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Schöner als überall (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
220 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76327-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schöner als überall -  Kristin Höller
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Es beginnt wie ein Roadmovie. Im gemieteten Transporter fahren Martin und sein bester Freund Noah über die Autobahn. Auf der Ladefläche der Speer der bronzenen Athene vom Münchner Königsplatz, Trophäe einer rauschhaften Sommernacht. Sechs Stunden später sind sie zurück an den Orten ihrer Kindheit: Die Spielstraßen, die Fenchelfelder, die Kiesgrube haben sie vor Jahren hinter sich gelassen. Auch Mugo ist zurück, die kluge, wütende Mugo, die immer vom Ausbruch aus der Provinz geträumt und Martin damit angesteckt hat. Sie wollte raus aus der Kleinstadt, aus dem Plattenbau mit Blick auf Einfamilienhäuser und Carports. Nun arbeitet sie an der Tankstelle am Ortseingang und will nichts mehr von Martin wissen. Sogar Noah wird ihm in der vertrauten Umgebung immer fremder. Auf sich allein gestellt, ist Martin gezwungen, das Verhältnis zur eigenen Herkunft zu überdenken.

Einfühlsam und mit Witz erzählt Kristin Höller in ihrem Romandebüt vom Erwachsenwerden: von der Verwundbarkeit, der Neugierde, der Liebe und der Wut, von großen Plänen und den Sackgassen, in denen sie oftmals enden. Sie erzählt von der Entschlossenheit der Mütter und dem Erwartungsdruck der Väter, vom Ende einer Freundschaft und der Schönheit von Regionalbahnhöfen. Existenziell, tröstlich, hinreißend.



Kristin Ho?ller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn. Sie studierte bis 2019 Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften. 2016 Finalistin des 24. Open Mike, 2017 Teilnehmerin der Autorenwerkstatt Prosa des LCB. 2018 Preisträgerin des Schweizer Literaturfestivals Literaare. Bis 2019 Mitveranstalterin von OstKap, der Dresdner Lesereihe für junge Literatur. Sie schreibt Hörspiele, Theaterstücke und Romane, für die sie mit mehreren Stipendien und Preisen ausgezeichnet wurde, u. a. mit dem Kranichsteiner Jugendliteraturstipendium 2019 für ihren Debütroman <em>Schöner als überall</em>. Kristin Höller ist Mitveranstalterin der queeren Lesereihe und Karaokeshow SMASH und lebt in Leipzig.

1


Unten vor der Tür steht ein Transporter. Der Speer muss weg, sagt Noah, er muss weg, steig ein, los, steig ein! Ich sage, gut, ist ja gut, wir machen das, entspann dich, und Noah rennt um das Auto herum und hastet hinters Lenkrad. Unsere Türen knallen zeitgleich, der Motor ist so laut in der Nacht, es ist noch ganz warm. Noah wendet, er blinkt, er gibt Gas, er atmet zu schnell. Ich weiß nicht was tun bei so viel Aufregung, und darum sage ich erst nichts, bis sich alles beruhigt hat, halbwegs. Die Straßen in der Stadt sind auch jetzt noch ganz voll, wir halten an vier Ampeln, bis wir raus sind. Noahs Finger umschließen den Schaltknüppel, als wäre er ein Schatz, eine Goldkugel, die er nie mehr aus der Hand geben darf.

Dann die Autobahn. Ich denke an den Speer im Laderaum, wie er da liegt hinter uns, lang und glänzend und mit der scharfen Kante vorne, an der sich Noah letzte Nacht die Hand blutig gerissen hat. Nicht schlimm, hat er gesagt, ich komm schon klar, aber das stimmt nicht. Noah kommt nicht klar, gerade und gestern Nacht nicht und eigentlich auch den ganzen langen Tag heute. Noah hat Flecken unter den Armen und eine fettglänzende Stirn, er sieht schlecht aus und ungewohnt. Dabei ist es gar nicht so tragisch, ich würde sogar behaupten, all das ist eine Überreaktion, eine einzige lächerliche Übertreibung, weil Noah langweilig geworden ist und er etwas Drama braucht. Weil eine Zeitlang so viel passiert ist in seinem Leben und nun eben nicht mehr, und damit muss man sich auch erst mal abfinden, und ich glaube nicht, dass er das schon getan hat, und darum vielleicht jetzt das hier.

Ich habe meine Jacke vergessen, sage ich, weil es stimmt. Ich hatte ja kaum Zeit zum Packen, als Noah angerufen hat um kurz vor elf und gesagt, das mit dem Speer müsse jetzt ganz schnell gehen und darum auch das Auto. Da habe ich nur das Nötigste genommen, also Handy, Geld, eine Packung NicNacs und sonst nichts, weil mir nie einfällt, was mir wichtig ist, wenn es darauf ankommt. Und so habe ich die Jacke vergessen, aber das macht nichts, denn es ist ja warm, und es wird warm bleiben die nächsten Stunden; es ist eine Sommernacht, schließlich.

Als wir auf die Autobahn auffahren, frage ich Noah, wo er hin will. Er sagt, dass ihm das egal ist, Hauptsache, niemand sieht diesen verdammten Speer je wieder, am besten irgendwo versenken, vergraben, verbrennen. Verbrennen geht nicht, sage ich, das ist ja Bronze, weißt du, der würde nur heiß werden. Ja, sagt er, das weiß ich auch, sagt er, war nur ein Scherz. Er sieht nicht aus, als sei ihm nach Scherzen, aber das ist nicht neu in letzter Zeit. Ich weiß noch, dass das anders war, früher, als wir Kinder waren und zusammen mit den Kaulquappen in den Pfützen gespielt haben, oder auch noch vor ein paar Monaten, als alles gut lief bei ihm und das Geld auf ihn einprasselte wie billige Bonbons bei Karnevalsumzügen, wie damals, wie dort, wo wir herkommen.

Noah weiß immer wohin, außer jetzt. Jetzt fährt er einfach drauflos, fährt auf der linken Spur und wartet, bis der Tank leer ist – der Tank ist noch ziemlich voll. Ich frage, ob nicht hundert Kilometer reichen, ich meine, hundert Kilometer, wer soll denn danach suchen, das ist doch letzten Endes auch nur Altmetall, wenn man es mal so sieht, oder?, aber Noah schüttelt nur den Kopf und sagt, er muss ganz, ganz sichergehen, denn wenn das rauskommt, dann ist er im Arsch, komplett im Arsch, also wirklich, hundert Prozent. Ich sage, ich weiß ja nicht, so schlimm wird es schon nicht … aber dann wird Noah richtig wild und brüllt, dass ich davon doch keine Ahnung habe und jetzt bitte einfach nur den Mund halten soll, und das tue ich, weil er womöglich recht hat und mein Kopf plötzlich so schwer wird, dass ich ihn anlehnen muss, unbedingt.

Ich schließe die Augen und denke an gestern Nacht. Ich denke an die Party, ich denke an die Gratislongdrinks und an das Fischgrätparkett. Fischgrätparkett ist teuer, aber Fischgrätparkett in München, das ist quasi wie ein Diamantencollier, auf dem man jeden Tag herumspaziert, also einfach ehrlich unbezahlbar. Ich denke an die schlichten, schicken Stehleuchten und die schicken Frauen darunter und an das Prickeln in den Gläsern, die sie mit ihren langgliedrigen Fingern umschlingen.

Ich kenne solche Leute nicht, aber Noah kennt sie, seit der Rolle vor zwei Jahren, seiner allerersten. Am Anfang hatte er nichts, nur einen unterschriebenen Vertrag, und dann kam der Film in die Kinos, kein guter Film, lustig zwar, aber mit zu viel Plastik und Verwechslungen und Menschen, die rückwärts in Swimmingpools fallen. Es ist aber so, dass das ziemlich vielen Menschen gefällt, mir nicht, und Noah eigentlich auch nicht, aber dafür so etwa 5,4 Millionen anderen oder noch mehr, die dafür in den Kinos waren, und auf einmal war Noah berühmt.

Das war neu für ihn, aber überrascht war er nicht, denn er hatte es heimlich immer gewusst; er, seine Eltern, die ganze Reihenhaussiedlung zu Hause, alle haben es gewusst, seit er klein war. Und alle haben gewusst, das ist es, als sein Vater ihn in das Casting geschleust hat, jetzt ist es so weit. Dann kamen die Auftritte im Frühstücksfernsehen und die roten Teppiche, die eigentlich nur aussehen wie Badvorleger, wenn man nah genug dran ist, dann kamen die Partys und die schönen Mädchen, und dann kam erst mal nichts mehr.

Er ist zwar immer noch oft eingeladen, und ich komme immer noch mit. Nur haben die Wohnungen keine Dachterrassen mehr und keine automatischen Eiswürfelspender, und manchmal gibt es auch nur Bier und Wein und keinen Schnaps. Er hat auch immer noch Geld, auf dem Konto und auf einem zweiten und ein paar Scheine in dem kleinen roten Spielzeugferrari auf der Fensterbank, wie früher, nur dass jetzt eben kein neues nachkommt. Dass er damit erst mal auskommen muss, auskommen, sagt er und schnaubt aus dem Hinterhals heraus, ein bisschen haushalten, was zurücklegen. Oder eben Werbung für Joghurt machen, die haben ihn angefragt, vor zwei Wochen, für einen TV-Spot, aber Noah wollte nicht. Nein, hat er gesagt, dass es so weit, also, sicher nicht, eher …

Jetzt geht er weiter auf Partys, und ich auch, denn ich bin immer dabei. Es sind jetzt nur noch Stellvertreter und Assistenten, die ihn einladen, immer noch gute Leute, immer noch alles ganz toll glänzend und angestrahlt, aber eben nicht mehr so wichtig wie am Anfang, als er neu war und ganz und gar unbeschrieben, vor ein, zwei Jahren und noch vor ein paar Monaten. So ist das eben, sage ich zu ihm, obwohl ich doch eigentlich auch nicht weiß, wie es ist, und vor allem nicht, wie es sein soll. Und dann war da dieses Gespräch letzte Woche und irgendein Produzent, der zu ihm gesagt hat, ja, danke, aber sein Gesicht, das sei einfach zu verbraucht, da müsste man immer denken an …

Und gestern Abend stand er da im Sommerhemd, die aufgekrempelten Ärmel hochgeschoben, dass die Armhaare abstanden, ein bisschen, und dachte an früher und wurde ganz unglücklich. Ich sehe das an seinem Kopf, was er denkt, wirklich, ich muss nur von außen draufblicken und weiß, was drin passiert. Martin, sagt er dann immer und zwinkert mit den Augen wie ein Kind, Martin, schau mich nicht so an, ich will das für mich behalten. Ich würde es ihm gern lassen, ich würde ihm gern lassen, was er denkt, aber er ist so schrecklich leicht zu durchschauen, leider. Und wie er da so stand, mit seinem Glas Wein in der Hand, die dritte Person in einem Zweiergespräch, eingeklinkt, abseits, da hab ich gesehen, dass er wieder fürchtet, das könnte es schon gewesen sein, für immer, für ewig gewesen sein, und eine Angst überkam ihn und gleichzeitig eine Wut, dass man sich auf etwas einstellen konnte. Ich hab ihm dann gesagt, dass jeder diese Angst hat, jeder hier, auch ich, vor allem ich, und bei mir ist noch nicht mal etwas passiert, und darum dürfte ich in dieser Rechnung ja wohl richtig Angst haben und nicht er, aber das hört er nicht in solchen Momenten.

Er macht dann immer etwas Unüberlegtes. Gestern Abend hat er Wein getrunken, ein paar Gläser und dann noch ein paar, obwohl er gar keinen Rotwein mag, ich weiß das. Ich weiß,...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2019
Reihe/Serie suhrkamp nova
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alleinerziehend • Armut • Bürgertum • Deutschland • Einsamkeit • Eltern • Emanzipation • Familie • Freiheit • Freundschaft • Gender • Geschlechter • Gesellschaft • Heranwachsen • Jugend • Kindheit • Klassenunterschied • Liebe • München • Prekariat • Provinz • Psychologie • Roadtrip • Sommer • ST 4995 • ST4995 • suhrkamp taschenbuch 4995
ISBN-10 3-518-76327-X / 351876327X
ISBN-13 978-3-518-76327-8 / 9783518763278
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