Die Söhne (eBook)
558 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1871-1 (ISBN)
Den zweiten Band seiner herausragenden Romantrilogie 'Verwandte und Bekannte', um die Geschicke einer Hamburger Arbeiterfamilie über drei Generationen, schrieb Willi Bredel 1943. Fünf Jahre später wurde er schließlich veröffentlicht. Während in Europa der Erste Weltkrieg tobt, sucht Carl Brentens Sohn Walter, wie viele seiner Generation, nach Wegen, in dieser Zeit größter Inhumanität seine humanistische und fortschrittliche Sicht auf die Welt nicht gänzlich zu verlieren. Walter ist Auszubildender zum Metalldreher und engagiert sich in der sozialistischen Arbeiterjugend. Bald schon wird er zu einem ihrer führenden Köpfe und vertritt die Sache der Arbeiter in der Revolution von 1918/19 auch kämpferisch. Revolutionen schaffen Gewinner und Verlierer und die Familie Brenten scheint zunächst zu Ersteren zu gehören. Doch schon bald zeigt sich, dass Arbeiter auch in der neuen Weimarer Republik kaum Vorteile haben. Auch Walter und seine Familie verarmen zunehmend. Bei einer Aktion zur Demokratisierung der Hamburger Polizei wird er verhaftet und verurteilt und erfährt 1924, noch im Gefängnis, von der Geburt seines Sohns Viktor ...
In Walter Brenten lassen sich starke autobiographische Züge des Autors finden. Zugleich wird an seinem Lebensweg die frühe Entwicklung der KPD aufgezeigt.
Willi Bredel, geboren 1901, war ein deutscher Schriftsteller und gehörte zu den Pionieren der sozialistisch-realistischen Literatur. Als Sohn eines Hamburger Zigarrenmachers lernte er zunächst Dreher und engagierte sich außerdem in der Sozialistischen Arbeiterjugend sowie im Spartakusbund. 1919 trat er in die KPD ein. Während der Weimarer Republik wurde er politisch verfolgt und mehrfach verurteilt. 1933 ging er ins Exil u. a. nach Paris und Moskau und diente von 1937 bis 1939 als Kommissar in einer 'Internationalen Brigade' im Spanischen Bürgerkrieg. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil engagierte er sich als Kulturpolitiker beim Aufbau der DDR und wurde später Präsident der Akademie der Künste der DDR. Bredel verstarb 1964 an einem Herzinfarkt in Ost-Berlin. Bei Aufbau Digital ist seine herausragende Romantrilogie 'Verwandte und Bekannte' mit den Bänden 'Die Väter' (1941), 'Die Söhne' (1949) und 'Die Enkel' (1953) verfügbar.
Zweites Kapitel
I
Walter hatte das peinigende Gefühl, ein Unrecht, eine große Dummheit begangen zu haben. Ihn quälte die Vorstellung, Greta stehe noch immer dort, wo er sie verlassen hatte, und könne nicht begreifen, warum er davongelaufen war. Es pochte in ihm: Kehr um! Kehr um! Gegen seinen Willen rannte er dennoch weiter. Ich habe auch meinen Stolz, redete er sich ein. Sie ist dumm und versteht mich nicht. Hatte Trudel sich nicht wie eine richtige Tunte benommen? Irgendeine seiner Tanten hätte nicht anders gesprochen. Greta aber hielt zu ihrer Schwester. Während er so die in ihm glimmende Empörung immer aufs neue schürte, raunte ihm eine andere Stimme unausgesetzt mit quälender Beharrlichkeit zu: Immer schäumst du gleich über, vergießt und vergeudest das Beste …
Am Dammtor zögerte er: entweder die Ringstraße hinauf und geradewegs nach Haus oder – oder durch den Valentinskamp. Er bog nach dem Valentinskamp ab. Doch erneut und tückischer als zuvor rumorten in ihm Reue und Trotz. Willst du etwa nachgeben, wo du doch im Recht bist? Vor einem Mädchen willst du dich klein machen? Womöglich ist Gertrud oben und beginnt wieder zu schulmeistern. Nee, die wollte er heute nicht mehr vor Augen haben, die nicht. Das gab schließlich den Ausschlag; er ging an der Schuhmacherwerkstatt von Wilhelm Boomgaarden vorbei, ohne auch nur einen Seitenblick hineinzuwerfen. Höhnisch wiederholte er im Vorbeigehen: »Der Partei keine Unannehmlichkeiten bereiten! Ach, du meine Güte! Das war offenbar gleichbedeutend mit Majestätsbeleidigung! Nur keine Unannehmlichkeiten! Man bloß nicht! Der Schutzmann muss zu allem, was man tat, ja sagen und ein freundliches Gesicht machen. Sozialisten sind das! Allmächtiger!«
Es tat wohl, unter solchen Spottreden dahinzuschreiten. Die Brust weitete sich, dass man Kraft verspürte, auf alles zu pfeifen, sich allem entgegenzustellen. Man bekam sogar so etwas wie Hochachtung vor sich selber.
Am Ende der Straße, kurz vor dem Holstenplatz, gewannen indessen die Geister des heulenden Elends wieder die Oberhand. Sein schlechtes Gewissen zwickte und zerrte ihn. Was sollte er eigentlich zu Hause? Wie – wenn er in die Wexstraße, ins Kino ginge? Dort gab's einen neuen Film mit Buffalo Bill. Zwar war so etwas anzusehen genauso verwerflich wie das Lesen von Nick-Carter- oder Lord-Percy-Stuart-Heften, aber egal, der Sonntag war sowieso verdorben. Noch besser freilich wäre, mit der Ringbahn nach der Reeperbahn zu fahren und dort zu bummeln. Glatt mal aus den gewohnten Pantinen kippen. Was lag schon dran? Und besonders heute?
Dann kam stumme Resignation über ihn, mit kniefreien Strümpfen, Jesuslatschen und kurzen Hosen konnte man schlecht einen Reeperbahnbummel machen. Auch in der Wexstraße konnte einem blühen, dass der Portier sagte: »Für Kinder Zutritt verboten!«
Dann also doch nach Hause …
II
Und zu Hause – Tantenbesuch. Auch das noch. Dieser vermaledeite Sonntag brachte nur Pech. Tante Cäcilie, die muntere, redselige, und Tante Hermine, die despotische mit dem dicken Hintern waren gekommen, mit ihnen Onkel Ludwig, still, bleich und so dürr wie eine lebendig gewordene Rippe seiner Ehehälfte.
Schon der Empfang der Mutter an der Tür. »Mein Gott, wo stromerst du denn den lieben langen Sonntag umher?«
»Fang du auch noch an, bin gerade in der richtigen Stimmung.«
»Hu–uch, der Herr hat schon Stimmungen! So was! Ist dir 'ne Laus über die Leber gelaufen? Setz mal 'n Sonntagsgesicht auf und sag drinnen guten Tag.«
Walter fand seine Mutter ungewöhnlich gut aufgelegt.
»Freust dich wohl über den Besuch, was? Schade, dass Vater nicht hier ist.«
»Halt den Mund, Bengel!« zischelte Mutter Frieda. »Geh rein und benimm dich manierlich.«
Ja, so sind Frauen! Kein Gedächtnis, keinen Sinn für Würde! Was hat diese Hermine ihr nicht alles angetan? Wie hat die sie getriezt. Und nicht nur das, sogar öffentlich gekränkt und geschmäht. Aber nun hocken sie wieder beisammen und tun schön. Als wenn's keine anderen Menschen gäbe als dergleichen Verwandtschaften. Herrgott, sind die Alten sonderbar, was für Narren sie sind … Sich das Leben selber so zu verleiden und zu erschweren …
»Na also, da ist er ja!« tönte es Walter entgegen, als hätten beide Tanten nur auf ihn gewartet. Groll im Innern, Groll im Gesicht, gab er rundum die Hand, sagte »Guten Tag«, »Nee, nee« und »Ja, ja«.
»Groß ist er geworden«, fand Tante Cäcilie, die fast einen halben Kopf kleiner und zart und zierlich war wie ein Porzellanfigürchen.
»Sind die Hosen nüch 'n büschen kurz?« ließ sich nach kritischer Würdigung Tante Hermine vernehmen.
»Jaja«, beeilte sich Onkel Ludwig, ihr beizustimmen, »bis an die Knie müssten sie mindestens reichen.«
»Mindestens! Mindestens!« ereiferte sich Hermine. »Und die Haare, wirklich, Frieda, die Haare sind viel zu lang.«
»Sprichst du von meinen Haaren?« fragte Walter.
»Ja, natürlich!«
»Hochverehrte Tante Hermine, würde dich vielleicht interessieren zu hören, was mir an dir missfällt?«
Hermine Hardekopf verstummte und sah mit hilflosen Kuhaugen von dem Jungen zu dessen Mutter, dann auf ihren Mann, als erwarte sie, dass jemand von ihnen rettend eingreifen werde.
Frieda, verlegen: »Ich hab ja gesagt, schlecht gelaunt ist der Herr heute.« Und zu Walter: »Schäm dich!«
»Man soll mich gefälligst in Ruh lassen«, brummte der Junge, erhob sich und verließ das Zimmer.
»Findest du nicht auch, Frieda, dass sein Betragen recht rüpelhaft ist?«
»Jaja, Hermine. Außerdem – auch darin hast du recht –, ich finde kurze Hosen abscheulich!«
»Überall ist es so. Der Vater fehlt. Das wird nach dem Krieg ein ernstes Problem werden, die Erziehung der Verwahrlosten.«
Frieda wandte sich verzweifelt an Cäcilie. »Meinst du nicht auch, sehen lange Hosen nicht viel männlicher aus? Aber er lässt sich ja nichts sagen!«
»Lass ihn nur«, meinte Onkel Ludwig nachsichtig, »lass ihm die kurzen, solange er daran Gefallen findet; die langen zieht er noch früh genug an.«
Als das Interesse an Walter erloschen war, drehte sich das Gespräch wieder um Gustav Stürcks Nierenleiden und Rudolf Haberlands, Hermines Schwager, schwere Kriegsverletzung. Beide Beine waren ihm amputiert worden. Hermine betonte mit Nachdruck: »Aber das Eiserne Kreuz erster Klasse hat er bekommen. Immerhin!« Dann wurde das Gespräch gedämpft fortgeführt, mit Rücksicht auf den Jungen, der womöglich nebenan horchte, denn Anni Bockelmann, die Nachbarstochter, wurde durchgehechelt, die, obwohl noch nicht mal verlobt, demnächst etwas erwartete. Tante Hermine sagte: »Es wird nach dem Krieg eins der schwersten Probleme sein, den Menschen wieder Moral beizubringen.«
Gegen zehn Uhr ging der Besuch. Die Freude bei Mutter und Sohn war gleich groß.
»Warum ladest du sie immer wieder ein?«
»Ich kann sie doch nicht rausschmeißen!«
»Warum nicht? Einfach ehrlich sagen, sie soll'n dich nicht wieder mit ihrem Besuch beehren.«
»Red nicht solchen Unsinn. Ludwig ist mein Bruder.«
»Onkel Ludwig, ja. Tante Cäcilie meinetwegen auch. Aber die Dicke doch nicht, die dich früher so gepiesackt hat.«
»Ach, das verstehst du nicht. Nun Schluss damit. Sie sind fort, und so bald werden sie hoffentlich nicht wiederkommen.«
Frieda Brenten war heute so lebhaft und so gut gelaunt, wie ihr Sohn sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie scherzte und lachte, machte ausgelassene Bemerkungen über das »Wollknäuel Hermine« und den »Wollfaden Ludwig«. Die beiden waren erst zu Cäcilie gegangen und hatten sich einfach angehängt, allein hatten sie sich nicht zu Frieda getraut.
»Weißt du was, Junge, morgen machst du einfach blau. Ist schließlich dein Geburtstag. Irgendeine Ausrede werden wir schon finden.«
»Prima! Machen wir, Mutter!«
Walter war begeistert von diesem Vorschlag. »Weißt du, ich hätt sonst noch eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, denn ich hab eine Anzeige zur ›Echo‹-Druckerei zu tragen, die morgen nachmittag in der Zeitung stehen muss. Nun, dann kann ich ja in Ruhe ausschlafen. Einfach prima!«
III
Am Morgen stand, wie insgeheim zuversichtlich erwartet, ein Geburtstagskuchen mit sechzehn brennenden Kerzen an Walters Bett. Daneben lagen ein Paar Socken und ein Sporthemd mit Schillerkragen; ein Strauß Maiglöckchen duftete lieblich in einer kleinen Vase.
Aber auf dem großen Tisch lagen weitere Herrlichkeiten: ein wunderschönes Schachspiel neben einem Strauß Flieder. Ein Kärtchen steckte darin, von – Greta. Der Junge bekam brennende Wangen, teils vor freudiger Überraschung, teils aus Verlegenheit. Sie schrieb: »Ich drücke Dir kräftig die Hand, Du Wüterich. Greta.« … Das Geschenk hatte sie also noch gestern spätabends gebracht … Wüterich? Nein, Greta, das bin ich nicht, gewiss nicht, verteidigte er sich kleinlaut. Und da? Drei herrliche Bände mit Lederrücken: August Bebel »Aus meinem Leben«. »Glückwünsche zum sechzehnten Geburtstag. Gruppe Neustadt.« stand im ersten Band, und alle hatten ihren Namen hineingeschrieben. Na, das nenn ich mir ein Geschenk. Da stand noch ein Strauß Feldblumen – von Gertrud Boomgaarden. Alle hatten an ihn gedacht. Wie schön, viele gute Menschen zu Freunden zu haben.
»Guten Morgen, mein Junge! Herzlichen Glückwunsch! Freust...
| Erscheint lt. Verlag | 12.7.2019 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Verwandte und Bekannte |
| Verwandte und Bekannte | Verwandte und Bekannte |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 1. Weltkrieg • 20er Jahre • Arbeiteraufstand • Arbeiterbewegung • Arbeiterfamilie • Erster Weltkrieg • Familie • Familiengeschichte • Hamburg • Inflation • Jugend • Jugendbewegung • Kapp-Putsch • KPD • Revolution 1918/19 • Sozialdemokratie • Sozialismus • Sozialistische Jugendbewegung • Sozialistische Literatur • Sozialistischer Realismus • Verarmung • Verwandte und Bekannte • Weimarer Republik • Willi Bredel |
| ISBN-10 | 3-8412-1871-7 / 3841218717 |
| ISBN-13 | 978-3-8412-1871-1 / 9783841218711 |
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