Eiscafé Europa (eBook)
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518759929 (ISBN)
Wie könnte Widerstand heute aussehen? Auf der Suche nach einer Antwort zieht Enis Maci eine Linie von Jeanne D'Arc über Sophie Scholl zu den albanischen Schwurjungfrauen. Sie entlarvt die medialen Strategien der Identitären als Travestie, befragt Muttersprache und Herkunft, reist nach Walhalla und blickt dort auf die Büste der in Auschwitz ermordeten Nonne Edith Stein. Sie verweilt in den sozialen Randzonen und verwebt die losen Zipfel erzählens-notwendiger Dinge zu einem dichten Panorama europäischer Gegenwart. Das Außerordentliche überkreuzt sich in ihren Essays mit dem Alltäglichen, das Private mit dem Politischen.
Enis Maci wurde für ihre Theaterstücke und Essays mehrfach ausgezeichnet. Im Suhrkamp Verlag erschienen <em>Eiscafé Europa</em>, <em>WUNDER </em>und <em>Karl May</em> (mit Mazlum Nergiz). 2024 erscheint der gemeinsam mit Pascal Richmann verfasste Roman <em>Pando</em>.
Enis Maci, geboren 1993 in Gelsenkirchen, hat Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Kultursoziologie an der London School of Economics studiert. 2010 erhielt sie den Förderpreis des Literaturpreises Ruhr. Das Stück Lebendfallen entstand im Rahmen der Schreibwerkstatt »Flucht, die mich bedingt« am Maxim Gorki Theater Berlin. Ihr Stückentwurf Mitwisser wurde mit dem Hans-Gratzer-Stipendium 2017 ausgezeichnet und 2018 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt. Im Oktober 2018 erscheinen unter dem Titel Eiscafé Europa Essays von Enis Maci bei Suhrkamp. In der Spielzeit 18/19 ist Maci Hausautorin am Nationaltheater Mannheim.
9Jungfrauen
Ein paar relevante Axiome:
1) Die Befreiung der Frau findet an der Waffe statt.
2) Die Waffe ist eine Weigerung.
3) Virginity means refusing to be fucked.
4) Die Waffe ist ein Paar Hosen, sie ist kein freundliches Gesicht, sie ist: eine AK 47.
5) Die Waffe ist dein Wille: hart wie Kruppstahl, weich wie deine Fotze.
6) Die Waffe ist die Fanfare, die bläst zum Gefecht, und das Gefecht ist die Folge der Weigerungen, die unweigerliche.
***
Meine Mutter kann ein Maschinengewehr in sechzig Sekunden auseinanderbauen, ölen und wieder zusammensetzen. Mein Vater natürlich auch.
Von Zeit zu Zeit seufzt meine Mutter, sagt, die Zeiten hätten sich geändert, es sei nicht mehr wie früher, als 10mein Vater ihr klaglos die Kalaschnikow den Berg hochgetragen habe, wenn sie keuchte. Heute trage er sie zwar noch, doch auch er keuchend.
Als ich jünger war, schlugen wir die Sommer tot, indem wir uns Fotoalben anschauten. 1968 bis 1991: Die Schwarzweißfotos, wellig ausgestanzt, leicht vergilbt, wirkten wie aus Weltkriegszeiten. In meinem Ohr ein Satz: Opa war kein Mörder. Und ich ergänze: Er war ein fotogener Wehrmachtssoldat. Dass globale Modetrends hier dreißig Jahre später eintrafen, tat sein Übriges, noch 1989 konnte mein Onkel durch das Wachsenlassen der Haare über die oberen Ränder der Ohren seiner Ablehnung Ausdruck verleihen, und auf den illegalen Partys in den Studentenwohnheimen wirbelten die Petticoats.
Auf den Fotos also lächelten pausbäckige Studentinnen und Studenten in kastigen Uniformen in die Kamera (man konnte leider nicht Hugo Boss verpflichten), das Gewehr lässig über die Schulter geworfen oder vor sich aufgestellt. Ich erkannte ein paar Leute: meine Eltern, ihre Trauzeugen, eine Frau, die im Sommer davor zum Kaffeetrinken da gewesen war und mir einen Banana-Republic-Lipgloss geschenkt hatte. Meine Mutter zeigte auf jeden Einzelnen, sie sagte: Die wohnt jetzt in Kanada, die auch, die ist letztes Jahr aus Italien zurückgekommen, der ist Professor in Japan und mit einer Japanerin verheiratet — Pause, das ist ungewöhnlich —, der ist jetzt Matheprofessor, die hat ein 11Café im Bllok, die wohnt in England, die wurde von ihrem Mann halb totgeprügelt, das ist er, er wohnt wieder bei seiner Mutter, sie da hat ihre Verlobung mit dem da gelöst, um dann ihn da zu heiraten, und ich stellte mir vor, wie in einer anderen Wohnung in der Stadt ein anderes Teenagegirl mit seiner Mutter über das Album gebeugt saß, und die Mutter sagte: Und die ist jetzt in Deutschland, und nickte langsam, von unten nach oben, als wollte sie nein sagen oder Maß nehmen.
***
Die Fanfare bläst ein Lied, sie singt: Weh mir, ach!, sie singt: Noch ist Polen nicht verloren!, sie singt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, sie tobt.
Die Tobsucht ist das Wissen, dass Stillstand der Tod ist und im Wüten die Rettung liegt.
Ich trage meine Hosen mit Anmut, wie ein Engel, der sein Gewehr schultert.
This was not a puerile virginity defined by fear or effeminacy. This was a rebel virginity harmonious with the deepest values of resistance to any political despotism.
Andrea Dworkin, Intercourse
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12Im Eiscafé Europa bekamen wir Mädchen wie immer jede zwei Kugeln oder einen Zitroneneistee. Ich verhielt mich unauffällig, grundlos eingeschüchtert, während meine Mutter Kaffee trank mit ihrer Freundin Bleta, die mit ihren dezenten Klamotten, mit ihren grabentiefen Augenringen auch eine ziemlich fertige Französin hätte abgeben können, die, fünfunddreißigjährig, erst ein paar Wochen zuvor bei Rewe an der Kasse, bei einem ihrer drei Jobs also, ein Schlaganfall ereilt hatte. Mit stoischer Gelassenheit, wie man so sagt, suchte sie wegen des seltsamen Kopfschmerzes erst nach Feierabend ihren Hausarzt auf, der sie umgehend ins Krankenhaus einliefern ließ, aus dem sie sich noch am selben Abend selbst entließ, weil sich die Brötchen nicht von allein verdienen, wie sie sagte, wobei sie natürlich etwas anderes sagte, wobei das alles natürlich eine freie Übersetzung ist, wie sie also sagte und an ihrer Zigarette sog, gierig und bestimmt, sog wie ein Säugling, sog, als hoffte sie, an deren anderem Ende etwas Wichtiges zu finden.
Bleta also und ihre Töchter und meine Mutter und ich saßen im Eiscafé Europa, im gelobten. Bleta löffelte den Milchschaum vom Cappuccino, rauchend, so wie sie alles rauchend tat, so wie schließlich sogar die Besitzerin — eine sehr große, sehr schlanke Jugoslawin mit sehr hohen Schuhen und sehr gut sitzendem Haar —, so wie sogar die Besitzerin beim Eis-ins-Hörnchen-Schaufeln rauchte und alle, die keine Stammgäste waren, abweisend anschaute. Wir waren Stammgäste, und 13wie immer raunten Bleta und meine Mutter sich anerkennende Worte über den Style der Langen zu, ganz als hielte sie irgendjemand davon ab, selbst unbequeme Schuhe zu tragen und böse zu gucken.
Im Eiscafé Europa also zeigte Bleta mit der flachen Hand, Handfläche nach oben, auf meine Mutter und rief: Schaut sie euch an, schaut sie euch genau an, und wir schauten, und sie weiter: Was für eine burrneshë.
Begeistert pries sie meine Mutter und wedelte dabei mit ihrer heruntergerauchten Kippe, bis ihre ältere Tochter sie ihr aus der Hand nahm und ausdrückte.
Natürlich gab meine Mutter das Kompliment zurück.
Und ich wusste sofort, ohne dass mir irgendjemand je erklärt hätte, was das war, eine Männin, wusste sofort, schon allein der Grammatik wegen, dass das nur Frauen sein konnten, dass es etwas war, das in seiner ganzen unausgesprochenen Drastik besser war als alles, was ein Mann sein konnte, deshalb also nickte ich andächtig, bevor ich mit meinem rosa Strohhalm die San-Benedetto-Dose leersog.
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Außerdem:
Das erste Lager, in das eine Frau interniert wird, ist das Schlaflager.
14Das Erzählen der Fabel ist prinzipiell ein gewalttätiges.
Die Feinde werden angelockt wie sonst nur die Beute, doch das Beute-Sein liegt in der Natur der Frau, das heißt: der kampfunfähig gemachten, das heißt: der unbewaffneten Frau.
Mehr noch als eine abgelegte Rüstung lockt den Feind: das freiwillige Hemmnis.
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Im Alter hat meine Großmutter den Feminismus für sich entdeckt. Unterm Sonnenschirm erklärte sie mir, dass sie die moderne Entwicklung, nicht sofort den ersten Mann, den man liebt, zum Kindsvater und Ehemann zu machen, durchaus begrüße, dass sie es gut finde, das Schwein im Zweifel in den Wind zu schießen, schließlich könne man aus seinen Fehlern lernen, man bekomme einen weiteren, zweiten Versuch. Aber Omma, sprach ich die offensichtlich offene Frage aus: Ab wie vielen Männern ist man denn dann ein Flittchen? Sie saß unterm Schirm, blinzelte in die untergehende Sonne, zuppelte an ihrem Bikini, sie dachte nach und antwortete: Drei. Ja, drei ist schon einer zu viel, ich meine, niemand macht denselben Fehler zweimal. Wenn du erst mal bei drei bist, sind vier, fünf, sechs ganz leicht, und irgendwann wirst du ganz Wahlurne, nur dass sie nicht Wahlurne sagte, sondern kuti votimi, 15und wer einmal gesehen hat, wie die ersten Wahlen dort abgehalten wurden, die weiß: Es gab ein Glas mit weißen Bällen und eine Wahlschachtel, stimmte man der Kandidatur zu, legte man einen Ball in die Schachtel, lehnte man die Kandidatur ab, legte man den Ball in den Mülleimer, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, ein öffentlicher Vorgang.
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Und weiter:
Because she found a way to bypass male desire, Joan [of Arc]'s story illuminates and clarifies to what degree male desire determines a woman's possibilities in life: how far, how fast, where, when, and how she can move; by what means; what activities she can engage in; how circumscribed her physical freedom is; the total subjugation of her physical form and freedom to what men want from her.
Steckt in der geschlossenen Abteilung nicht umsonst das Wort Abtei?
Wird die Welt geschützt vor den Insassinnen oder vielmehr die Insassinnen vor der Welt? Ist ihre Jungfräulichkeit das, was man ein gebrochenes Versprechen nennt? Was ist die Natur ihres Widerstands? An welche Grenzen haben sie sich...
| Erscheint lt. Verlag | 23.10.2018 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Albanien • Coming of Age • Deutschland • edition suhrkamp 2726 • ES 2726 • ES2726 • Europa • Familie • Feminismus • Förderpreis für Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen 2021 • Frauke Petry • Gelsenkirchen • Gender • Gesellschaft • Herkunft • Identitäre Bewegung • Identität • Instagram • Internet • James Baldwin • Jeanne d'Arc • Kindheit • Literatur • Literaturpreis Ruhr 2020 • Literaturpreis Ruhr 2020 • Max Frisch-Förderpreis 2022 • Max Frisch-Förderpreis 2022 • Migration • Politik • Roberto Bolano • Ruhrgebiet • Schwurjungfrauen • Social Media • Sophie Scholl • tumblr • Walhalla • Widerstand • Wikipedia |
| ISBN-13 | 9783518759929 / 9783518759929 |
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