Statistenleben und Primadonnensterben (eBook)
180 Seiten
Morawa Lesezirkel (Verlag)
978-3-99084-665-0 (ISBN)
Maria Podle?ak, in Wien geboren, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien. Sie war Mitglied des Seeböck-Ensembles sowie Pressefotografin. Diverse eigene Theater-, und Kabarettproduktionen kamen hauptsächlich in Wien zur Aufführung. Dazu zählen unter anderen: "Vom Untergang des Aufstiegs", "Lasst leben die Unsterblichen", "Wiener Gebietskranke", "Endlich Nichtläufer" und "NLP...odle?ak". Natürlich gewann auch sie Preise, die meisten bei Fotowettbewerben und Fechtturnieren.
2001
„Wenn Sie sich vor dem hohen Ton anscheißen, dann binden Sie sich Ihre Hosen unten zu, aber singen Sie!“ Die Primadonna post Bühnentätigkeit sprang vom Klavierhocker auf, soweit die implantierten Titan-Knie das Springen erlaubten, drosch abermals in die Tasten und es erklang das Finale der ‚Turandot‘. Sie übernahm es, die Tenorrolle des Calaf zu schmettern, soweit es die über Jahrzehnte strapazierten Stimmbänder erlaubten, und die Schülerin erhielt die Möglichkeit, ein zweites Mal das hohe C der Titelpartie in Angriff zu nehmen.
Der Lehrerin Frisur war wild, ihre Gesten leidenschaftlich und ihr Akzent preußisch. Die Anweisungen erhielt ihre Schülerin aus nächster Nähe entgegen geschrien, so wie es Rudolph zuvor nur in amerikanischen GI-Marine-Navy-Seal-Kriegsfilmen gesehen und gehört hatte. Bis zu diesem Moment hatte Rudolph nicht verstanden, weshalb das Beiwohnen einer Gesangstunde Ehre und Vertrauensbeweis von höchstem Rang war. Jetzt wusste er es und wollte lieber nicht da sein, das war alles doch recht intim, peinlich. Hier wurde nicht mit Stimmbändern, sondern mit Eierstöcken gearbeitet.
Die Sängerin der Elektra, ‚seine‘ Gabriele zehn Jahre später in einer Speichel-Fontaine eines weiblichen Tenors als Schülerin, als Befehlsempfängerin zu sehen, tat Rudolph weh. Sie war doch der Star, sie war die Primadonna gewesen. Jetzt ließ sie sich von einer Person zurechtweisen, die sicher einmal zwischen Dinosaurier und Krieg fantastisch gewesen war. Elektra a. D. bedankte sich und bezahlte viel und Rudolph bedankte sich und durfte wieder hinaus aus der Nobelwohnung. Sie lag mitten in der ‚Inneren Stadt‘, in einem ruhigen Gässchen nahe der Oper, selbstverständlich im obersten Stock mit Ausrichtung in den Hinterhof. Der Lehrerin Begeisterung für die Moderne war unübersehbar. Nicht hunderte Jahre alte Möbel und Bilder, sondern Betonböden in den Bädern, Glas und Stahl bei Tischen und Regalen bestimmten das Heim. Die Atmosphäre war zwar kalt aber wach, also ein idealer Ort, um zu arbeiten. Gabriele hatte immer wieder betont, wie belebend es wäre, in dieser Wohnung an Partien zu feilen. Die Oper an sich wäre plüschig und schwülstig genug, da täte dem Herz ein wenig Beton und Eisen sehr gut.
Dass die Gegend unter massiver Parkplatzarmut litt, hielt Gabriele nicht im Mindesten davon ab, mit dem Auto zu kommen. Sie gehörte zu den Personen, die immer irgendwo ein Plätzchen fanden. Wieder auf der Straße informierte sie Rudolph, dass sie noch kurz in ein Lokal im 19. Bezirk fahren müsste, sie hätte da noch eine kleine Rechnung zu begleichen. Sie könnte ihn mitnehmen und auch noch einen Kaffee oder vielleicht einen Tee vertragen. Es wäre auch unweit seiner Wohnung. Rudolph freute es und ging mit ihr zum nahe geparkten Wagen. Er hätte nicht Polizist gewesen sein müssen, um festzustellen, dass der Platz für andere Suchende nicht in Betracht ge-kommen wäre. Gabriele stellte ihr Auto mitten auf einen der Länge nach liegenden Bretterhaufen vor einer Baustelle. Das Absperrband stellte für den Lack keine größere Gefahr dar und es war elastisch genug, um auch beim Öffnen der Tür nicht zu reißen.
Beim anschließenden Kaffeehausbesuch genossen beide mehr oder weniger die Frühlingssonne im Gastgarten. Gabriele war in das Cottageviertel gefahren, zum ‚Salettl‘, einem Lokal nahe einem Friedhof, dem Döblinger Friedhof. Es war früher Nachmittag, das Wetter perfekt und der Kaffee ein Jammer.
Rudolph und Gabriele hatten über die letzten zehn Jahre eine lose Freundschaft gehalten. Ein ähnlicher Geschmack bezüglich Stimmen, Inszenierungen und Kompositionen war Grund genug für gelegentliche Treffen gewesen. Rudolph blieb aber ausschließlich auf der passiven, also der reinen Zuschauerseite und machte Bekanntschaft mit der für ihn entsetzlichen Stehplatzler-Claque der Wiener Staatsoper. Es war ein überheblicher Haufen Gescheiterter, wie er befand, natürlich mit wenigen Ausnahmen. Diese hatte Rudolph allerdings besonders ins Herz geschlossen, schräge Käuze, durchschnittlich sozialisiert, wie er selbst. Gabriele hasste den Stehplatz. Als Studentin war sie oft dort gewesen. Sie hatte die in der Welt Verirrten und in ihren Leben den Weg Suchenden nie getroffen oder erkannt. Für Gabriele war es lediglich eine, in ihrer Kritikfähigkeit schwer überschätzte Gemeinschaft frustrierter ‚Vergangenheitsnachwei-ner‘ und ‚Kammerlecker‘. Denn kaum warteten diese speziellen Nörgler beim Bühnenausgang auf ‚ihre‘ Kammersängerinnen und Kammersänger um ein Autogramm, oder 50 Autogramme zu erhalten, leckten sie. Sie leckten den Atem, die Aura der Stars, am Heimweg leckten sie den Kugelschreiber, der in der Hand des Lieblings gelegen hatte, in der U-Bahn leckten sie vorsichtig das Autogramm im Programmheft, und zu Hause küssten sie das Autogramm auf dem Porträtfoto der, oder des Erwählten. Bei der nächsten Vorstellung wurde wieder im Rudel geächzt, gestöhnt, bemängelt, gejammert und über vermeintliche Unzulänglichkeiten in der Pause gelästert, während der Vorstellung die Nase gerümpft und nachher wieder alles geleckt. Gabriele war ein wenig enttäuscht von Rudolph, sich in solchen Kreisen herumzutreiben aber er versorgte sie mit ausreichend Klatsch und Tratsch. Er berichtete davon, dass die eine Mittelalte mit Mittelscheitel Herrn Carreras ein Porträt von Herrn Shicoff zur gefälligen Unterschrift vorgelegt hatte, und er erzählte, dass eine wunderschöne damenhafte Mezzosopranistin einem ‚Bewunderer‘ eine Ohrfeige verpasst hatte, da es sich der schmächtig Gebaute nicht hatte nehmen lassen, die Sängerin darauf hinzuweisen, dass irgendein Ton falsch gesungen gewesen war. Das wollte Gabriele alles hören, im Detail! An diesem Mittwoch aber, es war der zweite Mai, wollte sie eher Schatten, eher Kamillentee und eher nichts hören. Die Turandot-,C‘-Probleme kamen nicht von ungefähr. Kurz erwähnte sie den Prater, die Kaiserwiese, erzählte etwas von ‚Freunde getroffen‘ und Bier mit Zigaretten. Sie müsste jetzt gleich heimfahren und schlafen und Rudolph wäre persönlich schuld, wenn sie wegen Restalkoholwerte am Heimweg angezeigt werden würde. Rudolph verabschiedete sie und deutete ihr, dass er selbstverständlich die Rechnung inklusive der offenen Altlasten und auch die Verantwortung übernehmen würde. Ihm ging es prächtig. Er hatte frei und er war nüchtern. Rudolph konnte sich an manchen Tagen, wie eben zum Beispiel den Ersten Mai durch Extradienste Geld und/oder Freizeit dazuverdienen. Er stand Wache haltend zwölf Stunden in einem Kobel, vergleichbar einer Telefonzelle in der Anastasius-Grün-Gasse Ecke Cottagegasse die israelische Botschaft zu beschützen. In diesen Stunden der Einsamkeit, der Einöde, des Eremiten-Daseins reflektierte Rudolph sein Leben, überdachte seine Wünsche und Träume. Zu einem Ergebnis war er bislang nicht gekommen. Die Überlegungen reichten von: Jusstudium doch noch angehen bis, mit dem Fahrrad durch Grönland zu radeln und anschließend im Audi Max einen Diavortrag zu halten. Die Fotografie war nach wie vor seine Leidenschaft, allerdings hatte er die Dunkelkammer bereits durch Photoshop ersetzt. Er fotografierte auch nicht mehr mit der Exakta, sondern mit einer Nikon Coolpix 990, ein überaus handliches Modell mit bereits erstaunlicher Auflösung. Der schwenkbare Monitor ließ gute Aufnahmen aus der Hüfte zu, eine Art zu fotografieren, die Rudolph sehr sympathisch war. Natürlich hatte er die Kamera auch heute mit, und kaum hatte Gabriele den Gastgarten aufgrund plötzlicher Übelkeit verlassen, zückte er auch schon seine Nikon. Weniger ging es ihm um das besondere Ereignis, welches es zu erwischen galt, als viel mehr darum, unentdeckt zu bleiben, intime Momente einzufangen, ohne, dass die Fotografierten es je bemerken sollten. Akribisch führte, füllte und erstellte er, wieder zu Hause, Ordner um Ordner auf seinem Computer, sortiert nach Datum, nach Thema, nach Qualität, Geschlecht und/oder Anzahl der Geknipsten. Ein Ordner war Tieren vorbehalten, ein weiterer Hund-mit-Mensch-Bildern und wieder einer für Bilder von Zoobesucherinnen und Besuchern. Jetzt saß er mittlerweile im Schatten, fröstelnd, den letzten Schluck seines schlechten Kaffees und den letzten Schluck Gabrieles bereits kalten Kamillentees austrinkend da, dachte, weder studiert zu haben, noch exotische Motive zu jagen, aber immerhin konnte er mit Fug und Recht behaupten, bei der Wiener Staatsoper unter Vertrag zu stehen.
Er hatte wider jede Vernunft eine Statistenrolle in Wagners ‚Walküre‘ angenommen. Gabriele hatte sie ihm vermittelt. Ein Bekannter von ihr fiel als Heldenleiche aus und er sprang dafür ein, sich während des ‚Walkürenritts' wegräumen zu lassen. Eigentlich wollte sich Rudolph für die Vermittlung mit einer Einladung zum Essen erkenntlich zeigen,...
| Erscheint lt. Verlag | 7.3.2019 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| ISBN-10 | 3-99084-665-5 / 3990846655 |
| ISBN-13 | 978-3-99084-665-0 / 9783990846650 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 786 KB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich