Gespenster-Krimi 16 (eBook)
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-8062-0 (ISBN)
Nebelschleier wogten am Ufer des Vänersees, ließen Bäume und Büsche unwirklich schemenhaft erscheinen. Christine Bengtsson stand im hohen, taufeuchten Gras und sah hinaus auf das schwarze Wasser. Ihr Herz hämmerte. Sie war ganz allein und hatte die schwerste und endgültigste Entscheidung ihres jungen Lebens zu treffen. Des Lebens, das sie sich in dieser Nacht nehmen wollte.
Langsam ging sie zum See. Sie faltete die Hände über ihrem hohen, gewölbten Leib. Ihr ungeborenes Kind regte sich, Tränen sickerten aus ihren Augen über die blassen Wangen.
Christine Bengtsson ging durch das Schilf. Leise schluchzte sie auf, als ihre Füße in das eiskalte Wasser traten ...
»Edmund Martensen«, flüsterte sie, »ich verfluche dich und deine ganze Familie. Mein Fluch, ausgestoßen in der Stunde meines Todes, soll dich und deine Nachkommen treffen für das, was du mir angetan hast. Ihr sollt sterben, wie ich gestorben bin!«
Christine Bengtsson senkte den Kopf, ihre schmalen Schultern bebten. Als ziehe das schwarze, tiefe Wasser sie magisch an, ging sie vorwärts, Schritt für Schritt, hinein in den See, hinein in den Tod.
Schon ließ der Nebel das Ufer hinter ihr verschwimmen, und sie watete hinaus in die Bucht. Nur das leise Plätschern war zu hören, das Christine selbst verursachte. Sie spürte die Kälte des Wassers wie einen eisigen Biss.
Höher und höher stieg es, umfing ihre Hüften, ihren Leib und stieg ihr bis zum Hals. Christine war es, als sei der See der Tod selbst. Da war nichts mehr um sie als wogender Nebel und schwarzes Wasser.
Ihr letzter Gedanke galt Edmund Martensen, dem reichen Gutsherrn, dem Vater ihres ungeborenen Kindes. Mit der Peitsche hatte er sie vom Hof gejagt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war, und als Hündin und Hure beschimpft.
Das trieb Christine Bengtsson in den Tod, die seinen Versprechungen und Schwüren von Liebe und Treue geglaubt hatte.
Jäh fiel der Grund unter ihr ab. Christine hatte keinen Boden mehr unter den Füßen. Sie konnte nicht schwimmen, und ihr dickes Kleid hatte sich voll Wasser gesogen. Wie ein Stein ging sie unter an dieser gefährlichen Stelle.
Ein paar Luftblasen stiegen auf. Eine bleiche Hand fasste noch einmal aus dem schwarzen, eisigen Wasser, als wolle sie sich an das entschwindende Leben klammern. Kreise liefen auseinander, zerrannen zitternd.
Die Hand versank.
Nichts mehr war da, nur Nebel und schwarzes Wasser. Noch einmal schrie das Käuzchen klagend, unheimlich hallte sein Ruf über das Wasser. Christine Bengtsson hörte ihn nicht mehr.
Das geschah an einem Abend im Spätherbst des Jahres 1869, gerade an dem Tag, an dem Christine Bengtsson, Magd auf dem Martensen-Hof, achtzehn Jahre alt wurde.
✞
Gunnar Berg steuerte seinen Volvo auf der Asphaltchaussee am Ufer des Vänersees entlang. Das Schilf rauschte im Sommerwind, Mückenschwärme tanzten über dem See, und weiße Schönwetterwolken trieben am blauen Himmel.
Die Augustsonne meinte es gut.
Rechts von der Straße erstreckten sich Korn- und Weizenfelder und Kartoffeläcker bis zum Horizont. Es gab nur wenige Bäume in dieser flachen Landschaft.
Der See glänzte wie ein Spiegel, das jenseitige Ufer war nicht zu erkennen. Gunnar Berg legte den Arm um Ulla Martensens nackte Schultern. Sie trug eine Sonnenbrille, ein rotes Sommerkleid und ein Kopftuch, und sie lachte ihm zu.
Ihre Zähne waren weiß und gesund, ihr Gesicht frisch und hübsch, die Augen blau und das Haar blond. Ulla war ein richtiges Schwedenmädel, groß, schlank und mit Rundungen an den richtigen Stellen, die jedem Mann den Pulsschlag höher trieben.
Gunnar Berg war mit ihr nicht offiziell verlobt, davon hielt er nichts. Aber sie kannten sich schon lange, und sie hatten schon über Heirat gesprochen. Es gab keine endgültigen Abmachungen, aber beide nahmen an, dass sie eines Tages Mann und Frau sein würden.
»Wo ist denn jetzt euer berühmter Gutshof, seit über zweihundert Jahren im Familienbesitz, mit ein paar hundert Morgen Land der größte in Värmland?«, fragte Gunnar Berg. »Wir werden doch nicht daran vorbeigefahren sein?«
»Nach der Biegung der Straße dort vorn kannst du Martensen sehen«, antwortete Ulla. »Jetzt wirst du endlich einmal meine Familie kennen lernen, Gunnar. Ich hoffe, du benimmst dich anständig, damit sie nicht die Hunde auf dich hetzen. Das wird bei uns nämlich mit unliebsamen Besuchern gemacht.«
»An mir beißen sie sich nur die Zähne aus«, witzelte Gunnar.
Der Volvo schwang um die Straßenbiegung, und dann sah Gunnar Berg Martensen den Gutshof, der den Namen der Familie trug, die ihn seit Jahrhunderten besaß. Gunnar Berg war beeindruckt, obwohl er sich nichts anmerken ließ.
Martensen befand sich nicht mehr als einen halben Kilometer vom Ufer des Sees entfernt. Das mächtige Gutshaus, das noch aus der Zeit um 1880 stammte, war weiß angestrichen, renoviert, modernisiert und vergrößert worden.
Die Vorderfront der beiden Obergeschosse war mit Holz verkleidet, es gab Balkone, und das Dach stand weit über. Um das Gutshaus gruppierten sich die anderen Gebäude, das Gesindehaus, die großen, modernen Ställe und Scheunen, die Lagerhalle, der Futtersilo und die Maschinenhalle, zu der auch eine Werkstatt gehörte.
Außer den älteren gab es auch moderne, großzügige Bauten. Man konnte Gut Martensen eine landwirtschaftliche Fabrik nennen, und keine kleine. Gunnar Berg fuhr vor das Haupthaus, wo schon ein paar andere Wagen standen. Ein Traktor mit Anhänger tuckerte über den Hof und nahm den Weg in die Felder.
In der Werkstatt wurde gearbeitet.
Zwei Männer fuhren mit Schubkarren Futter in einen Stall, und ein Monteur arbeitete an einem auf dem Hof stehenden Mähdrescher.
Gunnar Berg rückte die Sonnenbrille zurecht und stieg aus. Seine Koffer ließ er vorerst im Wagen, das Gepäck von Ulla auch. Gunnar war über einsachtzig groß, schlank und dunkelhaarig. Er hatte ein scharf geschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, dunkle Augen und ein energisches Kinn.
Seine drahtige Figur und seine elastischen Bewegungen verrieten den passionierten Sportler. Ulla Martensen lächelte zu ihm auf.
»Komm, Gunnar, drück dich nicht. Stell dich den prüfenden Blicken meiner Familie.«
Gunnar nickte ihr zu, und sie wollten ins Haus gehen. Da flog die Tür auf. Ein schlaksiges Mädchen von dreizehn Jahren rannte heraus, auf Ulla und Gunnar zu.
»Ulla, Ulla!«, rief es. »Endlich bist du wieder zu Hause.«
Das Mädchen hatte Sommersprossen und, blonde Zöpfe, und es trug eine Zahnspange. Gunnar wusste, dass es Ullas Schwester Karin sein musste. Er fragte sich, ob Ulla vor sechs Jahren, als sie dreizehn gewesen war, auch so ausgesehen hatte.
Das konnte er sich gar nicht vorstellen.
Karin umarmte Ulla, nahm sie an den Händen und tanzte mit ihr herum.
»Ulla, Ulla, ich freue mich so!«
Gunnar stand dabei, grinste und kam sich im Moment überflüssig vor. Da traten ein großer, grauhaariger Mann, zwei Frauen und zwei junge Männer aus dem Gutshaus auf den Vorplatz. Der grauhaarige Mann trug eine Cordhose und ein blaues Hemd. Er hatte eine Pfeife im Mund, die er in die Linke nahm, als er Gunnar die Hand schüttelte.
Sein Händedruck war fest, fast schmerzhaft, sein Gesicht offen und freundlich. Trotzdem war es Gunnar, als sei es von etwas überschattet, als habe dieser hochgewachsene Mann Sorgen, die er zu verbergen suchte.
»Willkommen auf Martensen«, sagte der grauhaarige Mann. »Ich bin Stig Martensen, der Gutsbesitzer, Ullas Vater. Darf ich vorstellen: Sigrid, meine Frau, und Anna Martensen, meine unverheiratete Schwester. Das sind meine Söhne Tage und Bertil. Der Wildfang mit den Zöpfen heißt Karin, und Ulla kennen Sie ja wohl bereits.«
Gunnar schüttelte Hände, nannte seinen Namen und bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen und einen guten Eindruck zu erwecken. Er war sich klar darüber, dass er begutachtet wurde.
Ullas Mutter hatte dunkelblondes Haar und war noch fast so schlank wie ihre Tochter, wenn auch ein Stück kleiner. Tage und Bertil, Ullas Brüder, wiesen große Ähnlichkeit mit ihrem Vater auf.
Sie hatten die Martensen-Blondschöpfe und blitzende blaue Augen. Anna Martensen wirkte mit ihrem dunklen Haar und dem ein bisschen knochigen Gesicht etwas streng. Der Blick ihrer dunklen Augen war prüfender als bei den andern.
Anna hatte den vierzigsten Geburtstag bestimmt schon erreicht und war von Männern nicht angetan, wenn sie nicht Martensen hießen. Mir kannst du nichts vormachen, schien der Blick ihrer Augen zu Gunnar zu sagen.
Er wurde durch die Halle in das große Wohnzimmer geführt. Die Martensens zerstreuten sich nun wieder, nachdem sie Gunnar Berg einer ersten Musterung unterzogen hatten, bis auf Stig, den Gutsherrn, und seinen ältesten Sohn Tage.
Sie blieben bei Gunnar und Ulla. Stig Martensen schenkte einen Aquavit ein. Er wollte nichts davon hören, dass Gunnar nichts trinken wollte.
»Einen werden Sie doch wohl vertragen, ob es nun heiß ist oder nicht. Skol!«
Gunnar trank. Es war ein scharfes Zeug, das ihm wie Feuer durch die Kehle lief. Ulla lächelte spitzbübisch, und Stig und Tage betrachteten Gunnar erwartungsvoll. Er schüttelte den Kopf.
»Kein schlechter Tropfen. Aber für meinen Geschmack viel zu mild. Der trinkt sich ja wie ein Weinchen.«
Tage lachte, denn er hatte bemerkt, wie Gunnar die Augen aufriss, als er den Aquavit trank.
»Sie sind nach meinem Geschmack«, sagte er zu Gunnar. »Ich sehe schon, wir werden gut miteinander auskommen. Ich zeige Ihnen gleich mal den Gutshof, damit Sie einen ersten Eindruck bekommen. Ihr Gepäck wird auf Ihr Zimmer gebracht.«
»Das kann ich doch selbst besorgen.«
»Ach was, kommen Sie nur. In ein paar Tagen geht die Ernte richtig los. Dann habe ich keine Zeit mehr, Sie herumzuführen.«
»Geh nur, Gunnar«, sagte Ulla. »Tage brennt darauf, dir den Hof zu zeigen. Er ist Agrar-Ingenieur, und wenn man ihm zuhört, ist Gut Martensen der Nabel der Welt. Tage ist ein echtes Genie, was die Landwirtschaft angeht, ob es sich nun um hochwertiges Saatgut, neue Maschinen oder einen schwierigen Wurf Ferkel handelt. Dass er dich selbst herumführt, ist eine...
| Erscheint lt. Verlag | 21.5.2019 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Gespenster-Krimi |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond |
| ISBN-10 | 3-7325-8062-8 / 3732580628 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-8062-0 / 9783732580620 |
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