Stieg Larssons Erbe (eBook)
250 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958902497 (ISBN)
Jan Stocklassa ist ein renommierter, schwedischer Journalist und Autor. Er arbeitet als Dokumentarfilmer und war als Herausgeber des Magazins Metro in der Tschechischen Republik tätig. Gemeinsam mit den Journalisten von SVT enthüllte er unter anderem die kontroverse Geschichte hinter Schwedens Verkauf von Kampfflugzeugen in den Mittleren Osten: eine preisgekrönte Reportage.
Jan Stocklassa ist ein renommierter, schwedischer Journalist und Autor. Er arbeitet als Dokumentarfilmer und war als Herausgeber des Magazins Metro in der Tschechischen Republik tätig. Gemeinsam mit den Journalisten von SVT enthüllte er unter anderem die kontroverse Geschichte hinter Schwedens Verkauf von Kampfflugzeugen in den Mittleren Osten: eine preisgekrönte Reportage.
PROLOG
Stockholm, 20. März 2013
Die Scheibenwischer kämpften gegen den schweren Schnee. Seit ich geparkt hatte, waren nicht mehr als fünfzehn Minuten vergangen, und doch war es dem Schneesturm gelungen, meinen dunkelroten Volvo unter derselben Schneedecke zu verbergen wie den Rest der Umgebung. Die Geräusche waren gedämpft, und der Anblick der wirbelnden Flocken erschwerte die Sicht, obwohl ich wusste, dass ich mich auf dem Parkplatz der flachen Mietlagerhalle befand.
Als ein schwaches Motorgeräusch erklang, wischte ich mit der Hand über die beschlagene Seitenscheibe; ein kleines Rinnsal lief mir die Handkante entlang bis in den Jackenärmel. Ein silberner Kombi hatte rechts neben mir geparkt. Bevor ich den Motor abstellen konnte, hatte sich bereits die Tür des anderen Wagens geöffnet. Der Mann hatte die Kapuze seines Parkas aufgesetzt, das Gesicht hinter einem langen Schal verborgen. Er deutete über mein Auto hinweg zum Eingang. Als ich ihn erreichte, hatte er schon den Türcode eingetippt. Offenbar war es nicht die richtige Kombination, denn der Mann holte sein Handy heraus und rief jemanden an. Die Minuten, die wir dort standen, vergingen so langsam wie ein schwedischer Wahlkampf. Das Archiv lag seit zehn Jahren im Tiefschlaf und schien keinerlei Ambition zu haben, allzu bald daraus erwachen zu wollen. Doch dann glitt die Schiebetür endlich beiseite und ließ uns erst in eine Luftschleuse und dann in einen warmen, trockenen Flur mit starken Leuchtröhren und sich schier endlos aneinanderreihenden Rolltoren aus Blech. Nach der Eiseskälte war es hier fast gemütlich.
So ohne Kapuze, Mütze und Schal erkannte ich, dass es wirklich Daniel Poohl von der Zeitschrift Expo war, der mich hereingelassen hatte. Wir schüttelten uns die Hände und liefen dann den langen Flur entlang, nahmen die Treppe zum ersten Stock und bogen in einen identisch wirkenden Gang, wo Daniel vor einem der Rolltore stehen blieb. Nichts als ein kleines Blechschild mit einer eingestanzten anonymen Ziffernkombination verriet, dass wir angekommen waren. Nichts deutete darauf hin, dass sich hinter diesem Tor ein Schatz verbarg, der den Weg zu etwas unschätzbar Wertvollem weisen würde.
Das Tor rollte sich scheppernd ein, und zum Vorschein kam ein bis zum Bersten gefüllter Raum: Regale reichten vom Boden bis zur Decke, darin Umzugskartons. In der Mitte standen in zwei schmalen Reihen übereinandergestapelte Kartons bis vor unsere Füße. Ich warf einen Blick auf die schmale Seite eines Kartons, dort standen mit dickem Schwarzstift die Worte, die bestätigten, dass ich endlich am Ziel meiner langen Suche angelangt war: Stiegs Archiv.
Zusammen hoben Daniel und ich den obersten Karton herunter. Er hielt den Deckel auf, und ich zog ein paar altmodische braune Hängemappen heraus. Jede Mappe war oben akribisch mit sehr kleiner, leserlicher Handschrift gekennzeichnet. Auf denen in meiner Hand stand: WACL, 33-Jähriger, Resistance International, Südafrika-Spur und Christer Pettersson. Sofort kribbelten meine Finger, als wären die Mappen elektrisch geladen. Allein die Stichpunkte verdeutlichten schon, dass sich die Dokumente, die ich in den Händen hielt, mit dem Mord an Schwedens Ministerpräsidenten Olof Palme beschäftigten.
Es war so viel mehr Material, als ich zu hoffen gewagt hatte, und ich fragte mich, ob ich überhaupt alles durcharbeiten könnte.
Daniel holte mich zurück in die Wirklichkeit. Trotz seiner erst einunddreißig Jahre war er bereits Chefredakteur und Geschäftsführer von Expo und hatte sein Leben dem Kampf gegen Rassismus und Intoleranz gewidmet. Er war zuständig für das Archiv und machte deutlich, dass ohne seine Einwilligung nicht ein Blatt das Gebäude verlassen und ich niemandem verraten durfte, wo sich das Lager befand.
Also musste ich vor Ort lesen, aber es gab keinen Platz auf der Welt, an dem ich lieber gewesen wäre als im fensterlosen Flur dieses Flachbaus, auf einem Umzugskarton sitzend, während draußen ein Schneesturm wütete. Die Zeit war knapp, ich würde nur einen Bruchteil des Materials sichten können, und die Chance, schon irgendwelche Schlussfolgerungen zu Stiegs Gedanken zu ziehen, war minimal.
Hinter mir lag bereits ein langer, holpriger Weg. Ich konnte auf eine Reihe gescheiterter Versuche blicken, den Mord an Olof Palme aufzuklären, für die ich jede freie Sekunde meines Lebens geopfert hatte. Und jetzt hatte mich dieser Weg doch noch vorangebracht und zum vergessenen Archiv eines der bekanntesten Schriftsteller der Welt geführt. Es war einer von wenigen verbliebenen Strohhalmen, nach denen es sich zu greifen lohnte. Stieg war wohl der Ansicht gewesen, dass der südafrikanische Geheimdienst unter Mithilfe schwedischer Rechtsextremisten dahintersteckte. Ich hingegen war davon überzeugt, dass ein Amateur die Tat begangen hatte. Das passte nicht zusammen.
Trotzdem wollte ich dranbleiben. Das Material seines Archivs wirkte viel zu interessant, um es außer Betracht zu lassen. Damals wusste ich noch nicht, dass meine Nachforschungen mich und andere in Gefahr bringen würden, weil wir es mit Extremisten, Geheimagenten, Sündenböcken und Mördern zu tun bekamen.
Stieg hatte einen siebenseitigen Brief an Gerry Gable, den Chefredakteur von Searchlight geschickt, Großbritanniens führender Zeitschrift gegen Rassismus und Vorbild für Expo. Der Brief entstand keine drei Wochen nach dem Mord an Olof Palme.
Stockholm, 20. März 1986
Lieber Gerry, liebe Freunde,
der Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme ist, um ganz ehrlich zu sein, einer der unglaublichsten und erstaunlichsten Mordfälle, die ich je zu betreuen hatte.
Erstaunlich, weil die Geschichte ständig Haken schlägt und zu verblüffenden neuen Erkenntnissen führt, die bis zum nächsten Redaktionsschluss schon wieder übertrumpft werden. Unglaublich durch das politische Ausmaß und weil zum ersten Mal, soweit ich weiß, ein Staatsoberhaupt ermordet wurde, ohne dass es auch nur die geringste Spur eines Täters gibt. Entsetzlich – Morde sind immer entsetzlich –, weil das Opfer der Ministerpräsident war, ein von den Schweden aufrichtig geliebter und geschätzter Mensch, egal ob man nun Sozialdemokrat war oder (so wie ich selbst) nicht.
Seit in den frühen Morgenstunden des ersten März bei mir das Telefon geklingelt, mein Chefredakteur mir vom Mord erzählt und mich an meinen Schreibtisch abkommandiert hat, herrscht in meiner Welt ein ständiges Chaos. Du kannst dir vermutlich vorstellen, wie dein Leben aussähe, wenn du über den Mord an Frau Thatcher berichten müsstest, deren Mörder ohne jede Spur davongekommen wäre.
Und dazu der Schock. In jenen frühen Samstagmorgenstunden, während sich die Neuigkeit langsam im noch schlafenden Schweden verbreitete, traf ich Menschen, die spontan ihre Häuser verließen, mit blassen und verkniffenen Gesichtern. In der Redaktion sah ich erfahrene Kriminalreporter – Männer und Frauen, die das alles schon so häufig miterlebt hatten –, die mitten im Satz zu tippen aufhörten, sich auf ihre Arme stützten und in Tränen ausbrachen.
Ich selbst weinte an jenem Morgen. Als mich das verzweifelte Gefühl eines Déjà-vus überkam und ich einsehen musste, dass dies schon der zweite Ministerpräsident war, den ich innerhalb von weniger als drei Jahren verlor. Der erste war Maurice Bishop von Grenada – ein Mann, den ich mehr geliebt, respektiert und dem ich mehr getraut habe als den meisten. Nicht schon wieder.
Dann, nachdem sich die Trauer gelegt und Olof Palme unter der Erde war, erkannten die Journalisten mit einem Mal, dass dieser Mordfall ein wahres Kriminalrätsel wie aus dem Lehrbuch ist. Was für eine Story.
Manchmal erinnert die Geschichte mehr an einen temporeichen Roman von Robert Ludlum. An anderen Tagen eher an Agatha Christie, nur um sich schon wieder zu einem Krimi à la Ed McBain zu wandeln, gewürzt mit komödiantischen Elementen, die direkt von Donald Westlake stammen könnten. Die Stellung des Opfers, der politische Winkel, der unbekannte Mörder, die Spekulationen, die Spuren, die ins Nirgendwo führen, die Ankunft und Abfahrt von Staatsoberhäuptern und Königen, die Spuren von Autos, die Gerüchte, die Spinner und die Ich-habe-es-schon-immer-gewusst-Typen, die Telefonate, die anonymen Hinweise, die Festnahme und das Gefühl, dass endlich alle fehlenden Teilchen an ihren Platz fallen – nur um dann doch wieder im Sande zu verlaufen und zu noch größerer Verwirrung zu führen.
Darüber werden noch Bücher geschrieben werden. Für gewöhnlich wird jemand, der ein Staatsoberhaupt ermordet hat, innerhalb der ersten Sekunden oder Minuten nach der Tat gefasst oder getötet. Normalerweise werden die Ermittlungen im selben Moment aufgenommen und abgeschlossen. Nicht so in diesem Fall. Hier haben wir es mit einem Ministerpräsidenten zu tun, der mit seiner Frau zu einem nächtlichen Spaziergang aufbricht,...
| Erscheint lt. Verlag | 15.11.2018 |
|---|---|
| Übersetzer | Ulrike Brauns |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Millenium • Olof Palme • Stieg Larssons • Stocklassa |
| ISBN-13 | 9783958902497 / 9783958902497 |
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