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Die Frau in der Themse (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 3. Auflage
928 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60990-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frau in der Themse -  Steven Price
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Charlotte Reckitt ist schön, stolz und gesetzlos. Ihre Coups sind phänomenal, ihre Erfolge beachtlich. Und sie ist eine Schlüsselfigur im Leben zweier Männer: William Pinkerton, berühmt-berüchtigter Detektiv, und Adam Foole, Gentleman-Dieb mit Witz und Chuzpe. Für den einen war sie einst die Erfüllung all seiner Träume, für den anderen ist sie die letzte Spur einer lebenslangen Besessenheit. Eine atemlose Jagd beginnt.

Steven Price, geboren 1976 in Victoria, British Columbia, ist ein kanadischer Lyriker und Autor. Seine Veröffentlichungen wurden mehrfach ausgezeichnet. Bisher erschienen zwei Romane von ihm bei Diogenes. Er ist Dozent für Poesie und Literatur und lebt mit seiner Familie in Victoria.

Steven Price, geboren 1976 in Victoria, British Columbia, ist ein kanadischer Lyriker und Autor. Seine Veröffentlichungen wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein Roman ›Die Frau in der Themse‹ erschien 2019 bei Diogenes. Er ist Dozent für Poesie und Literatur und lebt mit seiner Familie in Victoria.

TEIL I Die Frau in der Themse


Eins


WILLIAM PINKERTON

LONDON 1885

Er war der älteste Sohn.

Er trug seinen schwarzen Schnauzbart lang wie ein Gesetzloser, sein rechter Daumen steckte dort im Gürtel, wo ein Colt Navy hätte sein sollen. Er war keine vierzig, und doch wurde sein linkes Knie bei feuchtkaltem Wetter steif, einer explodierenden Konföderiertengranate am Antietam sei Dank. Er war sechzehn gewesen, und der Granatsplitter hatte aus seinem Knie geragt wie ein überzähliger Knochen, während die Erde um ihn herum spritzte und stob. Seitdem war er zweimal für ermordet gehalten worden und zweimal über seine vermeintlichen Mörder gekommen wie ein Rachegeist. Er hatte dreiundzwanzig Männer und einen Jungen erschossen, allesamt Gesetzlose, und nur der Tod des Jungen verfolgte ihn nicht. Er betrat Banken mit gesenktem Kopf und zusammengezogenen Augenbrauen, die bedrohlich großen Hände leer, Pranken, zum Würgen bereit. Wenn er auf eine volle Pferdebahn aufsprang, wichen Männer instinktiv zurück, Frauen verfolgten ihn mit Blicken, die Hauben gesenkt. Er war seit fünf Jahren nie länger als einen Monat am Stück zu Hause gewesen, obwohl er seine Frau und seine Töchter liebte, sie mit der Angst des starken Mannes vor Zerbrechlichem liebte. Er hatte lange gelbe Zähne, ein breites Gesicht, eingesunkene Augen und Pupillen so dunkel wie die Schlingen seiner Eingeweide.

So weit, so gut.

Er verabscheute London. Das Kopfsteinpflaster war dreckig, selbst für einen Mann, dessen Geschäft der Dreck war, der den Sattel einem Bett vorzog und die ganze Nacht mit gezogenem Colt auf dem Abort eines Bordells hockte, bis der richtige Arsch hereintorkelte. Hier hatte er seit einem Monat nichts Grünes zu Gesicht bekommen, das nicht entweder Stechpalme oder irgendein anderer Zweig war, den man aus einer Landschaft herangekarrt hatte, die er sich nicht einmal vorstellen konnte. Zu Weihnachten hatte er beobachtet, wie sich die Armen auf einen Mann stürzten, ein Knäuel aus Lumpen und Gier; zu Neujahr hatte er gesehen, wie eine Dame ein Brunnenkressemädchen mit dem Fuß vom Trittbrett einer Kutsche stieß und sodann darüber fluchte, dass das Blut des Kindes ihre Schnürsenkel befleckte. Fäulnis fraß sich durch London, ein Elend, das älter und ärger war als alles, was er aus Chicago kannte.

Er war nicht das Gesetz. Dennoch. In Amerika gab es keinen Dieb, der ihn nicht fürchtete. Er selbst fürchtete keinen Lebenden und nur einen Toten, und das war sein Vater.

 

Es war bitterkalter Januar und jener Vater seit sechs Monaten begraben, als er sich schließlich nach Bermondsey hinab begab. Mit dem getrockneten Blut eines anderen Mannes an den Fingerknöcheln watete er durch den nächtlichen Nebel, seine eigenen Angelegenheiten in London waren beinahe erledigt. Jetzt suchte er nach einem Agenten seines Vaters, einem alten Freund.

Er war gekleidet wie ein Gentleman, obgleich er seine Handschuhe verloren hatte und seinen Spazierstock in der Faust trug wie einen Knüppel. Seine Manschette wies einen Fleck auf, der Ruß oder Erde hätte sein können, aber keines von beidem war. Als der Morgen anbrach, oder das, was in diesem elendigen Winter wohl als Morgen durchgehen musste, machte er halt in einer schmalen Gasse hinter Snow Fields, den Zylinder in der Hand, während der Frost im Gebälk der Ladenfronten knackte. Nebel ergoss sich faulig und gelb über das Kopfsteinpflaster, gesättigt von Kohlenrauch und einem beißenden Gestank, der die Nasenlöcher verklebte und im Rachen brannte. Dieser Nebel war überall, unentwegt, wehte durch die Straßen und waberte am Boden auseinander, ein lebendiges Wesen. In manchen Nächten zischte er leise, wie Dampf aus einem Ventil.

Vor sechs Wochen war er in diese Stadt gekommen, um eine Frau zu verhören, die gestern Abend nach einer langen Verfolgungsjagd auf der Blackfriars Bridge von der Balustrade gesprungen und im Fluss verschwunden war. Er erinnerte sich an die Dunkelheit, das schwarze Wasser, das schäumend über ihr zusammenschlug, das Klatschen der Polizistenstiefel auf dem Granitpflaster. Er spürte noch immer feucht und rauh die Brüstung an seinen Handgelenken.

Die Frau war vor dem Gesetz in dieser Stadt nicht auffällig geworden, als hätte sie sich dadurch ehrbar machen und von einem bewegten Leben freisprechen können, doch es hatte ebenso wenig geholfen wie alles andere. Sie hatte sich LeRoche genannt, in Wirklichkeit hieß sie jedoch Reckitt und war zehn Jahre zuvor Komplizin des berüchtigten Tresorknackers und Diebs Edward Shade gewesen. Shade war derjenige, hinter dem er eigentlich her war, und bis gestern Nacht war diese Reckitt seine einzige sichere Spur gewesen. Sie hatte kleine scharfe Zähne gehabt, lange weiße Finger und eine Stimme, die tief und teuflisch und betörend gewesen war.

Die Nacht schwand dahin, die Straßen füllten sich. In den oberen Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes schimmerte ein blasser Himmel, spiegelten sich die verschwommenen Silhouetten darunter, die vorbeiziehenden Umrisse der ersten Zugpferde vor ihren Wagen, die Schiebermützen der Stadtstreicher auf ihren Säcken, eingehüllt in dicke Wollschichten. Die eisenbeschlagenen Räder ratterten und quietschten in der Kälte. Er hustete, zündete sich eine Zigarre an und rauchte schweigend, die kleinen, tiefliegenden Augen wie die eines Meuchelmörders.

Nach einer Weile trat er die Zigarre aus, brachte seinen Hut mit einem Schlag in Form und setzte ihn auf. Er zog einen Revolver aus der Tasche, öffnete die Trommel mit einem Klicken, drehte sie und sah die Kammern durch, um etwas zu tun zu haben, und als er nicht mehr länger warten konnte, zog er eine Schulter hoch und ging über die Straße.

 

Wenn man ihn fragte, pflegte er zu sagen, er habe noch nie einen Gauner getroffen, der es nicht vorgezogen hätte, rechtschaffen zu sein. Es gebe keinen Gaukler, der nicht vor seinem eigenen Schatten zusammenzucke, sagte er. Dann fuhr er sich mit der Hand über das unrasierte Kinn und blickte grimmig auf gleich welchen Reporter herab, der gerade vor ihm stand, murmelte irgendeine undruckbare Gotteslästerung im Unterweltjargon, beugte sich vor und riss beiläufig die Seite aus dessen Notizblock. Fehlende Bildung führe geradewegs in die kriminelle Unterschicht und Recht und Gesetz ließen das Land im Stich, sagte er. Ein Mann sei immer mehr wert als ein Pferd, auch wenn man das nicht meinen sollte. Der schlauste Kerl, den er je getroffen habe, sei ein Gauner und das gutherzigste Weib eine Hure, denn auf der Welt gebe es solche und solche. Nur Schwachköpfe glaubten, die Dinge seien immer, wie sie scheinen.

 

Er ging nicht gleich hinein, sondern drückte sich stattdessen in eine Seitengasse. Hinter den mit Zeitungspapier beklebten Fenstern regte sich etwas, als er vorbeikam. Die Gasse war der reinste Schlammfluss, vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Durch die Lücken in den Holzwänden erspähte er die zusammengekauerten Umrisse von Kindern, bloß Haut und Knochen, halbnackt, der Atem hing bei der Kälte in Wolken vor ihren Mündern. Unerschrocken hielten sie seinem Blick stand. Der Nebel war hier weniger dicht, der Gestank hingegen noch übler und beißender. Er duckte sich unter einem Tor hindurch in eine schmale Passage, stieg eine schiefe hölzerne Treppe hinab und öffnete eine unscheinbare Tür zu seiner Linken.

In der plötzlichen Stille konnte er das Schwappen des Flusses hören, das von den Abflussrohren unter den Bodendielen verstärkt wurde. Die Wände knarzten wie der Bauch eines Schiffs.

In der Pension roch es nach altem Fleisch, nach nassem, verrottendem Holz. Die gestreifte Tapete starrte vor Ruß, den jeder Rußsammler für einen halben Shilling mit dem Messer abgekratzt hätte. Auf dem Weg nach oben gab er acht, das Geländer nicht zu berühren. Im zweiten Stock verließ er das unbeleuchtete Treppenhaus, zählte fünf Türen ab und blieb vor der sechsten stehen. Nun, da sie nicht mehr der Kälte ausgesetzt waren, hatten seine aufgesprungenen Fingerknöchel zu schmerzen begonnen. Er klopfte nicht, sondern drückte vorsichtig die Klinke und stellte fest, dass nicht abgeschlossen war. Ein Blick in die Richtung, aus der er gekommen war, dann öffnete er die Tür.

Mr Porter?, rief er.

Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren rauh, heiser, wie die Stimme eines wesentlich älteren Mannes.

Benjamin Porter? Hallo?

Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte er einen kleinen Schreibtisch ausmachen, eine Kommode und in einer Nische neben dem Fenster etwas, das wohl eine Spülküche sein sollte. In einem Winkel stand eine Pritsche, deren billige, mit Wollflocken gefüllte Matratze durchhing und an einer Ecke aufgeplatzt war. Der nackte Matratzenbezug war anscheinend schon geraume Zeit weder gewachst noch gereinigt worden. All das nahmen seine Augen mit der Macht der Gewohnheit wahr. Dann ächzte das Bett unter dem Gewicht von etwas, von jemandem, der in eine Decke gehüllt an der Wand lag.

Ben?

Wer ist denn da?

Die Stimme gehörte einer Frau. Sie drehte sich zu ihm um, eine grauhaarige Schwarze mit kurzgeschorenem Haar und runzligem, schrundigem Gesicht. Er kannte sie nicht. Doch dann blinzelte sie und reckte den Kopf, als wollte sie ihm über die Schulter schauen, und er entdeckte die lange, sichelförmige Narbe, die sich über Stirn und Wange zog.

Sally, sagte er leise.

Eine Ahnung flackerte in ihrem Blick auf, loderte dort eine Sekunde lang. Billy?

Vorsichtig trat er einen Schritt...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2019
Übersetzer Anna-Nina Kroll, Lisa Kögeböhn
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Abraham • Adam • Allan • Amerikanischer Bürgerkrieg • Benedict • Butch • Cassidy • Cassidy, Butch • Charles • Cumberbatch • Cumberbatch, Benedict • Diamant • Dickens • Dickens, Charles • FBI • gainsborough • Gainsborough, Thomas • Holmes • Holmes, Sherlock • Jack the Ripper • James • James, Jesse • Jesse • Lincoln • Lincoln, Abraham • Pinkerton • Pinkerton, Allan • Pinkerton, William • Private Eye • Scotland Yard • Secret Service • Sherlock • Spionage • Südafrika • sundance kid • Thomas • Thriller • Viktorianisches London • Whitechapel • Wilder Westen • William • Worth • Worth, Adam
ISBN-10 3-257-60990-6 / 3257609906
ISBN-13 978-3-257-60990-5 / 9783257609905
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