Suche mich nicht (eBook)
480 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-22072-3 (ISBN)
Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nachdem er zunächst Politikwissenschaft studiert hatte, arbeitete er später in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Thriller wurden bisher in 45 Sprachen übersetzt, erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und wurden zu großen Teilen verfilmt. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde - dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award -, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Familie in New Jersey.
EINS
Simon saß auf einer Bank im Central Park – in Strawberry Fields, um genau zu sein – und spürte, wie ihm das Herz brach. Das bemerkte natürlich niemand – zunächst jedenfalls nicht. Erst als die Fäuste flogen und zwei Touristen, ausgerechnet aus Finnland, zu schreien anfingen, während neun weitere Parkbesucher aus den unterschiedlichsten Ländern den ganzen abscheulichen Vorfall mit ihren Handys filmten.
Aber bis dahin sollte noch eine Stunde vergehen.
In Strawberry Fields gab es weder Erdbeeren, noch konnte man diesen knapp einen Hektar großen Parkabschnitt als »Feld« (Einzahl) bezeichnen, und »Felder‹« (Plural) traf die Sache schon gar nicht. Aber der Name spielte auch nicht auf eine aktuelle oder frühere Nutzung dieser Fläche an, vielmehr bezog er sich auf den Beatles-Song Strawberry Fields Forever. Strawberry Fields ist eine dreieckige Fläche im Central Park West auf Höhe der 72nd Street und ist dem Andenken John Lennons gewidmet, der direkt gegenüber im Dakota Building erschossen wurde. Das Herzstück der Gedenkstätte ist ein rundes Mosaik aus schwarzen und weißen Steinen, die in dessen Mitte ein einzelnes Wort bilden:
IMAGINE
Tief bestürzt blickte Simon vor sich hin, nur gelegentlich blinzelte er. Touristen strömten herbei und machten Fotos mit dem berühmten Mosaik – Gruppenbilder, Selfies, manche knieten sich auf die Steine, manche legten sich darauf. Wie an fast jedem Tag war der Schriftzug IMAGINE mit frischen Blumen geschmückt, heute in Form eines Peace-Zeichens aus den Blütenblättern von roten Rosen, die seltsamerweise nicht wegwehten. Die Besucher warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren – vielleicht weil es eine Gedenkstätte war – und dieses ganz besondere Foto machen konnten, das sie dann auf Snapchat, Instagram oder einer anderen von ihnen bevorzugten Social-Media-Plattform mit einem John-Lennon-Zitat posteten, zum Beispiel ein paar Zeilen aus einem Beatles-Song oder etwas aus jenem Lied, in dem alle Menschen in Frieden lebten.
Simon trug Anzug und Krawatte. Er hatte die Krawatte nicht gelockert, als er sein Büro im World Financial Center in der Vesey Street verlassen hatte, um hierherzukommen. Ihm gegenüber saß eine – wie nannte man sie heutzutage? Obdachlose? Berberin? Drogenabhängige? Psychisch Kranke? Bettlerin? – ganz nah am berühmten Mosaik und spielte für Kleingeld Beatles-Songs. Die »Straßenmusikerin« – vielleicht eine wohlwollendere Bezeichnung – schrammelte auf einer verstimmten Gitarre herum und krächzte mit gelben Zähnen etwas über Penny Lane, die »in her ears and in her eyes« sei.
Eine befremdliche oder zumindest komische Erinnerung schoss Simon durch den Kopf: Simon war ständig an diesem Mosaik vorbeigekommen, als seine Kinder klein gewesen waren. Paige musste etwa neun, Sam sechs und Anya drei Jahre alt gewesen sein, als sie von ihrem Apartment, das nur fünf Blocks von hier entfernt zwischen der Columbus Avenue und Central Park West an der 67th Street lag, regelmäßig über Strawberry Fields zur Alice-in-Wonderland-Statue am Ostrand des Parks spazierten. Was sonst fast nirgends auf der Welt erlaubt war, hier war es kein Problem. Kinder durften auf den gut drei Meter hohen Figuren von Alice, dem verrückten Hutmacher, dem weißen Kaninchen und ein paar scheinbar unpassenden Riesenpilzen herumklettern und -krabbeln. Und Sam und Anya liebten das, sie wuselten auf den Figuren herum, wobei Sam irgendwann immer zwei Finger in Alice’ Bronze-Nasenlöcher steckte und Simon zurief: »Dad! Guck mal, Dad! Ich popel in Alice’ Nase!«, woraufhin Sams Mutter Ingrid unweigerlich seufzte und leise »Jungs« murmelte.
Aber Paige, ihre Erstgeborene, war schon damals ruhiger gewesen. Sie setzte sich mit einem Malbuch und unbeschädigten Wachsmalstiften auf eine Bank – sie mochte es nicht, wenn ein Stift zerbrach oder sich die Papierhülle löste – und achtete penibel darauf, die vorgegebenen Linien auf keinen Fall zu übermalen, sich also an die vorgegebenen Grenzen zu halten, was auch im übertragenen Sinne typisch für sie war. Als sie älter war – fünfzehn, sechzehn, siebzehn –, setzte Paige sich oft auf eine Bank und schrieb Geschichten oder Liedtexte in ein Notizbuch, das ihr Vater im Papyrus-Schreibwarenladen an der Columbus Avenue für sie gekauft hatte. Allerdings setzte Paige sich nicht einfach auf irgendeine Bank. Wohl an die viertausend Bänke im Central Park waren durch hohe Geldspenden gewissermaßen »adoptiert« worden. Sie waren mit Plaketten versehen, meistens in Gedenken an irgendjemanden, so auch die, auf der Simon gerade saß:
IN GEDENKEN AN CARL UND CORKY
Paige fühlte sich aber besonders zu jenen Bänken hingezogen, die kleine Geschichten erzählten:
Für C&B, die den Holocaust überlebten, und in dieser Stadt ein neues Leben anfingen …
Für meinen Schatz Anne. Ich liebe dich, ich verehre dich, ich himmle dich an.
Willst du mich heiraten?
An diesem Ort begann unsere Liebe am 12. April 1942 …
Die Bank, die Paige allen anderen vorzog, auf der sie mit ihrem neuesten Notizbuch stundenlang saß – und das war vielleicht ein erstes Anzeichen gewesen? –, erinnerte an eine mysteriöse Tragödie:
Für die schöne Meryl, 19 Jahre alt.
Du hast etwas viel Besseres verdient und bist so jung gestorben. Ich hätte alles getan, um dich zu retten.
Paige war von Bank zu Bank gegangen, hatte die Inschriften gelesen und sich eine gesucht, die sie als Anregung für eine Geschichte nutzte. In dem Versuch, die Beziehung zu ihr zu vertiefen, hatte Simon probiert, es ihr nachzutun, er besaß jedoch nicht die Fantasie seiner Tochter. Er setzte sich dennoch zu ihr und las Zeitung oder fummelte mit seinem Handy herum, auf dem er die Weltmärkte checkte oder sich Wirtschaftsmeldungen ansah, während Paiges Stift über die Seiten flog.
Was war mit diesen alten Notizbüchern geschehen? Wo waren sie jetzt?
Simon hatte keine Ahnung.
Gnädigerweise endete Penny Lane, und die Sängerin/Bettlerin leitete direkt zu All You Need Is Love über. Ein junges Paar setzte sich neben Simon auf die Bank. Der junge Mann flüsterte deutlich hörbar: »Kann ich ihr auch Geld geben, damit sie aufhört?«, woraufhin seine Begleiterin kicherte. »Das ist ja, als würde man John Lennon noch einmal ermorden.« Einige Leute warfen ein paar Münzen in den Gitarrenkasten der Frau, die meisten blieben jedoch auf Abstand oder wichen mit einer Miene zurück, als hätten sie etwas gewittert, mit dem sie nichts zu tun haben wollten.
Aber Simon hörte ganz genau zu und hoffte, einen Anflug von Schönheit in der Melodie, dem Song, dem Text oder wenigstens in der Vorführung zu entdecken. Er bemerkte weder die Touristen noch die Fremdenführer noch den Mann ohne Hemd (der besser eins hätte tragen sollen), der Wasserflaschen für einen Dollar verkaufte, den hageren Typen mit dem Unterlippenbärtchen, der für einen Dollar einen Witz erzählte (»Sonderangebot: 6 Witze für 5 Dollar«), die alte Asiatin, die John Lennon zu Ehren Weihrauch verbrannte, die Jogger, die Hundeausführer oder die Sonnenanbeter.
Aber in der Musik war keine Schönheit zu finden. Nirgends.
Simons Blick verweilte auf der jungen Bettlerin, die John Lennons Vermächtnis verstümmelte. Ihre Haare waren matt und verfilzt. Die Wangen eingefallen. Das Mädchen war spindeldürr, zerlumpt, dreckig, ramponiert, obdachlos, verloren.
Außerdem war sie Simons Tochter Paige.
* * *
Simon hatte Paige seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen – seit sie das Unverzeihliche getan hatte.
Und Ingrid hatte an diesem Punkt gänzlich mit ihr gebrochen.
»Diesmal lässt du sie in Ruhe«, hatte Ingrid zu ihm gesagt, nachdem Paige aus der Wohnung gerannt war.
»Soll heißen?«
Und dann hatte Ingrid, die wunderbare Mutter, die fürsorgliche Kinderärztin, die sich ganz der Aufgabe verschrieben hatte, bedürftigen Kindern zu helfen, gesagt: »Ich will sie hier im Haus nicht mehr sehen.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch, Simon. Bei Gott, das ist es.«
Monatelang hatte er Paige gesucht, ohne dass Ingrid etwas davon wusste. Manchmal war er systematisch vorgegangen, zum Beispiel, als er einen Privatdetektiv beauftragt hatte. Meistens hatte er es jedoch aufs Geratewohl versucht, war unter anderem planlos durch gefährliche, drogenverseuchte Viertel gelaufen und hatte den Zugedröhnten und Unappetitlichen dieser Stadt ihr Foto gezeigt.
Ohne Erfolg.
Paige hatte vor Kurzem ihren 21. Geburtstag gefeiert. (Aber wie? Mit einer Party? Einem Kuchen? Drogen? Hatte sie überhaupt gewusst, dass sie Geburtstag hatte?) Simon überlegte, ob sie womöglich aus Manhattan in die College-Stadt zurückgekehrt war, in der das ganze Elend seinen Anfang genommen hatte. Daher war er an zwei Wochenenden, an denen Ingrid Dienst und daher keine Gelegenheit hatte, allzu viele Fragen zu stellen, in den Norden hinaufgefahren und hatte sich im Craftboro Inn am College einquartiert. Er war auf dem Quad, der großen Grünfläche auf dem Campus, herumgelaufen und hatte daran gedacht, wie begeistert sie alle fünf – Simon, Ingrid, die zukünftige Studentin Paige, Sam und Anya – hier angekommen waren und Paige beim Einräumen ihres Zimmers geholfen hatten. Ingrid und er waren fast absurd zuversichtlich gewesen und hatten diese Uni mit den vielen, großen Grünflächen und den umliegenden Wäldern als echten Glücksgriff für ihre in Manhattan aufgewachsene Tochter betrachtet. Aber er erinnerte sich natürlich auch daran, wie...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2019 |
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Übersetzer | Gunnar Kwisinski |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Run Away |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ahnenforschung • Ausreißer • eBooks • Familienthriller • Lügengeflecht • New York • New-York-Times-Bestsellerautor • Psychothriller • Sekte • Spiegel-Bestseller-Autor • Thriller • Verschwörung |
ISBN-10 | 3-641-22072-6 / 3641220726 |
ISBN-13 | 978-3-641-22072-3 / 9783641220723 |
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