Anonyme Briefe (eBook)
191 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
9783841217783 (ISBN)
Die Einwohner des kleinen englischen Ortes Cotton Abbas haben ein Problem: Immer mehr Neureiche zieht es in das florierende Dörfchen - und das gefällt bei Weitem nicht jedem. Bald nach ihrer Ankunft erhalten die Neuankömmlinge anonyme Briefe, prall gefüllt mit dunklen Geheimnissen und dreckiger Wäsche. Unter den Einwohnern wachsen Hass und Niedertracht. Anonyme Nachrichten sind eine Sache, doch bald schon stören noch ernsthaftere Ereignisse den Frieden in Cotton Abbas: ein Mord, ein Selbstmord und ein mysteriöses Verschwinden. Höchste Zeit, dass Gervase Fen, Literaturprofessor und Detektiv aus Leidenschaft, heranzitiert wird, um sich des Falles anzunehmen. Getarnt als geheimnisvoller Mr. Datchery beginnt er mit den Ermittlungen ...
Edmund Crispin, geboren 1921, war das Pseudonym des englischen Krimiautors und Komponisten Robert Bruce Montgomery. 1944 erschien der erste Band seiner Reihe um den Ermittler Gervase Fen, Professor für englische Literatur in Oxford. Crispins Kriminalromane zeichnen sich durch ihren humoristischen Stil, der bis ins Absurde reicht, und gleichzeitig einen hohen literarischen Anspruch aus. Er verstarb 1978. Alle neun Romane der Krimireihe um Gervase Fen sind bei Aufbau Digital verfügbar.
1
Am Nachmittag des 2. Juni, einem Freitag, machte sich ein Mr. Datchery, nachdem er seinen Wochenendkoffer mit der Bitte, ihn freundlicherweise bei einem Gasthaus namens »The Marlborough Head« abzusetzen, auf einen Bus verladen hatte, auf den Viermeilen-Marsch, der den Marktflecken Twelford von dem Dorf Cotten Abbas trennte.
Er war ein großer und drahtiger Mann zwischen Vierzig und Fünfzig, mit einem hageren, roten, glattrasierten Gesicht. Sein braunes Haar, das er vergeblich mit Wasser zu glätten versucht hatte, stand in widerspenstigen Strähnen um seinen Kopf. Sein Verhalten war wohlwollend und freundlich. Vom Rathaus in Twelford, wo der Bus ihn von seinem Koffer erlöst hatte, wanderte er durch die Hauptstraße nach Westen, und gegen drei Uhr hatte er die vor der Stadt gelegenen Häuser hinter sich gelassen und das offene Land erreicht.
An diesem Freitag war die Sonne regenverhangen aufgestiegen, aber bis zum Frühstück hatten sich die Wolken verzogen, und um die Mittagszeit waren alle Anzeichen für Regen verschwunden, und der Boden begann Wärme zu absorbieren und aufzuspeichern. Zu einem Obligato von Vogelgezwitscher marschierte Mr. Datchery unter dem strahlenden Himmel auf Cotten Abbas zu. Während er dahinmarschierte, sang er zum Missvergnügen aller Lebewesen fröhlich vor sich hin.
»Ich putze die Küche«, sang Mr. Datchery, »und du fegst die Treppe, und weiß fließt der Fluss, und hell blüht der Besen.« Und das Vieh auf den Weiden hob die Köpfe, als er vorbeiwanderte. Klagend muhte es zu seinem Lied.
Der Weg war ihm in Twelford ausführlich beschrieben worden. Da er aber überzeugt war, einen unfehlbaren Ortssinn zu besitzen, fühlte er sich bald versucht, Abkürzungen einzuschlagen, und nach drei Meilen stellte er zu seiner großen Verärgerung fest, dass er sich verlaufen hatte. So sehen wir ihn denn zunächst deutlich, wie er bei dieser Entdeckung missmutig an einer Kreuzung von vier Feldwegen stehenbleibt, ähnlich dem Pilger der Legende. Die Landschaft erstreckt sich flach und ohne besondere Merkmale nach allen Seiten. Ein alter hölzerner Wegweiser ist nicht mehr zu entziffern, und das einzig sichtbare Anzeichen geselligen Lebens ist ein sehr kleines schwarzes Kätzchen, das genau in der Mitte eines sehr großen grünen Feldes, völlig davon in Ansprach genommen ist, ein unsichtbares Etwas anzuschleichen.
Das Kätzchen ist indessen ein Hinweis darauf, dass irgendwo in der Nachbarschaft Menschen leben müssen; denn Katzen begeben sich, selbst wenn sie hinter Feldmäusen her sind, nur selten sehr weit von ihrer Behausung fort. Mr. Datchery schlug also willkürlich einen der vier Wege ein und schritt rüstig fürbass. Schließlich wurde seine Wahl, dadurch belohnt, dass er in Hörweite eines Durcheinanders von Lauten kam, die zwar nicht ohne weiteres zu identifizieren waren, zweifellos aber von Menschen stammten. Nachdem Mr. Datchery um eine Kurve gebogen war, stand er vor einem überraschenden und unwahrscheinlichen Anblick.
Als erstes sah er einen Fußballplatz vor sich; einen Fußballplatz, der unerklärlicherweise von der Menschheit weit entfernt mitten zwischen Weizenfeldern und Wiesen lag. Als nächstes bemerkte er eine kleine, aber offensichtlich neue Tribüne auf der anderen Seite des Spielfeldes. Und was er zuletzt entdeckte, waren etwa hundert Schuljungen, die auf die Tribüne hinaufkletterten und wieder herunter sprangen und dabei einen Lärm vollführten, als stürze ein Haus zusammen.
Dieser unwahrscheinliche Anblick ließ Mr. Datchery zunächst anhalten. Zweifellos war von Schuljungen zu erwarten, dass sie auf einer Tribüne herum sprangen, wenn eine aufregende Fußballschlacht im Gange war. Aber in diesem Fall befanden sich auf dem Platz überhaupt keine Spieler. Mit offenem Mund sah und hörte Mr. Datchery, wie die Jungen sprangen und tobten und schrien und pfiffen. Nachdem sich seine erste Verblüffung gelegt hatte, wurde er sich bewusst, dass nicht er allein dieses Bild bewunderte.
Nahe der einen Seite der Tribüne standen ein Mann und ein Mädchen, die sich gegenseitig anschrien. Nicht im Zorn oder im Ärger etwa, sondern weil der Lärm der tobenden Jungen jede andere Verständigung unmöglich machte. Der Mann war älter und ein Angehöriger der Schicht, die im Allgemeinen als die Klasse der Handwerker bezeichnet wird, das Mädchen war etwa sechzehn. Etwas weiter entfernt war links von ihnen ein junger Mann zu erkennen, der ziellos hinter den Torpfosten des leeren Fußballtors umherwandelte. Doch Mr. Datchery lenkte seine Schritte auf das Paar zu, denn er wusste aus Erfahrung, dass man sich bei einem weiblichen Wesen, wie jung es auch sei, immer darauf verlassen konnte, eine vernünftigere und genauere Auskunft zu bekommen, wie man irgendwohin gelangte, als von einem Mann.
»Eins – zwei – drei!« schrie ein kleiner Knirps. Auf das letzte Kommando hin stürmten zweihundert, in kräftige Schuhe gekleidete Füße unter ohrenbetäubendem Lärm auf die Planken der Tribüne, sodass sie wie unter dem Anprall eines Orkans schwankte.
»Ha«, sagte der ältere Mann selbstbewusst zu dem Mädchen, »das hält sie aus. Ja, das hält sie tatsächlich’ aus.« Es war offensichtlich, dass er für die Errichtung der Tribüne verantwortlich war.
Mr. Datchery wurde ohne Neugierde empfangen, als er zu ihnen trat. »Da haben Sie mal gute Arbeit, Sir«, sagte der ältere Mann selbstgefällig. »Fest wie ein Felsen steht sie. Diese Burschen haben den Nachmittag schulfrei bekommen, um festzustellen, ob sie sicher ist. Und wenn die sie nicht kaputt kriegen, kriegt das keiner fertig.«
»Wo bin ich hier?« schrie Mr. Datchery ihm zu, während der Angriff auf die Tribüne wiederholt wurde.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte der ältere Mann. »Sie finden weit und breit im ganzen Land keine bessere Arbeit als das da.«
»Ich will wissen, wo ich hier bin«, schrie Mr. Datchery gereizt.
»Teuer, Sir?« antwortete der ältere Mann. »Nicht ein bisschen. Ha, wenn Sie Phelps & Co. aus Twelford genommen hätten, hätte es das Doppelte gekostet.«
Mr. Datchery fixierte kühl das Mädchen, das in ein unkontrollierbares Gelächter ausgebrochen war.
»Sie alter Narr«, gellte er, »zum letzten Mal; wo bin ich hier?«
Der Funken Verständnis, der jetzt in den Augen des älteren Mannes aufleuchtete, wies darauf hin, dass er zum mindesten verstanden hatte, in welche Richtung Mr. Datchery zielte, aber er wurde durch das plötzliche bedrohliche Krachen von splitterndem Holz davon abgelenkt, dieser Entdeckung nachzugehen.
»He, ihr verdammten Bengels«, brüllte er, »passt doch auf, was ihr tut!«
»Fest wie ein Felsen«, meinte Mr. Datchery boshaft. Aber der ältere Mann war schon zu einer Strafexpedition davon gestürmt. »Gibt es hier denn niemand«, fragte Mr. Datchery verzweifelt, »der mir sagen kann, wo ich eigentlich bin?«
Der Lachanfall des Mädchens hatte sich inzwischen so ausgewachsen, dass sie nicht mehr stehen konnte, sondern auf dem Boden lag. Es war ein dünnes, langbeiniges Geschöpf, stellte Mr. Datchery fest, mit glattem, braunem Haar und Säureflecken an den Fingern. Ihr Kleid war zwar gut, aber ungepflegt und wurde nachlässig getragen. Trotz allem war sie hübsch in der Art eines Fohlens, und es erschien Mr. Datchery auch nicht unwahrscheinlich, dass sie intelligent war.
»Sie werden sich gleich erkälten«, sagte er. »Um Himmels willen, nehmen Sie sich zusammen, und sagen Sie mir, wie ich nach Cotten Abbas komme.«
»Cotten Abbas?« Das Mädchen setzte sich auf und antwortete atemlos unter einem nachträglichen Anfall von Gekicher: »Wo kommen Sie denn her?«
»Aus Twelford.«
»Wie haben Sie es dann fertiggebracht, hierher zu gelangen?«
»Was ist das hier?«
Das Mädchen brach erneut in Heiterkeit aus. »Ah«, stammelte sie krampfhaft, »so süß wie Nüsse ist der Wald hier. Sie finden keinen besseren, und wenn Sie von Landsend bis John o’Groats suchen.«
»Himmeldonnerwetter noch einmal«, sagte Mr. Datchery.
Das Mädchen wischte sich mit einem ziemlich schmuddeligen Taschentuch über die Augen.
»Lieber Himmel«, sagte sie mit erstickender Stimme, »Lachen macht mich so schwach … helfen Sie mir bitte auf. Es ist furchtbar.«
Mr. Datchery half ihr auf die Füße und wartete grimmig, während sie langsam ihr inneres Gleichgewicht wiedergewann.
»Es tut mir wirklich schrecklich leid«, sagte sie schließlich, »aber offen gesagt, ich habe in meinem Leben noch nichts so Komisches gehört … Was wollten Sie wissen? Ach ja, ich weiß schon … Nun, das ist hier eigentlich kein Ort, sondern nur ein Fußballplatz. Der nächste Ort ist Cotten.«
Mit äußerster Anstrengung unterdrückte sie ein letztes, aufflackerndes Kichern. »Ich will Ihnen was sagen. Ich gehe gleich selbst nach Cotten, dann können Sie mit mir kommen.«
»Ist es weit?«
»Nur zwei Meilen«, antwortete sie, zog ihren Rock zu Recht und klopfte mit der Hand Grashalme und Erde davon ab. »Wenn Sie es aber ganz schrecklich eilig haben, können Sie von hier zur...
| Erscheint lt. Verlag | 31.10.2019 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Professor Gervase Fen ermittelt | Professor Gervase Fen ermittelt |
| Übersetzer | E. Elwenspoek, W. W. Elwenspoek |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The Long Divorce |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 50er Jahre • Agatha Christie • Anonyme Briefe • Carola Dunn • Cosy Crime • Cosy Krimi • Detektiv • Dorf • Drohbriefe • Edmund Crispin • England • england krimi • Erpressung • Geheimnisse • Gervase Fen • Kleinstadt • P.G. Wodehouse • Professor • Skandale |
| ISBN-13 | 9783841217783 / 9783841217783 |
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