Bewegte Zeiten (eBook)
216 Seiten
Morawa Lesezirkel (Verlag)
978-3-99084-427-4 (ISBN)
Der Umbruch
(1) Alles ging seinen Gang. Überraschungen waren nicht vorgesehen. Für alles war vorgesorgt, die Grundlagen waren gelegt worden. Die Rahmen waren vorgegeben, sodass nichts aus der Bahn geraten konnte. Alles hatte seinen Grund, alles hatte einen Sinn, wodurch etwas Wohlgefügtes entstanden war, das als etwas in sich stimmiges Ganzes empfunden wurde. Jeder konnte darauf zurückgreifen und sich daran halten. Es bestand keinerlei Veranlassung dazu, aus dem, was so vortrefflich errichtet worden war, auszuscheren. Solange sich jeder in diesem von allen als in sich stimmiges Ganzes Gesehenen bewegte, war alles im Griff. Jeder konnte darauf vertrauen, wohlbehalten seinen Weg gehen zu können. Selbst für diejenigen, die aneckten, war zureichend vorgesorgt. Solange ihr Verhalten nicht allzu sehr störte, wurde es, sei es durch Übergehen oder sei es mit Verwarnungen, hingenommen. Erst wenn sie zu sehr über die Stränge schlugen, wurden sie in die Schranken verwiesen. Die Abläufe waren klar geregelt, jeder wusste also, worauf er sich einließ. Das Leben, so vielfältig und quirlig es sich im Einzelnen auch abspielte, wälzte sich in seinem Ganzen als ruhiger Strom dahin.
Alles war klar. Nichts stand an. Jeder wusste, auf was er ein Anrecht hatte, jeder wusste, was er erwarten durfte, jeder wusste, wie er sich verhalten musste. Es wurde geschätzt, sich darauf verlassen zu können, dass sich alle gleichermaßen in dieser Klarheit bewegten. Es war herrlich anzusehen, wie alle dieses Spiel spielten und ihre Worte und Taten danach ausrichteten. Wirklich alle? Schien es vielleicht nur so, dass alles klar war? Waren es etwa Gewohnheit und die Vertrautheit von eingeschliffenen Wegen, die eine Klarheit bloß vorgaukelten? Solange diese Wege einfach gegangen und die Gewohnheiten gepflegt wurden, waren sie klar. Wie oft waren sie von so vielen schon gegangen und vollzogen worden, sie waren mit all ihren Merkmalen also bekannt. Es ersparte viel, sie einfach nur zu gehen. Die Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf den Weg und darauf, seine Tücken zu meiden, darüber hinaus weitere Gedanken zu verlieren war nicht nötig. Daher waren die Wege klar. Natürlich wurde der Klarheit der Vorzug gegeben, denn sie verhieß Sicherheit und Überlegenheit. Im Gegenzug führte die Klarheit ihrerseits wieder zu Gewohnheit und eingeschliffenen Wegen. Neue Wege trugen die Gefahr in sich, aus der Klarheit hinauszuführen und im Nirgendwo zu enden. Dieser geschlossene Kreis von Klarheit, Gewohnheit und eingeschliffenen Wegen bildete ein fest gefügtes Ganzes, in dem sich das Leben entwickeln und abspielen konnte. Sofern der Raum, den der Kreis umspannte, groß genug war, sodass jeder in ihm einen Platz finden konnte, und solange dieser Kreis aufrechterhalten wurde, vermochte er allen Perspektiven und in einem bestimmten Ausmaß auch Sicherheit zu bieten. So war es ein allgemeines und tiefes Bestreben, einen solchen Kreis zu formen und ihn mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Denn wer liebte es nicht, immer wieder die Worte zu hören, die einem versicherten, auf dem rechten Weg zu sein, wer ließ sich nicht gerne von dem Klang der Worte berauschen, die es verstanden, einen in Geborgenheit zu wiegen. Wer genoss es nicht, wenn seine Erwartungen erfüllt wurden, wem war es nicht willkommen, wenn seinen Ansprüchen nachgekommen wurde, wen freute es nicht, wenn ihm sein Verhalten zugutekam. Angelegt war ein solcher Kreis auf die Ewigkeit, doch wie lange er tatsächlich Bestand hatte, erwies die Zeit. Stets wurde gesagt, der Kreis, der jetzt erreicht worden war, wäre der beste, den es jemals gegeben hätte. Aber auch wenn es hieß, der beste Kreis wäre gefunden worden, hatte er schließlich doch nur eine endliche Lebensdauer.
Die Zeit forderte nach Veränderung, sie schaffte Bewegung, wollte sie sich nicht selbst abschaffen. Solange sie wirkte, ließ sie es nicht zu, dass Ruhe Einzug hielt und Stillstand eintrat. Die Zeit ließ sich vieles einfallen, was geschehen konnte. Sie verfügte über einen großen Fundus, auf den sie zurückgriff. Spielerisch zog sie dieses und jenes hervor, mischte es neu zusammen und warf es auf die Bühne. Dann sah sie zu, was sich daraus ergab. Überall und jederzeit war sie geschäftig, im Kleinsten wie im Größten, im Unscheinbarsten wie im Offenbaren, im Lauten wie im Leisen. Wer etwas festhalten wollte, musste die Zeit abschaffen oder Bewegung vortäuschen. Ob aber die Zeit sich darauf einließ, darauf hatte er keinen Einfluss. Die ließ sich nicht ewig täuschen. Sie zögerte nicht lange, nahm das Heft in die Hand und ging über ihn hinweg. Immer fanden sich welche, die sich der Zeit annahmen. Sie sahen sich als Vertreter der Zeit. Die Zeit war schlau, sie ließ es so aussehen, dass sie von ihnen vertreten wurde, damit hatte sie ein Gesicht auf der Bühne bekommen, doch tatsächlich spielte sie mit ihnen so, wie mit all den anderen die sich auf der Bühne tummelten. Lautstark wurden neue Zeiten verkündet. Die Bühne hallte wider von den vielen ausgerufenen Zeiten. Die Zeit ließ sich in ihrem Geschäft von diesem Lärm nicht beeinflussen. Sie ging still an ihr Werk. Erst seine Folgen konnten einen recht großen Krach hervorrufen. Die Zeit war da schon wieder einen Schritt weiter. Ein ständiges Echo begleitete die Zeit, sein Hall verhüllte das Treiben der Zeit, er führte vielmehr seine ihm eigene Welt vor. Während er mit seiner Welt alle im Bann hielt, und alle Gespräche sich nur darum drehten, eilte die Zeit unbemerkt voran. Solange der Hall die Wände nicht zum Erzittern brachte, lief das Leben im Kreis weiterhin wie gewohnt ab, denn Lärm war durchaus üblich, während das Ganze unangefochten seine Stellung hielt. Verstand es der Lärm zwar vorerst einmal zu verwirren, trug er schließlich aber zur Klarheit bei, denn jeder vermochte sich irgendeinmal seinen Reim auf ihn zu machen. Lärm war sogar vonnöten, er war ein Antrieb, das Gefüge in Bewegung zu halten. Er markierte den Takt und zeigte jedem an, worauf zu achten war. Sowohl die Zeit als auch der Hall, der ihrem Treiben entsprang, sorgten gemeinsam dafür, dass das Leben in dem Kreis aufrechterhalten wurde. Was also sollte jemals dem Kreis zu Leibe rücken?
(2) Immer gab es welche, die aus dem Rahmen fielen. Verstanden sie es nicht, oder was sonst trieb sie an? Sie waren Wanderer in fremden Welten. Ihr Wahrnehmungsfeld war ein anderes. Wenn es sich zu stark von dem der anderen unterschied, dann wussten sie mit der allgemeinen Klarheit nichts anzufangen, und irrten als unruhige Geister umher. Die einen von ihnen verschlug es dahin, die anderen dorthin. Zusammen bildeten sie eine Art Wolke, die das Ganze, den fest gegründeten Kreis umhüllte. Als Wolke mochten sie zwar immer wieder auf das Ganze stoßen, aber daran haften bleiben konnten sie nicht. Sie fanden sich mit der Klarheit, die dem Ganzen innewohnte, nicht ab. Das Ganze hielten sie nicht für das Ganze, denn da führte noch so vieles in andere Räume hinaus. Diese übten auf sie einen unbezwingbaren Reiz aus, es anders machen zu wollen. Sie sahen Räume, wo andere nur leere Hüllen ausmachen konnten. So verrückt konnte etwas gar nicht sein, dass es nicht aufgegriffen wurde und bei irgendwem auf Zustimmung stieß. Vielleicht war es gerade der Reiz des Verrückten, des Geheimnisvollen, der jenes Etwas begehrenswert machte. Es war ein selbst gewähltes Herumirren oder auch der Stachel, das Gewohnte, das, worauf alle hin zuliefen, zu meiden, die zum Abgehen von den ausgetretenen Pfaden führten. Wie Irrlichter geisterten sie auf allen nur erdenklichen Abwegen und in den dunkelsten Gefilden umher, und wurden gerade deswegen von den anderen nicht wahrgenommen. Weitab von dem Gewimmel trieb es sie um, deshalb störten sie nicht die Kreise, die allseits gezogen wurden, und konnten so weiterhin ungestört ihren Aufzug, gleich einem Tanz von Gespenstern, betreiben. Irgendwie gehörte dieser Tanz dazu und fügte sich auf seine Art zum Ganzen. Eben durch das Unbestimmte des flatterhaften Tanzes bekam als Gegensatz dazu das Handgreifliche des Ganzen seinen Glanz und hob sich als das alles Überragende ab. Erst dadurch wurde es als das Ganze bewusst gemacht, denn das andere waren doch nur wirre Schimären. Wer wollte sich schon in jenen Gefilden verlieren und dort lautlos untergehen. Da blieb man lieber Teil des Ganzen, wo der Boden unter den Füßen sicher war, und einen der vertraute Lärm in Geborgenheit wiegte. Immerhin stand man mit diesem Verhalten unter dem Schutz der Klarheit, und die war der Garant dafür, dass man richtig lag.
Freilich nicht alle ließen sich vom Ganzen und seiner Klarheit betören. Von ihrer Unruhe getrieben traten jene auf den Plan, denen die herrschende Klarheit zu eintönig war, ihnen schien die Zeit stillzustehen. Wie konnte das sein, fragten sie sich, was war mit der Zeit geschehen? War sie so selbstvergessen, dass sie nicht mehr um ihre Aufgaben wusste? Sie gaben sich mit der Klarheit nicht zufrieden. Vielleicht lag es daran, dass sich die Klarheit nicht drehte und immer nur dieselben Bilder zu sehen waren. Die waren ihnen nur allzu bekannt, sie hatten sich an ihnen schon bis zum Überdruss sattgesehen....
| Erscheint lt. Verlag | 21.2.2019 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| ISBN-10 | 3-99084-427-X / 399084427X |
| ISBN-13 | 978-3-99084-427-4 / 9783990844274 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,1 MB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich