind.
Helga holt ihre großen Brüste heraus, prallvoll mit Milch, sie tastet nach seiner Hand und beißt hinein, beißt fest zu, und er beugt sich über sie und flüstert wieder und wieder etwas, das sie erst versteht, nachdem er es mindestens fünfmal wiederholt hat: Liebe dich liebe dich liebe dich liebe dich liebe dich. Das ist ungewöhnlich, denn eigentlich macht er nie solche Worte, es ist ihm einfach nicht gegeben, als wäre er zu scheu oder fürchtete sich vor ihnen; daher kommt es jetzt so überraschend, dass ihr Tränen in die Augen schießen, sie zieht seinen Kopf auf ihre Brüste herab und blickt dann zur Seite, damit er ihre Tränen nicht sieht, schaut aus dem Küchenfenster in den dunklen Abend, in die Welt draußen, in der jemand eine Rede einstudiert, die er in einer guten Stunde im Versammlungssaal der Molkerei halten will.
Es werden heftige Worte gegen die Regierung und den Kapitalismus fallen.
Sigvaldi, der es schafft, seine Hose und dann auch die Unterhose wegzustrampeln, ohne sich aus Helga zurückzuziehen, hatte eigentlich vor, zu der Versammlung zu gehen, doch so engagiert, wie er in dieser Sache, dem Streik, und dem Kampf gegen den Kapitalismus schon die ganze Zeit ist, kommt es darauf jetzt nicht im Geringsten an. Er packt Helga, hebt sie hoch und trägt sie ins Schlafzimmer. Sie schlingt ihre schlanken Beine um seine Taille. Beim Abschütteln der Hose hat Sigvaldi auch den Strumpf am rechten Fuß verloren, und nun beißt ihn der eiskalte Boden in die Fußsohle. Draußen herrscht strenger Frost, zwischen den Häusern hier in Reykjavík und überhaupt in der ganzen Welt, wo die Kälte zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten im Leben und im Denken von zigmillionen Menschen Frostschäden anrichtet. Sigvaldi legt Helga unterdessen so behutsam aufs Bett, als sei sie zerbrechlich, sein Glied rutscht aus ihr heraus, aber sie beeilt sich, es wieder einzuführen, und im Halbdunkel suchen ihre Lippen nach seinen, ihre Zungen schlingen sich umeinander, und Sigvaldi bewegt sich wieder in ihr, langsam, er will noch nicht gleich zum Höhepunkt kommen. Natürlich nicht. Natürlich will er nicht gleich kommen. Natürlich muss er sich langsam bewegen, um den Genuss länger auszukosten, denn das Leben des Menschen währt nicht sehr lange, tatsächlich ist es nicht viel länger als der Abstand zwischen Tag und Nacht. Deshalb sollten wir die Zeiten, in denen unser Leben vibriert, vollständig und bis zur Neige auskosten. In denen es tief wird und sogar von Glück erfüllt.
Nicht viel länger als das, was Nacht und Tag trennt.
Was im Übrigen sehr verwunderlich ist. Denn wenn wir uns etwas sehnlich wünschen, kann einem das Warten auf den nächsten Tag, die nächste Woche, den kommenden Monat unendlich lang erscheinen, als würde sich das Leben nur schleppend von der Stelle bewegen. Es ist ein Dinosaurier, der kaum einmal mit den Augen zwinkert.
Sigvaldi macht langsam. Er genießt es, in Helga zu sein, ihren Atem zu hören, wie sie keucht, wie sie stöhnt. Er genießt es, sein Glied langsam fast ganz aus ihr herauszuziehen und es dann ruhig wieder hineinzuschieben, zu spüren, wie sanft es in sie hineingleitet, und Helga seufzt. Helga, diese schöne, schöne, schöne Frau, die er liebt – warum, zum Teufel, sollte er sich beeilen?
Denn bald geschieht es. Kein Glaube, keine Religion kann es verhindern, die inbrünstigsten Gebete versagen – der Saurier zwinkert.
Und dreißig Jahre später reckt sich Sigvaldi mit dem Pinsel zu weit vor, er verliert auf der hohen Leiter das Gleichgewicht und schlägt Sekunden später auf dem harten Bürgersteig auf.
Warum muss das so schön sein – und dann klingelt das Telefon
Der Bürgersteig ist hart und kalt, doch da ist der Himmel, noch genauso sorglos und voller Sommer wie kurz zuvor. Es scheint ganz unerheblich zu sein, dass Sigvaldi hilflos auf dem Trottoir liegt, als sei er dem Himmel völlig egal, dabei sind sie mehr als sechs Jahrzehnte zusammen durchs Leben gegangen. Er könnte Sigvaldi wenigstens aufhelfen, denn das war ein tiefer Sturz, die Leiter reicht über das erste Stockwerk hinaus, wo Sigvaldi in strahlendem Sonnenschein die Fensterrahmen strich. Wie dumm...
| Erscheint lt. Verlag | 14.10.2019 |
|---|---|
| Übersetzer | Karl-Ludwig Wetzig |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | alternativer Literaturnobelpreis • Beziehungen • Familiengeschichte • Familiensaga • Generationenroman • Heranwachsen • Island • Isländische Bücher • Isländischer Literaturpreis • Island-Saga • Jugend • Kanon • Melancholie • Neuerscheinung 2019 • Nordische Literatur • Norwegen • Sechzigerjahre • Trauer • Verlust • Weltliteratur |
| ISBN-10 | 3-492-99509-8 / 3492995098 |
| ISBN-13 | 978-3-492-99509-2 / 9783492995092 |
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