... vorm Tor der Leichenwagen (eBook)
184 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
9783841217776 (ISBN)
Gervase Fen, Literaturprofessor aus Oxford und Gelegenheitsdetektiv, arbeitet als Experte bei der Produktion eines Films über den großen Dichter Alexander Pope, als eine grauenvolle Nachricht das Filmstudio erschüttert: Die junge und aufstrebende Schauspielerin Gloria Scott stürzte sich von der Waterloo Bridge direkt in ihren Tod. Ein tragischer, wenn auch unverständlicher Selbstmord. So scheint es jedenfalls, bis herauskommt, dass Gloria Scott nicht ihr echter Name war. Erst kürzlich machte sich jemand daran, in ihrem Apartment alle Hinweise auf ihre wahre Identität verschwinden zu lassen. Als dann noch ein Kameramann vergiftet wird, ist Gervase Fens Interesse endgültig geweckt. Gemeinsam mit seinem alten Freund Inspektor Humbleby begibt er sich auf Spurensuche ...
Fesselnd, geistreich und humorvoll zugleich - Edmund Crispin ist ein Meister des klassischen britischen Detektivromans!
Edmund Crispin, geboren 1921, war das Pseudonym des englischen Krimiautors und Komponisten Robert Bruce Montgomery. 1944 erschien der erste Band seiner Reihe um den Ermittler Gervase Fen, Professor für englische Literatur in Oxford. Crispins Kriminalromane zeichnen sich durch ihren humoristischen Stil, der bis ins Absurde reicht, und gleichzeitig einen hohen literarischen Anspruch aus. Er verstarb 1978. Alle neun Romane der Krimireihe um Gervase Fen sind bei Aufbau Digital verfügbar.
ERSTES KAPITEL
1
Wenn man um den Piccadilly Circus einen Kreis schlägt mit einem Radius von achtzehn Meilen, findet man an seiner Peripherie verstreut die wichtigsten Filmateliers: Denham, Elstree und andere. Long Fulton liegt im Nordwesten. Wer von Oxford aus dorthin reisen will, tut gut daran, erst den Zug nach London zu nehmen und dann vom Londoner Marylebone-Bahnhof aus weiterzufahren. Die direkte Route quer durch das Land ist ebenso lang wie langweilig; sie ist mit viermaligem Umsteigen verbunden auf Bahnhöfen, die immer kleiner und älter werden, sodass der Reisende gewissermaßen eine Geschichte der Eisenbahn in Bildern in umgekehrter Richtung zu sehen bekommt. Am Ende erwartet ihn schließlich ein altersschwacher, zugiger Autobus. Es ist also ratsam, dieses Unternehmen gar nicht erst zu versuchen. Dass Gervase Fen sich darauf versteifte, es dennoch zu tun, kann erstens seinen angeborenen perversen Neigungen zugeschrieben werden und zweitens der Tatsache, dass der Frühling ihn gewöhnlich faul und schlaff machte; sich im Zwanzigmeilentempo durch die sprießende Märzlandschaft zu schlängeln, war deshalb eine Beschäftigung, die gut zu seiner Stimmung passte. Wenn er um sechs aufstand, konnte er bequem bis um zehn in Long Fulton sein – dem Zeitpunkt, zu dem die Drehbuchkonferenzen laut Ankündigung beginnen sollten. Und da sie in Wirklichkeit nie vor halb elf oder elf anfingen – das ist nun einmal so beim Film –, hatte er stets Gelegenheit, in der Kantine noch eine Tasse Kaffee zu trinken oder durch das Gewirr hinfällig wirkender Gebäude zu wandern, in denen die geistigen Kinder des Leiper-Konzerns von ungezügelter Kindheit bis hin zum Schnitt, zur Betitelung und zum Kopieren hochgepäppelt wurden, bevor sie ihre Premiere auf dieser oder jener Leinwand des Londoner Westends erlebten. Fen konnte diesen Produkten nie viel Geschmack abgewinnen; er brachte es einfach nicht fertig, britische Filme als unentbehrlich für ein menschenwürdiges Dasein zu betrachten, und maß daher seiner eigenen vorübergehenden Tätigkeit in den Ateliers nicht allzu viel Bedeutung bei: er fungierte als fachmännischer Berater in Fragen, die das Leben und das Werk des Dichters Alexander Pope berührten.
Bei seinem dritten Besuch in den Ateliers – an einem Tag gegen Ende März mit den schnell fliegenden Wolken und dem klaren Sonnenlicht der Tagundnachtgleiche – erfuhr er zum ersten Mal von der Existenz eines Mädchens, das sich Gloria Scott nannte.
Die Ateliers hatten das Dorf Long Fulton so gut wie vernichtet. Man hätte darüber eine Menge empörter Zuschriften in der Times lesen können, wäre diese Vernichtung ein Verlust gewesen, aber das mochte selbst bei bestem Willen niemand behaupten. Es stellte sich nämlich bald heraus, dass nur wenig zugunsten des Dorfes vor gebracht werden konnte. In architektonischer Hinsicht war es schlechthin unbedeutend, und das völlige Fehlen historischer oder literarischer Erinnerungen ließ selbst den unternehmungslustigsten und erschöpfendsten Reiseführer verstummen. Darüber hinaus steht fest, dass die Dorfbewohner selbst sich jedem Versuch widersetzt hätten, sie vor der Invasion des Leiper-Konzerns zu schützen, denn die Errichtung der Ateliers erlaubte ihnen nicht nur berauschende Blicke auf jene Götter, zu deren Anbetung sie sich zweimal wöchentlich im Regent-Kino in Gisford versammelten (unpersönliche und auswechselbare Götter übrigens, aber von immerwährendem Reiz) – sie ermöglichte es ihnen auch, durch allerlei Schliche räuberischen Profit aus der Invasion zu schlagen. So wurde Long Fulton durch die unwiderstehliche Mischung von Gold und Göttlichkeit verführt wie Danae – wenngleich es weniger schön war. Der Zustand der Sklaverei, der unausweichlich daraus folgte, war der Natur und den Instinkten der Dorfbewohner wunderbar angemessen. Solange sie sich selbst und ihren eigenen dürftigen Einfällen überlassen gewesen waren, hatten sie Long Fulton so sehr in Grund und Boden gewirtschaftet, dass es tatsächlich unterzugehen drohte. Daher waren sie nur zu froh, ihre Unabhängigkeit den Ateliers überantworten zu können, und wie ein einziger Mann hätten sie sich gegen jeden Plan erhoben, ihnen ihr Dorf zurückzuerstatten.
Man lebte in Long Fulton praktisch mitten in den Ateliers. Sie ragten drohend hinter der Kirche auf – ein weitläufiges Gewirr verschiedenartigster Gebäude, die an die Spielzeughäuser eines unordentlichen Riesenkindes erinnerten, das sie achtlos in die Ecke des Zimmers gefeuert hat. Nach der Straße zu gab es so etwas wie eine Fassade, aber der Versuch, den dahinterliegenden Gebäuden dadurch einen gewissen Zusammenhang zu verleihen, war so offensichtlich gescheitert, dass es ästhetisch weitaus befriedigender gewesen wäre, hätte man diesen Versuch gar nicht erst gemacht. Die Straße, für einen so starken Verkehr nicht gebaut, war ausgefahren; der Verputz der meisten Gebäude schrie nach Erneuerung; die Bombenschäden waren nicht ordnungsgemäß repariert, sondern nur notdürftig zurechtgeflickt (bis zum Schluss hatte der deutsche Geheimdienst zäh an der Ansicht festgehalten, die Ateliers seien eine Art Waffenfabrik). Die großen Aufnahmehallen schließlich, die einsam die übrigen Gebäude überragten, sahen aus, als wollten sie beim nächsten Windstoß zusammenstürzen. All dies hatte zweifellos wirtschaftliche Gründe (die Industrie windet sich ja ständig in irgendeiner finanziellen Krise); aber die allgemeine Unordnung des Ortes wurde noch betont durch das umliegende Gelände, das übersät war mit naturgetreu imitierten Flugzeugtrümmern, halbdemolierten Sperrholzhäuschen, riesigen blauen Rundhorizonten, geheimnisvollen Pyramiden aus Sand, kleinen Leuchttürmen und einem Durcheinander anderen Krams.
Auch das Innere vermittelte keinen besseren Eindruck. In den Wänden waren zickzackförmige Risse; der Putz rieselte von den Decken und ließ sich auf dem Haar des Besuchers nieder; alles war verstaubt und von zweifelhafter Sauberkeit; mindestens ein Drittel der zahllosen Telefonapparate, die die wichtigsten Einrichtungsgegenstände bildeten, war ständig gestört. Darüber hinaus war das ganze Gelände so unvernünftig und unübersichtlich angelegt, dass man glauben konnte, es befinde sich noch im Zustande des Urchaos. Es gab freilich ein paar feste Orientierungspunkte, zum Beispiel die Musikabteilung und die Drehbuchabteilung, aber der Rest schien nur aus unzähligen kahlen Zimmerchen zu bestehen, die einheitlich mit Stühlen, einem Tisch und dem unvermeidlichen Telefon ausgestattet waren und für offizielle und inoffizielle Beratungen benutzt wurden. Sie ließen sich nur durch ein surrealistisches System von einstelligen Zahlen und Buchstaben voneinander unterscheiden, und so war es ein beträchtliches Wagnis, ohne jegliche Hilfe einen bestimmten Raum zu suchen. Was den Ateliers vor allem fehlte, war ein Brennpunkt, etwa in Gestalt eines einzigen Haupteingangs. Tatsächlich gab es aber deren drei, die sich in nichts voneinander unterschieden, es sei denn darin, dass jeweils nur einer den Besucher an das Ziel seiner Wünsche brachte und die beiden anderen nicht. An keinem der drei gab es eine Auskunfts- oder Orientierungsmöglichkeit. Für den Fremden war dies alles einigermaßen verwirrend.
Aber Fremde kamen selten; aus naheliegenden Gründen ermutigte sie die Gesellschaft nicht zum Besuch des Geländes. Was aber die Angestellten von Mr. Leiper betraf, die in gewohnten Bahnen einer vertrauten Tätigkeit nachgingen, durfte man annehmen, dass sie sich allein zurechtfanden. Sie bildeten übrigens eine sehr bunte Gemeinschaft: unzählige Techniker, die ständig an einen nächsten Streik dachten; tadellos frisierte Stenotypistinnen von ebenso vollendeter Haltung wie die Heldinnen in den Romanen gewisser Autorinnen; Kameraleute und Ateliersekretärinnen; jüngere Regieassistenten; ältere glattrasierte Produzenten und leitende Angestellte in saloppen Anzügen; Schauspieler und Schauspielerinnen in ihrem Make-up; Statisten, die ihre Langeweile wie ein Kleidungsstück zur Schau trugen; Kantinenpersonal, Portiers und Boten. Ihrer gemeinsamen Arbeit war es zu danken, dass Wigan seine Portion Romantik bekam, West Hartlepool ein Stück mitreißendes Abenteuer, Birmingham und Aberystwyth einen Tropfen Balsam auf die Wunden, die das Leben schlägt. So konnten Jane und George, Sally und Dick händchenhaltend, den Kopf an die Schulter gelehnt, dank den Bemühungen des Ateliers für mindestens drei Stunden dem Krieg und den Kriegsgerächten, dem häuslichen Zank und der öffentlichen Zwietracht, der Langeweile, der Bosheit, dem Alltagseinerlei und dem Kampf ums Dasein entfliehen … Kurzum, Long Fulton war schon ein beachtlicher Quell dieser mächtigsten Religion unserer Tage. Aus diesem Grunde hätte man von den Dienern solcher Religion billigerweise ein gewisses Maß an Hybris erwarten dürfen. Aber die Leute vom Bau waren im Großen und Ganzen keineswegs überheblich oder eingebildet. Wie Gulliver unter den Riesen von Brobdingnag waren sie sich der Mängel und der schmutzigen Seiten der Einrichtung, der sie dienten, schmerzlich bewusst und wurden daher immer wieder überrascht, wenn nicht sogar abgestoßen von den Huldigungen, die diese Einrichtung unaufhörlich von ihren Millionen Anbetern verlangte. Nur selten stieg der Glanz eines »Filmjobs« jemandem in den Kopf – und wenn auch das Mädchen, das sich Gloria Scott nannte, an solchem Größenwahn gelitten haben mochte, so ließ sich das mit ihrer Jugend entschuldigen, und zudem war sie eine recht unbedeutende Person. Ihr Tod und seine schrecklichen Folgen erregten vielleicht gerade deshalb so großes Aufsehen, weil sie so unbedeutend war. Es war, als sei eine Bombe in...
| Erscheint lt. Verlag | 31.10.2019 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Professor Gervase Fen ermittelt | Professor Gervase Fen ermittelt |
| Übersetzer | Heinrich Benz |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Frequent Hearses |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 50er Jahre • Agatha Christie • Alexander Pope • Carola Dunn • Cosy Crime • Cosy Krimi • Edmund Crispin • England • england krimi • Film • Filmindustrie • Filmstudio • Gervase Fen • Identität • Krimiklassiker • London • Michael Innes • Nachkriegsfilm • Professor • Schauspielerin • Selbstmord • Star • Starlet |
| ISBN-13 | 9783841217776 / 9783841217776 |
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