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Stella (eBook)

Fachbuch-Bestseller
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
224 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-26283-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stella -  Takis Würger
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Es ist 1942. Friedrich, ein stiller junger Mann, kommt vom Genfer See nach Berlin. In einer Kunstschule trifft er Kristin. Sie nimmt Friedrich mit in die geheimen Jazzclubs. Sie trinkt Kognak mit ihm und gibt ihm seinen ersten Kuss. Bei ihr kann er sich einbilden, der Krieg sei weit weg. Eines Morgens klopft Kristin an seine Tür, verletzt, mit Striemen im Gesicht: 'Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.' Sie heißt Stella und ist Jüdin. Die Gestapo hat sie enttarnt und zwingt sie zu einem unmenschlichen Pakt: Wird sie, um ihre Familie zu retten, untergetauchte Juden denunzieren? Eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht - über die Entscheidung, sich selbst zu verraten oder seine Liebe.

Takis Würger, geboren 1985, hat an der Henri-Nannen-Journalistenschule das Schreiben gelernt und Ideengeschichte in Cambridge studiert. Er arbeitet als Redakteur für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. 2017 erschien sein Debütroman Der Club, der mit dem Debütpreis der lit.Cologne ausgezeichnet wurde und für den aspekte-Literaturpreis nominiert war, 2019 bei Hanser sein Roman Stella. Takis Würger lebt in Berlin.

"Von Daniel Kehlmann stammt der Satz, dass ein Roman besonders gut sein müsse, wenn er den Holocaust zum Gegenstand hat. Dies sei ein literarische, aber mehr noch eine moralische Verpflichtung eines jeden Autors. Takis Würger wird diesem Anspruch in seinem neuen Roman 'Stella' gerecht. Leise, glaubwürdig und ja, auch schonungslos, aber an keiner Stelle unempathisch, effekthascherisch oder gar reißerisch erzählt der Schriftsteller und Spiegel-Reporter die Geschichte der jüdischen 'Greiferin' Stella Goldschlag, der Unfassbares angetan wurde und die dann anderen Menschen selbst Unfassbares angetan hat." Philipp Peyman Engel, Jüdische Allgemeine, 16.01.19

Im Jahr 1922 verurteilte ein Richter Adolf Hitler zu drei Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs, ein englischer Forscher entdeckte das Grab Tutanchamuns, James Joyce veröffentlichte den Roman Ulysses, die Kommunistische Partei Russlands wählte Josef Stalin zum Generalsekretär und ich wurde geboren.

Ich wuchs auf in einer Villa außerhalb des Ortes Choulex bei Genf, mit Zedern davor, siebzehn Morgen Land und Leinenvorhängen an den Fenstern. Im Keller lag eine Planche, auf der ich Fechten lernte. Auf dem Dachboden lernte ich, Kadmiumrot und Neapelgelb am Geruch zu erkennen und wie es sich anfühlt, mit einem Stock aus geflochtenem Rattan geschlagen zu werden.

Dort, wo ich herkomme, beantwortet man die Frage, wer man ist, mit den Namen der Eltern. Ich könnte sagen, dass Vater in dritter Generation einen Konzern leitete, der Samt aus Italien importierte. Ich könnte sagen, dass Mutter die Tochter eines deutschen Großgrundbesitzers war, der sein Gut verlor, weil er zu viel Armagnac trank. »Verschnapst«, würde Mutter sagen, was ihren Stolz nicht minderte. Sie erzählte gern, dass die gesamte Führungsriege der Schwarzen Reichswehr zu seiner Beerdigung gekommen war.

Abends sang Mutter Schlaflieder von Sternschnuppen, und wenn Vater reiste und Mutter gegen die Einsamkeit trank, ließ sie den Tisch im Speisesaal an die Wand schieben, legte Schellackplatten auf und tanzte Wiener Walzer mit mir. Ich musste weit nach oben greifen, um meine Hand an ihr Schulterblatt zu legen. Sie sagte, ich würde gut führen. Ich wusste, dass sie log.

Sie sagte, ich sei der schönste Junge Deutschlands, obwohl wir nicht in Deutschland lebten.

Manchmal durfte ich ihre Haare mit einem Kamm aus Büffelhorn kämmen, den Vater ihr mitgebracht hatte, und sie sagte, wie Seide sollen sie sein. Sie ließ mich versprechen, dass ich, wenn ich als Mann eine Ehefrau hätte, dieser Frau die Haare kämme. Ich betrachtete Mutter im Spiegel, wie sie mit geschlossenen Augen vor mir saß und wie ihr Haar schimmerte. Ich versprach es.

Wenn sie in mein Zimmer kam und mir eine gute Nacht wünschte, legte sie beide Hände an meine Wangen. Wenn wir spazieren gingen, hielt sie meine Hand. Wenn wir in die Berge stiegen und sie oben sieben oder acht Gipfelkurze trank, war ich glücklich, dass ich sie stützen durfte beim Abstieg.

Mutter war Künstlerin, sie malte. In unserer Diele hingen zwei ihrer Bilder, Öl auf Leinwand. Ein Stillleben, Großformat, das Tulpen und Trauben zeigte. Und ein kleines Gemälde, die Rückenansicht eines Mädchens, das seine Arme über dem Kreuzbein verschränkte. Ich schaute das Bild lange an. Einmal versuchte ich, die Finger zu verschränken wie das Mädchen auf dem Bild. Es gelang mir nicht. Meine Mutter hatte eine so unnatürliche Drehung der Handgelenke abgebildet, dass jedem echten Menschen die Knochen gebrochen wären.

Mutter sprach oft darüber, was für ein großer Maler ich sein würde, und selten darüber, wie sie malte. Wenn es spät wurde, erzählte sie davon, wie leicht das Malen gewesen sei in ihrer Jugend. Sie hatte sich als Mädchen an der Allgemeinen Malerschule der Wiener Kunstakademie beworben und war in der Prüfung an der Kohlezeichnung gescheitert. Vielleicht war sie auch abgelehnt worden, weil damals kaum Frauen an den Akademien studieren durften. Ich wusste, ich durfte nicht danach fragen.

Mit meiner Geburt hatte Mutter den Entschluss gefasst, dass ich an ihrer Stelle die Kunstakademie in Wien besuchen würde oder mindestens die Akademie der Bildenden Künste in München. Ich sollte mich hüten vor allem, was darunter lag, vor der Kunstschule Feige und Strassburger in Berlin oder der Zeichenschule Röver in Hamburg, das seien verjudete Läden.

Mutter zeigte mir, wie man einen Pinsel hält und wie man Ölfarben anrührt. Ich gab mir Mühe, weil ich sie glücklich machen wollte, und lernte weiter, wenn ich allein war. Wir fuhren nach Paris, schauten uns in der Galerie nationale du Jeu de Paume die Bilder Cézannes an, und Mutter sagte, wenn irgendwer einen Apfel zeichne, müsse der so aussehen wie bei Cézanne. Ich durfte Mutters Leinwände grundieren, ging Hand in Hand mit ihr durch die Museen und versuchte, mir alles zu merken, wenn sie in einem Bild die Farbtiefe lobte und in einem anderen die Perspektive kritisierte. Ich sah sie nie malen.

*

Im Jahr 1929 kollabierte in New York die Börse, bei den Landtagswahlen in Sachsen gewann die NSDAP fünf von sechsundneunzig Sitzen, und in meinen Heimatort fuhr kurz vor Weihnachten eine Kutsche.

Sie glitt auf Kufen über den Schnee. Auf dem Bock saß, in einem bodenlangen Mantel aus dunkelgrünem Loden, ein Fremder. Vater würde ihn auch mit Hilfe der Gendarmerie nie finden. Es blieb ungeklärt, warum der Mann ein Ambosshorn neben sich auf dem Kutschbock transportierte.

Wir waren vielleicht ein Dutzend Jungen und warfen vom Kirchplatz aus mit Schneebällen nach dem metallenen Hahn auf dem Turm.

Ich weiß nicht, wer als Erstes auf den Kutscher warf. Die Schneekugeln kreuzten sich in ihren Flugbahnen und zerplatzten am Holz des Kutscherhauses. Ein Schneeball traf den Mann an der Schläfe, ich glaubte, es war meiner. Ich hoffte, die anderen Jungen würden mich dafür mögen. Der Mann zuckte nicht.

Er zügelte das Pony. Er ließ sich Zeit dabei, stieg vom Bock, flüsterte in das Ohr des Tieres und ging auf uns zu. Als er vor uns stand, tropfte Schmelzwasser in seinen Kragen. Wir waren jung, wir liefen nicht weg. Angst musste ich noch lernen. Der Kutscher trug etwas Kurzes, Geschmiedetes, Dunkles in der Hand.

Er sprach Urnerdeutsch, meine ich, einen Dialekt, den man selten hörte in meiner Gegend.

»Wer hat den auf mich gemünzt?«, fragte er leise und betrachtete uns. Ich hörte, wie der Schnee unter meinen Sohlen knisterte, er war überfroren und glitzerte. Die Luft roch nach nasser Wolle.

Vater hatte mir gesagt, die Wahrheit sei ein Zeichen von Liebe. Die Wahrheit sei ein Geschenk. Damals war ich mir sicher, dass das stimmte.

Ich war ein Kind. Ich mochte Geschenke. Was Liebe war, wusste ich nicht. Ich machte einen Schritt.

»Ich.«

Die Spitze des Ambosshorns durchdrang meine rechte Wange am Kiefergelenk und öffnete mein Gesicht bis zum Mundwinkel. Ich verlor zwei Backenzähne und einen halben Schneidezahn. Daran habe ich keine Erinnerung. Ich erinnere mich wieder, als ich in Mutters graue Augen schaute. Sie saß an meinem Krankenhausbett und trank Tee mit Kornbrand darin, den sie aus einer Isolierkanne einschenkte. Vater war auf Reisen.

»Ich bin so froh, dass deiner Malhand nichts passiert ist«, sagte Mutter. Sie strich über meine Finger.

Durch meine Wange zog sich ein in Karbolsäure getränkter Faden. Die Wunde entzündete sich. In den kommenden Wochen ernährte ich mich von Hühnerbrühe, die unsere Köchin täglich auskochte. Anfangs sickerte die Brühe durch die Naht.

Die Medikamente betäubten mich. Erst als ich in den Spiegel schaute, begriff ich, dass ich durch den Schlag des Kutschers die Fähigkeit verloren hatte, Farben zu sehen.

Manche Menschen können Rot und Grün nicht unterscheiden, ich hatte alle Farben verloren. Karmesin, Smaragd, Violett, Purpur, Azur, Blond, das waren für mich nur noch Namen für verschiedene Schattierungen von Grau.

Die Ärzte würden von cerebraler Achromatopsie sprechen, einer Farbsinnstörung, die manchmal bei älteren Menschen nach einem Hirnschlag auftrete.

Das verwächst sich, würden sie sagen.

Mutter legte mir einen Zeichenblock auf die Knie und brachte mir eine Schatulle Buntstifte. Die habe sie aus Zürich besorgen lassen, damit wir im Krankenhaus den Unterricht fortsetzen könnten.

»Die Farben sind weg«, sagte ich. Ich wusste, wie wichtig ihr das Malen war.

Mutter legte den Kopf schief, als hätte sie mich nicht gehört.

»Mama, Entschuldigung, ich … ich sehe die Farben nicht mehr.«

Sie ließ einen Arzt kommen, ich musste ein paar Bilder anschauen und bekam eine Flüssigkeit ins Auge geträufelt.

Der Arzt erklärte Mutter, dass das manchmal vorkomme, so schlimm sei es ja nicht, die Vorführungen des Lichtspielhauses seien ohnehin schwarzweiß.

»Entschuldigung, Mama«, sagte ich, »entschuldige bitte. Mama?«

Der Arzt sagte, es sei ein Wunder, dass in meinem Gesicht das Geflecht des Nervus facialis heil geblieben war. Hätte es Schaden genommen, wäre ich im Sprechen behindert und Speichel würde aus meinem Mund tropfen. Der Arzt sagte etwas von Glückskind. Mutter saß daneben. Sie trank in großen Schlucken.

*

Mutter schickte ein Telegramm nach Genua zu...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1942 • 20. Jahrhundert • Berlin • Gestapo • Greiferin • Judentum • Liebe • Nationalsozialismus • Stella Goldschlag • Verrat • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-446-26283-0 / 3446262830
ISBN-13 978-3-446-26283-6 / 9783446262836
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