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Der Lockruf des Pirols -  Wilhelm R. Vogel

Der Lockruf des Pirols (eBook)

oder ein September im Leben des Julius Wondraschek
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
280 Seiten
Morawa Lesezirkel (Verlag)
978-3-99070-830-9 (ISBN)
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Julius Wondraschek, frisch pensionierter Beamter in Wien, übergewichtig und plötzlich ohne Aufgabe, wartet auf den Anruf seiner Nachfolgerin. Diese jedoch scheint keine Hilfe zu brauchen; sein eigens dafür gekaufter Anrufbeantworter schweigt beharrlich. Er nutzt die Zeit, um über sein Leben nachzudenken, über seine Arbeit und über die Liebe, über Sex und über Religion. Julius hat seine Pflicht als Bürger hervorragend erfüllt. Sein Leben lang standen der Dienst an der Gemeinschaft und seine Arbeit für den Staat im Vordergrund. Aber mit dem Eintritt in den Ruhestand rührt sich sein Widerstandsgeist. Er fühlt sich frei und findet zunehmend Freude daran, unangepasst zu reagieren, Unwissen zu geißeln und seinerseits die Menschen mit haarsträubenden Theorien zu verwirren. In Kaffeehäusern und öffentliche Verkehrsmitteln findet er dafür ein passendes Publikum. Als sein Freund Sebastian stirbt, beginnt er zu recherchieren. Anders als die Polizei glaubt er nicht, dass sich der in sich gekehrte Siebzigjährige freiwillig nackt aus dem zehnten Stock eines Hotels gestürzt hat. Die Erfahrung im Umgang mit den Vogelspinnen seiner Freundin Maria kommen ihm dabei zugute.

Wilhelm R. Vogel ist in Baden aufgewachsen und lebt in Wien Floridsdorf. Nach dem Studium der Biologie arbeitete er im Bereich der Forschung und Lehre an der Universität Wien und später in der öffentlichen Verwaltung. Juli 2018 hat er seinen ersten Roman, "Der Lockruf des Pirols", veröffentlicht. Mit "Unerwartetes" präsentiert er eine erste Sammlung von Kurzgeschichten. Weitere Informationen zum Autor finden Sie unter www.wrvogel.eu

Montag, 1. September


Julius mochte keine Begräbnisse. Mit zusammengekniffenen Lippen stand er da und beobachtete die beiden Totengräber, die Erde in das frische Grab schaufelten. Die Körper der beiden Männer hoben und senkten sich abwechselnd und erinnerten ihn an die Erdölpumpen im nahe gelegenen Marchfeld, die als dunkle, einsame Gesellen in der flachen Landschaft unermüdlich ihren Dienst verrichten und den Lebenssaft unserer Gesellschaft aus den vergessenen Tiefen heraufbefördern. Einen Saft, der von Lebewesen stammt, die vor Millionen von Jahren die Oberfläche der Erde bewohnten und deren Tod uns jetzt ein Leben in lärmendem und hektischem Luxus ermöglicht. In der Natur ist alles auf Kreisläufe ausgerichtet, weder Materie noch Energie verschwinden – nur das Individuum bleibt auf der Strecke. Und diesmal hatte es seinen Freund Sebastian getroffen.

Eigenartig, dachte Julius, für mich als Naturwissenschaftler ist der Tod, so schrecklich er ist, eine Konsequenz der Evolution. Ohne Tod keine Weiterentwicklung; das Alte muss dem Neuen Platz machen. Damit muss man leben und eben sterben. Aber wie ist das bei den Gläubigen, die an einen allmächtigen und sich in alles einmischenden Gott glauben? Warum loben und preisen diese selbst bei Begräbnissen Gott, der ihnen einen geliebten Mitmenschen genommen hat? Warum, überlegte Julius weiter, wird das nicht als Ärgernis gesehen? Warum gab es bei Begräbnissen nie Protest gegen die göttliche Entscheidung? War es Gleichgültigkeit, war es Angst, oder nahmen selbst die Gläubigsten an, dass man ihnen da oben ohnehin nicht zuhören würde?

Wütend trat er gegen einen Stein, ohne zu wissen, gegen wen sich seine Wut richtete. Gegen einen Gott, der ihm seinen besten Freund genommen hatte und an den er nicht glaubte, oder gegen seine Mitmenschen, die glaubten, diesen Gott dafür auch noch lobpreisen zu müssen?

Die anderen Trauergäste waren schon gegangen und ein gelegentliches Rascheln, die schwarze, schattenrissartige Gestalt einer Krähe, die über den Weg glitt, oder ein Eichhörnchen, von dem er aber nie mehr sehen konnte als den gerade hinter einem Baumstamm verschwindenden buschigen Schwanz, machten ihm bewusst, dass der Friedhof nicht nur den Toten gehörte.

Er dachte an Sebastian, der jetzt da drüben in einer Holzkiste unter der Erde versank. Nach Angaben der Polizei war er aus dem Fenster eines Hotels gesprungen. Freiwillig, was für Julius unvorstellbar war.

Hätte er ein Abschiedsschreiben hinter-lassen, hätte man von schrecklichen Schmerzen gewusst oder hätte er sich in ärztliche Behandlung begeben und damit einem seelenkundigen Arzt die zerstörerische Krankheit in seinem Inneren kundgetan, dann hätte er es den Hinterbliebenen ermöglicht, seine Entscheidung zumindest nachzuvollziehen. Aber offenbar war nichts davon geschehen. Sebastian war für seine siebzig Jahre ausgesprochen gesund und voll von Plänen für die Zukunft gewesen. Er hatte Geld für ein neues Fernrohr gespart und wollte damit im Herbst ein paar Wochen in einer billigen Pension am Neusiedlersee verbringen, um dort Vögel zu beobachten. Jahrelang hatte er davon geträumt. Undenkbar, dass er freiwillig darauf verzichten hätte wollen.

Auch als sein bester Freund konnte Julius natürlich nicht alles wissen. Aber selbst wenn er davon ausging, dass Sebastian an einer tiefen und unbemerkten Verzweiflung gelitten hatte, blieb immer noch die Art seines Todes unverständlich. Schlafmittel hätten vielleicht zu dem in sich gekehrten, schüchternen Mann gepasst. Selbst ein Aufschneiden der Pulsadern im warmen Wasser der Badewanne wäre schon viel zu spektakulär gewesen. Aber dass er sich, etwa zwanzig Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, aus dem Fenster eines Hotelzimmers im zehnten Stock gestürzt haben sollte, war gänzlich unverständlich. Und warum, um alles in der Welt, hatte er dies völlig nackt getan?

Was aber waren die Alternativen? Ein Unfall? Aber schloss nicht gerade Sebastians Nacktheit jede Art von Unfall aus? Und wenn es weder Selbstmord noch ein Unfall war – was war es dann, etwa Mord? Aber wer sollte Interesse am Tod eines alten Hobbyornithologen haben, der kaum Geld hatte? Und darüber hinaus: Wer sollte Interesse daran haben, diesen Tod derart spektakulär zu inszenieren?

Julius würde das Rätsel nicht hier auf dem Friedhof lösen. Die Friedhofsarbeiter hatten ihre Arbeit beendet, den Rest würde wohl einer der kleinen Bagger übernehmen, die er beim Herkommen gesehen hatte. Ihn schmerzten die Beine. Sicher waren sie wieder angeschwollen. Er konnte einfach nicht mehr so lange stehen wie früher. Zwischen den Gräberzeilen ging er über Gras und knirschenden Kies. Ein Spaziergang durch den alten jüdischen Friedhof würde ihm gut tun.

Dieser Teil des Wiener Zentralfriedhofs, mehr Wald als Park, war eine Welt für sich. Die alten Grabsteine verschwanden zwischen Bäumen und unter dicken Schichten von Efeu. Selten kam jemand in diesen alten Teil des Friedhofs und keine nach jüdischer Sitte abgelegten Steine kündeten davon, dass Angehörige die Gräber besuchten, in denen die Toten auf das Kommen des Messias und auf ihre Auferstehung warteten. Ein mörderisches Regime hatte, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vertrieben, verschleppt und ermordet.

Einmal vor langer Zeit hatte er mit Sebastian das Grab von dessen Eltern besucht, welches jetzt auch seine letzte Ruhestätte geworden war. Einen langen Nachmittag waren sie damals auf den Steinblöcken der Granitumfassung gesessen und hatten eine Flasche Blauen Portugieser, den Lieblingswein von Sebastians Vater, geleert. Dass sein Vater dabei anwesend war und sich mit ihnen freute, daran hatte es für Sebastian nie den geringsten Zweifel gegeben. Wie gern würde auch er das glauben und gelegentlich ein Glas mit dem toten Sebastian trinken! Aber für ihn gab es nach dem Tod nichts, was zurückbleiben würde. Ausgeschieden – skartiert – wie er als Beamter es nannte, auch wenn er seit zwei Monaten nicht mehr aktiv im Dienst war.

Beamter ist man auf Lebenszeit. Man könnte schließlich auch jederzeit aus dem Ruhestand in den aktiven Dienst zurückberufen werden. Theoretisch zumindest – wenn es für das Wohl des Staates dringend erforderlich wäre.

Hofrat Julius Wondraschek, stets zu Diensten! Julius nahm unwillkürlich für einen Augenblick eine stramme Haltung an. Zwar bestand nur eine geringe Chance, dass man ihn je wieder brauchen würde, aber auch damit konnte er leben. So würde er seinen Ruhestand eben in Ruhe genießen. Seiner Nachfolgerin, sie hieß Regina, hatte er das Versprechen abgenommen, dass sie ihn erforderlichenfalls anrufen würde. Aber sie schien sehr gut alleine zurechtzukommen: Der Anrufbeantworter, den er sich eigens für diesen Zweck gekauft hatte, schwieg beharrlich.

„Ich werde im Büro nicht mehr benötigt. Meine Zeit ist abgelaufen, ich wurde mit dem vorgesehenen Stichtag durch eine andere Person ersetzt. Dass das so reibungslos ging, das ist nicht zuletzt mein Verdienst.“ Oft schon hatte sich Julius das wie ein Mantra vorgesagt. Aber immer war eine gewisse Unzufriedenheit geblieben. Man verliert seine Bedeutung eben nicht von einem Tag auf den anderen. Wenn er mit dem Erreichen seines fünfundsechzigsten Geburtstags entbehrlich geworden war, so war er das wohl auch schon vorher gewesen, vielleicht Jahre vorher. Und vielleicht hatte man bloß darauf gewartet, dass er endlich ging – der Alte, der so manchen Neuerungen im Weg gestanden war. In den letzten Jahren war er zunehmend entmachtet worden. Auch wenn er gute Miene zu diesem Spiel gemacht und vorgegeben hatte, es nicht zu bemerken, so waren ihm doch die manchmal schadenfrohen, meist aber mitleidigen Blicke seiner Kollegen und Mitarbeiter nicht entgangen.

Julius fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Wenn es etwas gab, was er nicht ausstehen konnte, dann war es Selbstmitleid, und wenn es jemanden gab, bei dem er es am wenigsten ausstehen konnte, so war er es selbst. Er zwang sich, aufrecht zu gehen und tief zu atmen. Langsam ging es ihm wieder besser. Er versuchte auf andere Gedanken zu kommen, aber vergeblich.

Jeder Mensch ist im Grunde entbehrlich, sagte er sich. Also war auch er immer schon entbehrlich gewesen. Hätte er vor zehn Jahren einen tödlichen Unfall gehabt, so wäre das Leben für die anderen eben ohne ihn weiter-gegangen. So offensichtlich das war, so schwer war es, das Offensichtliche auch zu akzeptieren. Natürlich war auch Sebastian entbehrlich. Denen, welche ihn gekannt hatten, würde er fehlen. Aber auch sie würden ihn langsam vergessen, bis sie eines Tages selbst stürben. ‚I don't like it but I guess things happen that way’ – Johnny Cash hatte er schon lange nicht mehr gehört. Jetzt hätte er wieder Zeit dazu.

Julius ging an den Ehrengräbern vorbei. Viele der hier Begrabenen hatte er noch selbst erlebt: Präsidenten, Minister und Bürgermeister von Wien. Dass bei manchen...

Erscheint lt. Verlag 3.7.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-99070-830-9 / 3990708309
ISBN-13 978-3-99070-830-9 / 9783990708309
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