Professor Zamorra 1166 (eBook)
64 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-7614-2 (ISBN)
Anatomie des Todes
von Anika Klüver
Das Geräusch der Säge, die ins Fleisch schnitt, war süß und verheißungsvoll. Dazu kamen die Schreie, die eine angemessene Untermalung darstellten. Es war wie eine Symphonie, zu der er arbeitete, eine Melodie, die ihn beflügelte. Endlich würde er sein Werk vollenden. Er wusste, dass er zu Großem bestimmt war. Das war sein Erbe, sein Blut. Und nun würde sich die harte Arbeit auszahlen. Die Welt würde vor seiner Schöpfung erzittern und sein Genie erkennen.
Erneut setzte er die Säge an und bewegte sie ruckartig. Die Schreie waren verstummt. Irgendwann verstummten sie immer. Doch das spielte keine Rolle. Denn der nächste Patient würde die Melodie von Neuem erklingen lassen ...
Edinburgh, Schottland
»Ich habe dir doch gesagt, dass das nichts für mich ist.« Ellen Cooper liefen immer noch Schauer über den Rücken. Sie hätte sich niemals dazu überreden lassen sollen, mit auf diesen Friedhof zu gehen. Aber Nick war so begeistert gewesen. Er hatte gestrahlt wie ein kleiner Junge, und sie hatte ihm den Wunsch einfach nicht abschlagen können. Doch nun war sie der Ansicht, dass sie ihn besser allein hätte losziehen lassen. Sie hätte es sich unterdessen im Hotelzimmer gemütlich machen können. Das wäre zwar ein wenig langweilig, aber deutlich mehr nach ihrem Geschmack gewesen.
»Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte Nick. »Das war doch toll.«
»Ich werde nie wieder schlafen können«, zischte Ellen.
»Jetzt übertreibst du aber. So unheimlich war es doch gar nicht. Ich fand es eher interessant. Betrachte es doch einfach als Geschichtsstunde.«
»Wenn ich etwas über die Geschichte von Edinburgh erfahren will, kann ich ein Buch lesen. Dafür muss ich mich nicht nachts auf einem Friedhof herumtreiben.« Sie hielt die Stimme gedämpft, denn sie wollte nicht, dass die anderen Leute etwas von ihrer Auseinandersetzung mitbekamen. Das wäre ihr noch unangenehmer gewesen als die letzte Stunde auf dem finsteren Greyfriars Kirkyard.
Sie waren für eine Woche nach Edinburgh gekommen, um hier ihren ersten gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Ellen hatte sich auf gemütliche Spaziergänge über die High Street und einen Besuch der berühmten Burg gefreut, die hoch über der Stadt aufragte. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass ihr Freund Nick plötzlich eine derartige Begeisterung für Schauergeschichten an den Tag legen würde. Sie waren noch nicht lange zusammen, und ihr war bislang nicht klar gewesen, dass er sich so sehr für Geister und anderen Gruselkram interessierte.
Doch bereits am ersten Abend hatte er eins der zahlreichen Angebote für die sogenannten »Ghost Tours« entdeckt. Die abendlichen Führungen boten Touristen einen Ausflug in die schauerliche Geschichte der Stadt an und schienen sehr beliebt zu sein. Auf jeden Fall waren sie nicht gerade günstig und nicht sonderlich lohnenswert, wenn man sich nicht gern gruselte, so viel wusste Ellen jetzt.
»Jetzt sei doch nicht so«, redete Nick auf sie ein. »Ich bin ja die ganze Zeit über bei dir und werde schon aufpassen, dass dir kein Geist zu nahe kommt. Und du hast es ja auch fast geschafft.«
Er schenkte ihr dieses unwiderstehliche jungenhafte Grinsen und zwinkerte ihr zu. Verdammt, warum musste er nur so unverschämt gut aussehen? Mit seinem hübschen Gesicht, mit dem er problemlos als Model hätte arbeiten können, schaffte er es immer wieder, Ellen um den Finger zu wickeln. Aber wenn sie ehrlich war, gefiel ihr das. Sie mochte das Gefühl, einen so attraktiven Mann an ihrer Seite zu haben, der noch dazu ein wirklich netter Kerl war. Doch momentan wünschte sie sich, sie könnte ein wenig standhafter sein und seinem Charme widerstehen.
Ellen hatte sich Nick zuliebe auf eine dieser Führungen eingelassen. Er hatte sie dazu eingeladen und genoss offensichtlich jede Minute. Ellen hingegen hatte jetzt schon genug davon. Aber sie hatten bereits bezahlt und erst die Hälfte der Führung hinter sich gebracht. Wenn sie jetzt einfach ging, würde sie nicht nur Nick enttäuschen, sondern auch Geld verschwenden.
»Ja, schon gut«, brummte sie, während sie folgsam mit den anderen Mitgliedern der Gruppe durch die Stadt liefen, um zum nächsten Abschnitt der Führung zu gelangen. »Wahrscheinlich war der Friedhof deutlich schlimmer als das, was noch kommt. Ich werde das schon irgendwie durchstehen.«
Die Geschichten, die ihnen ihr Führer auf dem Friedhof erzählt hatte, waren wirklich scheußlich gewesen. Sie wusste nicht, was ihr unheimlicher war, die Vorstellung von Grabräubern, die frisch bestattete Leichen ausgegraben hatten, um sie an Medizinschulen zu verkaufen, oder die Behauptung, dass auf dem Friedhof ein Poltergeist sein Unwesen trieb. Letzterer sorgte angeblich regelmäßig dafür, dass Leute, die an den Führungen teilnahmen, später Kratzer und blaue Flecken entdeckten, für die es keine Erklärung gab.
Ellen hielt das für Unsinn, aber der Gedanke hatte trotzdem etwas Beklemmendes an sich. Und sie erwischte sich dabei, wie sie hoffte, dass sie später beim Zubettgehen keine unerklärlichen Verletzungen bei sich oder Nick vorfinden würde, denn sonst würde sie zumindest in dieser Nacht wirklich keinen Schlaf finden.
Der zweite Teil der Führung versprach jedoch tatsächlich, weniger unheimlich und eher informativ zu werden. Sie würden die sogenannten South Bridge Vaults besichtigen, eine Reihe unterirdischer Gewölbe, die einst als Lager und Werkstätten und später vor allem als Unterschlupf für den ärmeren Teil der Bevölkerung gedient hatten. Angeblich hatte es dort auch jede Menge Kriminalität gegeben, und so rankten sich natürlich auch einige schauerliche Geschichten um dieses unterirdische System aus Tunneln und Räumen.
Als sie den Eingang erreichten, versammelte sich die ganze Gruppe darum. Nick nahm Ellens Hand und drückte sie kurz. »Danke, dass du das so tapfer mitmachst. Ich weiß, dass dir der Friedhof nicht besonders gefallen hat. Aber das hier wird sicher auch für dich interessant.«
Ellen schenkte ihrem Freund ein kurzes Lächeln. Nach diesem Abend würde sie eine Menge bei ihm gut haben. Und daran würde sie ihn später auf jeden Fall erinnern. Doch nun musste sie erst mal diesen Ausflug in Edinburghs Unterwelt hinter sich bringen.
Ihr Führer hieß Ian und übte seinen Beruf eindeutig mit Leib und Seele aus. Schon auf dem Friedhof hatte er voller Begeisterung von jedem Spuk erzählt, der dort angeblich umging. Er schien tatsächlich eine Menge Ahnung zu haben, das musste Ellen ihm lassen. Aber sie schloss auch nicht aus, dass er selbst an das glaubte, was er den Touristen erzählte. Irgendwie wirkte er nicht so, als würde er das alles nur als Schau für seine Kunden abziehen. Er war noch recht jung, vielleicht ein paar Jahre älter als Nick und sie. Doch er schien in dieser Tätigkeit eindeutig seine Erfüllung gefunden zu haben.
»Sind alle da? Gut. Wäre ja peinlich, wenn mir unterwegs jemand verloren gegangen wäre. Das ist mir nämlich in all den Jahren, die ich das nun schon mache, noch nie passiert, und ich würde nur ungern jetzt damit anfangen.«
Die Gruppe lachte höflich und lauschte Ian.
»Also, wir werden jetzt gleich die Gewölbe betreten. Ein paar Dinge vorweg, damit alles seine Ordnung hat. Bleiben Sie immer dicht zusammen und achten Sie darauf, wo Sie hintreten. Der Boden ist hier oft uneben und rutschig, und wir wollen ja nicht, dass der Abend für Sie im Krankenhaus endet. Außerdem gilt auch hier das, was ich Ihnen schon auf dem Friedhof mitgeteilt habe. Wenn Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt der Führung unwohl fühlen, sagen Sie mir bitte sofort Bescheid. Ich hatte schon oft Leute, die einfach zusammengeklappt sind, und das sollten wir nach Möglichkeit vermeiden. Und auch hier unten können Geister nicht ausgeschlossen werden. Wenn Sie also das Gefühl haben, dass Sie die Präsenz eines Toten umgibt, könnten Sie damit durchaus richtigliegen.«
Wieder lachten die Leute pflichtbewusst über den makaberen Scherz, den Ian vermutlich jeden Abend machte. Auch Nick war wieder voll bei der Sache. Ellen konnte seine Aufregung regelrecht spüren. Na gut, dachte sie. Dann wollen wir das Ganze mal hinter uns bringen. Sie biss die Zähne zusammen und betrat zusammen mit der Gruppe den ersten Gewölberaum.
Die ersten fünfzehn Minuten waren tatsächlich nicht so schlimm. Eigentlich waren sie sogar ziemlich informativ. Ellen lauschte Ians Schilderungen über den Bau der Gewölbe unter den Bögen der Brücke. Sie staunte, als er erklärte, dass das hier einst eine Art Einkaufszentrum gewesen sei, wobei die einzelnen Räume jeweils als kleine Läden fungierten, in denen man alles Mögliche erwerben konnte. Doch angenehm war es hier sicher auch damals nicht gewesen. Ellen konnte sich lebhaft vorstellen, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen die Leute hier gehaust hatten. Die Luft war klamm und roch abgestanden und modrig. Überall rann Feuchtigkeit an den Wänden hinunter, und man hatte das Gefühl, durch eine von Menschenhand geschaffene Tropfsteinhöhle zu gehen.
Nick ließ immer wieder ihre Hand los, um sich irgendeine Ecke oder einen Stein im Gemäuer genauer anzusehen. Ellen wusste nicht, ob er Ians Vortrag überhaupt noch zuhörte. Er schien durch diese Räume zu wandern, als wäre er irgendwie in die Vergangenheit abgerutscht und könnte erkennen, wie es hier damals ausgesehen hatte. Ellen hätte ihn lieber an ihrer Seite gehabt, aber sie wollte ihm nicht den Spaß verderben. Irgendjemand stellte Ian eine Frage, und Ellen richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Führer.
»Ja, natürlich war das Leben hier unten gefährlich«, beantwortete Ian die Frage des offenbar sensationslüsternen Gruppenmitglieds begeistert. »Sie können sich sicher vorstellen, dass sich hier in der Dunkelheit jede Menge zwielichtige Gestalten herumtrieben. Es war ein perfekter Ort für kriminelle Machenschaften. Zum einen konnte man sich hier gut verstecken, und zum anderen fragte niemand nach, wenn irgendein Bettler oder Tagelöhner verschwand. Mord und Raubüberfälle waren damals zweifellos an der Tagesordnung.«
Ellen spürte einen Kloß im Hals, der nun plötzlich dicker wurde. Sie schluckte und wollte Luft holen. Doch die klamme Atmosphäre in dem Gewölbe erschwerte ihr das Atmen. Sie drehte sich herum, um nach Nick zu sehen,...
| Erscheint lt. Verlag | 5.2.2019 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Professor Zamorra | Professor Zamorra |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror | |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • Deutsch • eBook • eBooks • Extrem • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • Lovecraft • Männer • Neuerscheinung • Neuerscheinungen • Paranomal • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony Ballard • Top • Walking Dead |
| ISBN-10 | 3-7325-7614-0 / 3732576140 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-7614-2 / 9783732576142 |
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