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Perwanas Abend (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31070-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Perwanas Abend -  Bachtyar Ali
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Für Perwana und ihre Freundinnen hat das tägliche Leben unüberwindbare Grenzen. Die Väter, die Brüder, aber auch die tyrannischen Hüterinnen von Sitte und Glauben sitzen ihnen im Nacken. Hier ist kein Platz für ihre Talente und schon gar nicht für die Liebe. Eine nach der anderen verschwindet aus der Stadt - zusammen mit ihrem Geliebten. Wo ziehen sie hin? Als auch Perwana verschwindet, bricht für ihre Schwester Khandan eine Welt zusammen. Sie sucht Perwanas Spuren bei Freunden und Weggefährten. Sie erfährt vom verborgenen »Tal der Liebe« hoch in den Bergen, in dem die Paare ihre Hoffnungen erfüllen wollten. Was ist geschehen, dass jene, die überlebt haben, keine Worte finden?

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

2


Nach dem Tod meiner Tante, der Verwüstung des Kriegs und den Umwälzungen, die unser Leben und die Heimat erschütterten, verließen Fatana, Maasuma und ich die Schule der »Reumütigen Schwestern« ein letztes Mal durch das eiserne Tor und kehrten nicht zurück. Maasuma, mit ihrer übergroßen Angst vor Gott und vor den Vögeln, trieb es in eine Nähfabrik. Meine Brüder waren nicht im Lande und meine Eltern längst tot. Ich musste allein in dem Haus mit seinem großen Wohnzimmer leben und dort wieder zusammenfügen, was die Jahre der Angst im Leben der Leute auseinandergerissen hatten.

Nicht anders als ich, träumte auch Fatana davon, diese Geschichte festzuhalten. Maasuma, die jahrelang das Geheimnis mit mir geteilt hatte, meinte, Fatana sei die bessere Geschichtenerzählerin, sie könne aber nicht so gut schreiben. Ich sagte: »Geschichten müssen aufgeschrieben werden, sonst sterben sie. Es geht nicht um eine Geschichte für mich, sondern darum, dass Perwana in die Welt zurückgeholt wird.« Beide wussten wir, dass Perwana erst dann wirklich sterben würde, wenn jene, die sie liebten und die sie liebte, sie vergaßen. Ich zeigte Maasuma die Fotos, die Perwana ihren unzähligen Liebhabern zugedacht hatte. Auf der Rückseite stand immer geschrieben: »Dir gewidmet. Aber Du musst mir versprechen, mich auch nach meinem Tod nicht zu vergessen.«

Ich wusste, dass ich nur durch meine Aufzeichnungen Perwana wieder zum Leben erwecken konnte. Aber Fatana zischte wütend: »Du bringst sie noch einmal um! Die Heldinnen in den Geschichten sind nichts als dunkle Schatten, nur Trugbilder.«

Tag für Tag bedrängte ich Maasuma. Nur sie konnte mich zu dem Mann führen, den ich suchte. Man kannte ihn unter dem Namen »Süßduftender Nasradin«. Schließlich stellte sie ihn mir vor. Er war nach »Perwanas Abend« und nach seiner Zeit als Kämpfer in die Stadt zurückgekehrt. Nasradin, der Mann mit dem schüchternen, mädchenhaften Lächeln, lebte inmitten von Fotos schöner Mädchen, die ausgelassen zum schnellen Rhythmus der Musik im Reigen tanzten. Die Hälfte seines Lebens verbrachte er betrunken im Blitzlichtgewitter seiner Kamera und die andere Hälfte im schummrig roten Laborlicht, in dem er seine Filme entwickelte.

»Es ist wie eine Reise zur Wahrheit. Am Anfang ist das Nichts. Dann wird es wie nebliges Milchglas. Am Ende ist es ein Bild in leuchtenden Farben«, beschrieb er den Entwicklungsprozess seiner Fotos.

Seine skurrile Einstellung zum Leben, zu Liebe und Tod konnte ich kaum ertragen. Für ihn war alles wie Filme entwickeln. Besessen suchte er in allem einen dunklen Beginn und wollte ein Ende, das wie seine Fotos klar, glatt und leuchtend sein sollte. Darum sträubte er sich, über Perwana und Fareydun Malak nachzudenken, und gar ihr beängstigendes Ende.

»Wahrheit, die nicht klar, makellos und schön ist, ist keine Wahrheit«, deklamierte er.

Ich las Nasradin aus Midiyas Tagebuch vor, was Perwana gesagt hatte: »Das Leben ist ein Nebel. Die Wahrheit entsteht aus dem Zusammenfügen von Nebelfetzen.« Und ich sagte: »So ist es. Es gibt keine Gewissheit. Keine Wahrheit, die uns Seelenfrieden schenkt. Und deine Fotos helfen auch nicht weiter. Man kann sich nicht auf sie verlassen.«

Wenn er unter die Leute ging, hielt er sich immer in der Nähe der Frauen auf. Mit seinem langen Mantel und seinem mädchenhaft schüchternen Blick wirkte er tatsächlich irgendwie weiblich.

Zum ersten Mal unterhielt ich mich mit ihm auf der Hochzeit einer meiner Freundinnen. Maasuma wollte sich nicht umdrehen und direkt auf ihn zeigen. Sie hatte den Bäumen im Garten den Rücken zugekehrt, weil der Anblick von Vögeln sie immer mit Angst erfüllte. Also beschrieb sie ihn mir: »Schau, dort steht er, der Mann mit einer alten Kamera, der in einer blauen kurdischen Tracht steckt.« Ich schaute mich um. Er stand mitten unter den Tänzerinnen und Tänzern des Reigens, umringt von schlanken Frauen, plauderte und scherzte und gab einer nach der anderen einen Bon zum Abholen ihrer Fotos. So wie er lachte, in die Runde schaute und locker mit allen umging, wirkte er glücklich. Der Duft seines Parfums berauschte die Frauen und Mädchen, die ihn im Kreis umstanden. Ich fragte mich: Wie hatte sich dieser Mann in den zurückliegenden Jahren in den Bergen einen Namen als tapferer Kämpfer machen können?

Das Keyboard hatte die Stimmung im Garten so angeheizt, dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Als ich zu ihm hinging, rief Maasuma mir hinterher: »Er wird dich nicht verstehen in dem ganzen Lärm, in diesem Wirrwarr der Lust!«

Ich murmelte nur vor mich hin: »Wirrwarr der Lust … Wirrwarr der Lust …« Es waren die Worte der strengen Seyneb Kwestani, die sich jahrelang bemüht hatte, uns vom »Wirrwarr der Lust« fernzuhalten.

Sobald Nasradin mich sah, streckte er mir die Hand entgegen und sagte: »Sehr erfreut, Verehrte!« Ich stellte mich vor und sagte ihm, ich sei das Mädchen, von dem behauptet wurde, es könne Wirbelwinde herbeizaubern. Da wurde er bleich und tat, als hätte er noch nie von mir gehört. Aber ich wusste, dass Maasuma ihm von mir erzählt hatte. Als eine Welle der Tanzenden uns voneinander trennte, sah er aus dem Abstand ungläubig zu mir herüber. Am anderen Ende des Gartens, weit entfernt vom Lärm des Keyboards und den neugierigen Augen der Zuschauer, trafen wir uns schließlich.

»Ich bin die Schwester von Perwana«, sagte ich.

Er blickte erstaunt, schien erschrocken. »Und bist auch du ein Unglückskind?«, fragte er.

»Hör zu: Ich bin kein Unglückskind, aber ich brauche deine Hilfe.«

Er antwortete nicht. Stumm drehte er sich um und verschwand in der Menge. In dieser Nacht ging er mir aus dem Weg.

Am nächsten Tag stellte ich ihn vor seinem Studio zur Rede. Es regnete in Strömen. Der Wind hatte plötzlich gedreht. Er duckte sich unter einem großen Regenschirm, wie um zu verhindern, dass Sturm und Regen ihm die Duftwolke seines Parfums raubten. Als er mich sah, wurde er wieder unruhig und wollte sich wortlos an mir vorbeidrücken. Ich stellte mich ihm in den Weg.

»Klein Khandan, lass mich! Ich will nicht mehr über die Vergangenheit nachdenken.«

Die Vergangenheit war für ihn fremd geworden. Das Leben, das er in den Bergen, im Schnee, an unzugänglichen Orten verbracht hatte, fand an Perwanas Abend ein Ende. Nun lebte er ein anderes Leben. Lachend fotografierte er Mädchen und Fußballer, und abends in den kleinen, dunklen Teehäusern tratschte er mit den Mannschaftskapitänen über das Leben und Treiben in Stadien und Schlafzimmern. Erst später erlebte ich, wie sehr ihn sein schlechtes Gewissen quälte. Er lebte unter dem Druck des Gefühls, für Perwanas Tod verantwortlich zu sein. Dass es seine Schuld war, dass Fareydun in der Schlucht blieb. Seine Schuld, dass die Liebe verging. Als ich ihn näher kennenlernte, konnte ich den Kummer förmlich sehen, vor dem er auf die Feste und ins Getümmel der Stadien floh. Sein ganzes Leben war nun ein Versuch, diesen Kummer zu verdrängen.

»Immer stand ich am falschen Ort. Nirgends gehöre ich hin«, gestand er einmal.

Sein Studio war reich bestückt mit Lampen, Strahlern und bunten Glühbirnen. Im hinteren Teil bedeckten Fotos von Frauen und Fußballern die Wände. Alles hier leuchtete und oszillierte in so ungewöhnlichen Farben, dass mir schwindlig wurde. Das also war die künstliche Welt, die er sich erschaffen hatte! Ich wollte meine Tasche nehmen, das Studio verlassen und die ganze Geschichte aufgeben. Aber Nasradin schaltete, mit seinen langen, schlanken Fingern, die wie die Finger eines satanischen Pianisten aussahen, eilig alle Lampen und Strahler an.

»Klein Khandan, was willst du?«, fragte er wütend.

»Das Tagebuch der Traurigen Midiya«, antwortete ich ohne Umschweife.

Offensichtlich wusste Nasradin nicht viel von mir. Er behandelte mich wie eine Fremde. Zunächst weigerte er sich rundheraus, mir das Tagebuch zu überlassen. Es sei ein Meer gefährlicher Geheimnisse! Nasradin hatte diese Tagebücher nach hartnäckigen Bemühungen von einem alten Mann namens Mussa Khasnnas ausgehändigt bekommen.

So ging ich nun Tag für Tag bei ihm vorbei. Oft stand ich schon bei Sonnenaufgang vor seinem Studio und offenbarte ihm alles über meine Schicksalsgemeinschaft mit Perwana. »Die Reumütigen Schwestern haben auch mein Leben zerstört. Die Fäden meines Schicksals sind verwoben sogar mit Perwanas Liebesbeziehungen. Ihre und meine Geschichte sind ein und dieselbe. In all den Jahren meiner Isolation habe ich ständig nur über sie nachgedacht. Ich büße für ihre unerfüllte Liebessehnsucht. An ihrer Stelle leide ich jetzt Höllenqualen. Die Windungen und Wendungen unseres Lebens waren die gleichen, auch wenn ich ein paar Jahre nach ihr auf die Welt gekommen bin. Ich war kleiner und nicht so hübsch wie sie. Aber meine Neugier und Lebenslust waren immer größer als ihre, nur dass sich bei mir alles, was sie wirklich tat, bloß in der Fantasie abspielte. Wenn die Laune des Schicksals anders entschieden hätte, hätte man Perwana in die Schule der Reumütigen Schwestern gesteckt, und ich wäre an ihrer Stelle in diese Schlucht gegangen.«

Nasradin schüttelte den Kopf: »Das ist alles vorbei. Perwana ist tot. Sie ist von uns gegangen.«

Er wusste nun, dass mein Leben nichts anderes war als ein Schatten ihres Lebens. Dass sie die Grenzen überschritten hatte und nicht ich....

Erscheint lt. Verlag 21.8.2019
Übersetzer Ute Cantera-Lang, Rawezh Salim
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Frau • Irak • Kurden • Liebe • Religion
ISBN-10 3-293-31070-2 / 3293310702
ISBN-13 978-3-293-31070-4 / 9783293310704
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