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Das letzte Dorf vor Amerika: Roman -  Hella Brehmer

Das letzte Dorf vor Amerika: Roman (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
239 Seiten
Schardt Verlag
978-3-96152-164-7 (ISBN)
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Es ist einer dieser heißen norddeutschen Sommer, als Hanne, inzwischen Mitte sechzig, aus Kanada in ihre Heimat an der Wesermündung reist, um den Geburtstag ihrer Jugendfreundin zu feiern – und um sich dem Ort ihrer Kindheit wieder anzunähern. Einem unbestimmten Gefühl folgend, möchte sie den Dingen auf den Grund gehen, möchte hinter die Fassaden schauen. Für die zehnjährige Hanne war das Dorf ein Kosmos voller Abenteuer, in dem das Butschern mit dem besten Freund, die Schulaufführung im Kasino und die lesend verbrachten Stunden hinterm Stubensessel alles bedeuteten. Es war aber auch eine Welt mit Geheimnissen und Tragödien – wie die verhängnisvolle Geschichte der schönen Isabella, die 1954 das Leben hinterm Deich erschütterte. Ein halbes Jahrhundert später schließt sich mit dem Fund ihrer Tagebücher für Hanne der Kreis...

För miene

Erikas un Rita

„Wir müssen das ganze Leben so sehen,

wie wir es als Kinder gesehen haben.“

 

Henri Matisse

ERSTER TAG - Sonnabend


 

Gleis 1. Sie musste schmunzeln. Es ist, wie es ist, wie es immer gewesen ist! Der Zug zurück in den Ort ihrer Kindheit sollte von dem Gleis abfahren, von dem er immer abgefahren ist. Im Sommer, früher, wenn sie mit der Großmutter nach dem Besuch bei der Tante zurückfuhr. Im Herbst, wenn sie mit der Mutter nach einem aufregenden Tag auf dem Bremer Freimarkt spätabends zurückfuhr. Unzählige Fahrten in späteren Jahren und die beiden letzten, um Eveline zu besuchen. Lange war das her, sehr lange.

Manches änderte sich eben doch nie. Nur die Art der Züge hatte sich über die Jahre oft geändert – unvergesslich, der wackelige mattrote Schienenbus und die Endstation. Schon vor Jahren hatte Eveline ihr berichtet, dass die Züge nicht mehr zum Bahnhof am Fähranleger fahren würden, jenes kleine Dorf an der Flussmündung, welches man einst Das letzte Dorf vor Amerika genannt hatte.

Als sie den Bahnsteig erreichte, sah sie erstaunt, dass die alte Regionalbahn bereits fahrbereit auf dem Gleis stand. Der gleiche klapprige Zug wie beim letzten Mal, einiges bleibt eben doch wie es ist, wie es immer gewesen ist.

Hanne stieg ein und setzte sich auf die mit dunkelrotem Kunststoff bezogene Sitzbank gleich neben der Tür ans Fenster. In erwartungsvoller Vorfreude entfaltete sie sorgfältig den Weser-Kurier, den sie unten in der Bahnhofshalle gekauft hatte, und begann zu lesen.

Lautes Stöhnen schreckte sie auf. Eine ältere Frau keuchte, dabei nach Luft ringend, bei dem Versuch, ihren kleinen Rollkoffer hinauf in den Waggon mit den hohen Stufen des Zugs zu hieven. Schnell legte Hanne ihre Zeitung zur Seite und half der Frau mit ihrem Koffer. Dankbar stellte diese ihn auf der anderen Seite des Gangs vors Fenster und setzte sich, völlig erschöpft, daneben. Allerdings nicht erschöpft genug, um sich nicht umgehend zu ihr zu drehen und mit lauter Stimme, ohne jegliche Umschweife, mit so typisch norddeutscher Direktheit, zu fragen: „Fah’n Sie auch nach Nordenham?“

Hanne bestätigte das mit einem knappen „Ja“. Sie wollte ihre Zeitung lesen, hatte keine Lust auf höflich belanglose Konversation.

„Da bin ich aber beruhigt, da fah’ ich nämlich auch hin. Vielleicht können Sie mir dann beim Aussteigen noch mal mit meinem Koffer helfen. Na ja, ich werde zwar abgeholt, und Nordenham ist Endstation, aber sicher ist sicher. In diesen alten Zügen ist das Ein- und Aussteigen ja nicht so einfach mit Gepäck. Ich bin ja auch schon sechsundachtzig. Im Dezember sollen wir ja endlich eine neue Bahn bekommen, eine von diesen privaten, mit den schicken bunten Zügen. Solche fah’n ja schon nach Hamburg.“

Hanne nickte kurz und schaute demonstrativ auf ihre Zeitung, und die Frau schwieg tatsächlich. Leider nicht sehr lange, dann drehte sie sich wieder zu ihr und fragte: „Wohn’ Sie in Nordenham?“

„Nein. Früher habe ich dort gewohnt, bin in Drewürden aufgewachsen. Jetzt fahre ich eine alte Freundin besuchen.“

Die Frau zupfte ihr T-Shirt mit dem glitzernden großen Schriftzug über ihre sportlich geschnittene, helle Hose, so als sei sie sich unschlüssig, ob sie das Gespräch fortsetzen sollte oder nicht. Offensichtlich hatte sie sich für Vorletzteres entschieden, denn lebhaft plauderte sie drauflos: „Ich bin ursprünglich aus Nordenham, wiss’n Sie, habe meine ganze Kindheit dort verbracht. Mein kleiner Bruder wohnt immer noch dort mit seiner Familie, im Haus meiner Eltern, am Mittelweg. Früher hab’n wir uns viel öfter gesehen, mein Bruder und ich, mein’ ich, als mein Mann noch lebte, wiss’n Sie. Da sind wir mit dem Auto hochgefah’n, mindestens einmal im Monat. Jetzt aber komm’ ich nich’ mehr so oft hin, das Zuchfah’n ist ja so anstrengend.“ Sie holte kurz Luft. „Obwohl, damals, gleich nach’m Krieg, als wir noch kein Auto hatten, also da war das man ja noch viel schlimmer. Immer dieses umständliche Umsteigen in Hude. Also ...“

„Ach ja, Hude“, unterbrach Hanne die Erzählwut, die offenbar nach wie vor Leute befiel, sobald sie in einem Zug saßen, dieser unerklärbare Zwang, wildfremden Mitreisenden detailliert ganze Lebensgeschichten zu erzählen. „Daran erinnere ich mich auch. Diese schwindelerregend hohe Eisenbrücke, die über die Gleise führte. Schrecklich. Mit Gepäck war das der reinste Horrortrip.“ Ihr grauste immer noch beim Gedanken an dieses eiserne Monstrum mit den gefährlich steilen Treppenstufen, Stufen, durch die man hindurchsehen konnte. Sie musste unwillkürlich an ihre Tante Fifi denken, die Mitte der dreißiger Jahre als blutjunge Braut nach Drewürden fuhr, jenen kleinen Ort, in den sie die Liebe verschlagen hatte. Auch sie musste in Hude umsteigen. Mit der ihr angeborenen panischen Angst vor Höhen weigerte sie sich jedoch, die hohe Eisenbrücke zu erklimmen, um auf den gegenüberliegenden Bahnsteig zu gelangen. Kurzentschlossen rannte sie stattdessen mit ungekanntem Wagemut, als sei eine Herde ausgebüxter Ochsen hinter ihr her, am vorderen flachen Ende des Bahnsteigs blitzschnell mit ihrem schweren Koffer über die Gleise. Froh, unversehrt und besonders unbemerkt den anderen Bahnsteig erreicht zu haben, stellte sie ihren Koffer ab, setzte sich erschöpft darauf und schnappte, noch völlig erregt, nach Luft. Dann erschrak sie, als sie sah, wie ein Bahnbeamter, Kelle in der Hand, langsam aber zielstrebig auf sie zukam. Näher und näher kam er, und sie dachte: Jetzt ist es aus, er kommt und wird dich verhaften. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Zu ihrer allergrößten Überraschung lächelte er sie jedoch freundlich an und fragte: „Na mien Deern, wohin geiht dat denn hüdde?“

Tante Fifi, verwirrt, gleichermaßen aber unheimlich erleichtert, würgte nur ein kurzes „nach Drewürden“ heraus, dabei allerdings herrlich beide Rs rollend. Niemand rollte die Rs so stark und so schön wie sie.

„Drewür’n?“, staunte der Bahnbeamte, rückte sich und seine Uniform in Positur und erklärte ihr nun in seinem besten Hochdeutsch: „Drewürden, da ist die große Zukunft!“ Er nickte dazu gewichtig, ganz der autoritäre Beamte, als wollte er ihr bestätigen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, ihrem Otto nach Drewürden zu folgen, denn in Drewürden war schließlich die große Zukunft.

Ihre Tante erzählte diese Geschichte liebend gern und wieder und wieder. Auch beim bevorstehenden Besuch würde sie ihr davon erzählen, davon war Hanne fest überzeugt, und einmal mehr würde sie so tun, als höre sie alles zum allerersten Mal.

Die große Zukunft waren zu jener Zeit die Flugzeugwerke, die Menschen aus allen Teilen Deutschlands angelockt hatten, wie zuvor um die Jahrhundertwende die Schiffswerft. Die hatte ihre Urgroßväter in den kleinen Ort an der Flussmündung verpflanzt. Mit seiner Frau und fünf Kindern war der Urgroßvater mütterlicherseits aus dem nahen Bremen nach Drewürden ausgewandert. Der andere war mit Frau und zwei Kindern aus Stettin in seine friesische Heimat zurückgekehrt. Tante Fifis große Zukunft war Drewürden sicherlich nicht geworden. Hatte sie ihre Entscheidung je bereut? Erwähnt wurde es von ihr nicht, es war nie Bestandteil ihrer Erzählung. Was hatte sie für ein Leben gehabt ...

„Wohn’ Sie denn auch in Bremen?“, riss die Frau sie aus ihren Gedanken.

„Nein, ich wohne in Kanada.“

„Kanada?“, wiederholte die Frau ungläubig. „Sie kommen direkt aus Kanada?“

„Nein, ich komme jetzt aus Berlin, bin schon seit einer Woche in Deutschland.“ Danach blieb die Frau still, für eine lange Zeit. Nur wenige Leute waren zugestiegen, sicher nicht ungewöhnlich für einen späten Vormittag und diesen bedeutenden Sonnabend der Fußball WM in Südafrika, im Viertelfinale spielte Argentinien gegen Deutschland.

Geräuschvoll schlossen die Türen, und gemächlich ratterte der alte Zug los. Aus der düsteren Bahnhofshalle fuhr er hinaus in eine wie es schien noch halb verschlafene Stadt, die allerdings bunt geschmückt war mit schwarz-rot-goldenen Fahnen, Fähnchen und Wimpeln, die von Balkonen und an Fenstern hingen, von Autos flatterten oder auf Abziehbildern auf allen möglichen Sachen klebten. König Fußball regierte das ganze Land, Hanne hatte dieses Phänomen und die Euphorie schon in Berlin bestaunt. Dann schwenkte der Zug in einem großen Bogen über die Weserbrücke hinaus in die größeren Orte im Bremer Umland und kurz darauf ins platte Marschenland links des Flusses.

Hatte sich etwas verändert seit ihrem letzten Besuch vor über zwanzig Jahren? Die unzähligen kleinen Bahnhöfe waren schon damals fast alle verfallen. Einige waren zu Wohnhäusern umfunktioniert worden, erkennbar an den gestärkten weißen Gardinen in den übergroßen Fenstern. Überall leuchteten blau-graue...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-96152-164-6 / 3961521646
ISBN-13 978-3-96152-164-7 / 9783961521647
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