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Elf Arten der Einsamkeit (eBook)

Short Storys
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24606-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Elf Arten der Einsamkeit -  Richard Yates
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»Ein Meister der Zwischentöne« Deutschlandradio Kultur
Ob Angestellter in einem kleinen Büro in Manhattan, ob Feldwebel in Texas oder Tuberkulosepatient auf Long Island: Richard Yates' Figuren sind allesamt darum bemüht, ihr unglückliches Leben in den Griff zu bekommen. Sie hassen ihre Arbeit, trinken zu viel und träumen von besseren Zeiten. Sie schlingern zwar dem Untergang entgegen, aber sie weigern sich, ihre Illusionen aufzugeben.
Mit unerbittlicher Schärfe, aber tiefer Sympathie für seine Figuren, entlarvt Richard Yates die Schattenseiten des amerikanischen Traums. Meisterhafte Short Storys aus einer Welt, die ihre Ideale zu verlieren droht.

Richard Yates wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Wie Ernest Hemingway prägte Richard Yates eine Generation von Schriftstellern. Die DVA publiziert Yates' Gesamtwerk auf Deutsch, zuletzt erschien der Roman 'Eine strahlende Zukunft'. Das Debüt 'Zeiten des Aufruhrs' wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen von Regisseur Sam Mendes verfilmt. 'Cold Spring Harbor', zuerst veröffentlicht 1986, ist Yates' letzter vollendeter Roman.

Doktor Schleckermaul


Miss Price wußte von dem neuen Jungen bloß, daß er sein Leben größtenteils in einem Waisenhaus verbracht hatte und daß »Tante und Onkel«, die grauhaarigen Leute, bei denen er inzwischen wohnte, die rechtmäßigen, vom Wohlfahrtsamt der Stadt New York bezahlten Pflegeeltern waren. Ein weniger engagierter oder weniger phantasievoller Lehrer hätte vielleicht auf mehr Einzelheiten gedrängt, aber Miss Price war mit diesem schlichten Überblick zufrieden. Ja, er genügte, um sie mit dem Gefühl eines Auftrags zu erfüllen, was ihre Augen schon am ersten Morgen, beim Eintritt des Jungen in die vierte Klasse, hell wie die Liebe leuchten ließ.

Er kam früh und setzte sich in die hinterste Reihe, kerzengerade, mit exakt unter dem Tisch gekreuzten Füßen, die Hände mitten auf der Schreibplatte verschränkt – als mache ihn die Symmetrie weniger verdächtig; als die übrigen Kinder hintereinander hereinmarschierten und ihre Plätze einnahmen, bedachte ihn jeder mit einem langen, ausdruckslosen Blick.

»Wir haben heute morgen einen neuen Klassenkameraden«, sagte Miss Price; sie brachte das Offensichtliche so betont hervor, daß alle am liebsten gekichert hätten. »Er heißt Vincent Sabella und kommt aus New York City. Ich weiß, wir werden unser Bestes tun, damit er sich wie zu Hause fühlt.«

Hierauf fuhren die Mitschüler herum und starrten ihn an, so daß er den Kopf ein wenig einzog und auf seinem Sitz hin und her rutschte. Normalerweise trug der Umstand, daß einer aus New York kam, dem Betreffenden ein gewisses Prestige ein, denn für die meisten Kinder war die Stadt ein ehrfurchtgebietender Ort für Erwachsene, der ihre Väter tagtäglich verschluckte und den sie nur selten, und dann in den besten Kleidern, zum Vergnügen besuchen durften. Andererseits war auf den ersten Blick zu erkennen, daß Vincent Sabella überhaupt nichts mit Wolkenkratzern zu tun hatte. Auch ohne sein verfilztes schwarzes Haar und die graue Haut hätte ihn seine Aufmachung verraten: eine lachhaft neue Cordhose, lachhaft alte Turnschuhe und ein gelbes, viel zu kleines Sweatshirt, auf dessen Vorderseite die kargen Überreste einer aufgedruckten Mickymaus zu sehen waren. Er stammte eindeutig aus jenem Viertel von New York, das man durchqueren mußte, wenn man mit der Bahn in Richtung Grand Central unterwegs war – aus jenem Viertel, wo die Leute ihr Bettzeug über die Fenstersimse hängten und sich den ganzen Tag von Langeweile benebelt hinauslehnten und wo man nichts als schnurgerade, tiefe Straßenzüge sah, die sich im Wirrwarr der Gehwege allesamt ähnelten und in denen es von graugesichtigen, in irgendein hoffnungsloses Ballspiel vertieften Jungen wimmelte.

Die Mädchen fanden ihn nicht besonders hübsch und wandten sich ab; die Jungen hingegen setzten ihre Musterung fort und begutachteten ihn mit leisem Grinsen von oben bis unten. Er zählte zu der Sorte von Jungen, die sie gewöhnlich für »knallhart« hielten, zu der Sorte, deren Blick ihnen in unvertrauter Umgebung schon so manches Mal Unbehagen bereitet hatte; hier bot sich eine einzigartige Chance zur Vergeltung.

»Wie sollen wir denn zu dir sagen – Vincent?« erkundigte sich Miss Price. »Ich meine, was ist dir lieber, Vincent oder Vince oder … oder wie?« (Es war eine rein akademische Frage; auch Miss Price wußte, die Jungen würden »Sabella« zu ihm sagen, und die Mädchen würden ihn überhaupt nicht ansprechen.)

»Vinny’s okay«, antwortete er mit sonderbar krächzender Stimme, die sich in den häßlichen Straßen seines Viertels offenbar heiser geschrien hatte.

»Ich habe dich leider nicht verstanden«, sagte Miss Price und reckte den hübschen Kopf seitwärts nach vorne, so daß ihr Haar ein Stück über die Schulter wogte. »Sagtest du Vince?«

»Vinny’s recht«, wiederholte er und rutschte unruhig hin und her.

»Vincent, ja? Na schön, also dann Vincent.« Ein paar Mitschüler kicherten, aber keinem wäre es eingefallen, die Lehrerin zu korrigieren; der Spaß würde größer sein, wenn man das Mißverständnis stehen ließ.

»Ich mache mir nicht die Mühe, dir jeden einzelnen hier mit Namen vorzustellen, Vincent«, fuhr Miss Price fort, »im Lauf des Unterrichts lernst du ja die Namen sowieso kennen, oder? Und wir erwarten auch nicht, daß du schon am ersten Tag oder so richtig mitarbeitest; laß dir nur Zeit, und wenn du etwas nicht gleich verstehst, dann genier dich nicht und frag einfach nach.«

Er ließ ein undeutliches Krächzen hören und setzte ein flüchtiges Lächeln auf – gerade lange genug, um zu zeigen, daß er gelbe Zähne hatte.

»Also dann«, sagte Miss Price und ging zur Tagesordnung über. »Wir haben Montagmorgen, und als erstes stehen die Erlebnisberichte auf dem Programm. Wer möchte anfangen?«

Sechs oder sieben Hände gingen hoch, Vincent Sabella war vorerst vergessen; Miss Price zuckte in gespielter Verwirrung zurück. »Du liebe Güte, heute haben wir aber viele Erlebnisberichte«, sagte sie. Die Idee zu diesen Berichten – eine fünfzehnminütige Veranstaltung, bei der die Kinder an jedem Montag ihre Wochenenderlebnisse schildern sollten – stammte von ihr, und sie war verständlicherweise stolz darauf. Auf der letzten Lehrerkonferenz hatte der Schulleiter sie dafür gelobt und betont, daß dies einen großartigen Brückenschlag zwischen den Welten der Schule und des Zuhauses darstelle und darüber hinaus eine vorzügliche Methode sei, den Kindern Selbstvertrauen und sicheres Auftreten beizubringen. Das Ganze verlange umsichtige Kontrolle – die Schüchternen müßten aus der Reserve gelockt, die Vorlauten gebremst werden –, aber im allgemeinen, so Miss Price gegenüber dem Schulleiter, hätten alle Spaß daran. Besonders heute hoffte sie, daß es Spaß machen würde, schon um Vincent Sabella die Befangenheit zu nehmen, und deswegen rief sie Nancy Parker als erste auf; niemand konnte so wie Nancy die Zuhörer in Bann halten.

Die Mitschüler verstummten, als Nancy anmutig nach vorne trat; auch die zwei oder drei Mädchen, die sie insgeheim verachteten, mußten, wenn sie ihren Erlebnisbericht vortrug, Entzücken vortäuschen (so beliebt war sie), und den Jungen, deren größtes Vergnügen darin bestand, sie auf dem Pausenhof unter Gekreisch auf den Boden zu schubsen, blieb nichts weiter übrig, als sie mit albern zaghaftem Lächeln anzublicken.

»Also …«, fing sie an und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund; die ganze Klasse lachte.

»Aber Nancy«, sagte Miss Price. »Du kennst doch die Regel mit dem Also, wenn man mit einem Erlebnisbericht beginnt.«

Nancy kannte die Regel; sie hatte sie nur verletzt, um die Lacher einzuheimsen. Sie unterdrückte ein Kichern, strich mit den zarten Zeigefingern über die Seitennähte ihres Rocks und begann, diesmal richtig, von vorn. »Am Freitag hat meine ganze Familie einen Ausflug im neuen Wagen von meinem Bruder gemacht. Mein Bruder hat sich letzte Woche einen neuen Pontiac gekauft, und er wollte uns alle auf eine Fahrt mitnehmen – um den Wagen mal auszuprobieren und so. Wir sind in die Innenstadt von White Plains gefahren und haben dort in einer Wirtschaft zu Abend gegessen, und hinterher wollten wir alle ins Kino, in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber mein Bruder hat gesagt, der Film wär’ zu gruslig und so, und ich wär’ noch zu jung dafür – oh, war ich vielleicht sauer auf ihn! Und sonst, Moment. Am Samstag war ich den ganzen Tag zu Hause und hab meiner Mutter geholfen, das Brautkleid für meine Schwester zu nähen. Meine Schwester ist nämlich verlobt, und meine Mutter näht das Brautkleid für sie. Das war am Samstag, und am Sonntag ist ein Freund von meinem Bruder zum Abendessen gekommen, und später am Abend mußten die zwei zum College zurück, und ich hab’ lang aufbleiben und mich von ihnen verabschieden dürfen und so, und ich glaub’, das war alles.« Nancy hatte immer ein sicheres Gespür dafür, wie man sich kurzfaßt – oder vielmehr, wie man das Ganze kürzer erscheinen läßt, als es tatsächlich gewesen war.

»Sehr gut, Nancy«, sagte Miss Price. »Wer ist der nächste?«

Der nächste war Warren Berg; er schritt nach vorne und rückte sich dabei sorgfältig die Hose zurecht. »Am Samstag bin ich zum Mittagessen rüber zu Bill Stringer«, begann er in seinem unverblümten Von-Mann-zu-Mann-Stil; in der vorderen Reihe rutschte Bill Stringer vor Verlegenheit hin und her. Berg und Bill Stringer waren dicke Freunde, und ihre Erlebnisberichte überschnitten sich oft. »Nach dem Essen sind wir mit dem Rad in die Innenstadt von White Plains gefahren. Bloß daß wir dann Dr. Jekyll und Mr. Hyde gesehn haben.« An dieser Stelle nickte er in Richtung Nancy, die, als sie einen leisen, neidischen Seufzer hören ließ, erneut ein paar Lacher einheimste. »Der Film war übrigens echt gut«, fuhr er mit wachsender Begeisterung fort. »Es geht da um so ’nen Typ, der …«

»Um einen Mann, der«, korrigierte Miss Price.

»Um einen Mann, der irgend so was Chemisches zusammenmixt und das Zeug dann trinkt. Und jedesmal wenn er’s trinkt, verwandelt er sich in ein richtiges Ungeheuer. Du siehst erst, wie er das Zeug trinkt, und dann, wie seine Hände auf einmal ganz schuppig werden, als wär’ er ein Reptil oder so, und dann, wie sich sein Gesicht in ein richtiges Gruselgesicht verwandelt – mit Fangzähnen und so. Die direkt aus dem Mund rausragen.«

Die Mädchen schüttelten sich vor Vergnügen. »Tja«, sagte Miss Price, »ich glaube, es war wohl doch klug von Nancys Bruder, daß er sie das nicht sehen lassen wollte. Und was hast du dann nach dem Film getan, Warren?«

Ein enttäuschtes »Oooch!« ging durch die Klasse – jeder wollte...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2019
Übersetzer Hans Ulrich Wolf, Anette Grube
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Eleven Kinds of Loneliness - (Sammelbd.: The Collected Stories of Richard Yates)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • American dream • Amerika • Amerikanischer Traum • eBooks • Erzählungen • Geschichten • Moderner Klassiker • Nachkriegszeit • Roman • Romane • Schattenseite • USA • USA / Amerika
ISBN-10 3-641-24606-7 / 3641246067
ISBN-13 978-3-641-24606-8 / 9783641246068
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