Die Plotter (eBook)
220 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958902503 (ISBN)
Un-Su Kim, geboren 1972 in Busan, Korea, hat in seiner Heimat mehrere Literaturpreise gewonnen, darunter den renommierten Mumhakdongne Preis. Mit Die Plotter, seinem ersten Kriminalroman, ist ihm auf Anhieb ein Werk gelungen, das Zeichen setzt - nicht nur in Korea. Die internationale Krimiszene feiert ihn schon jetzt als den 'koreanischen Henning Mankell'.
Un-Su Kim, geboren 1972 in Busan, Korea, hat in seiner Heimat mehrere Literaturpreise gewonnen, darunter den renommierten Mumhakdongne Preis. Mit Die Plotter, seinem ersten Kriminalroman, ist ihm auf Anhieb ein Werk gelungen, das Zeichen setzt – nicht nur in Korea. Die internationale Krimiszene feiert ihn schon jetzt als den "koreanischen Henning Mankell".
ÜBER DIE GASTFREUNDSCHAFT
Der alte Mann kam heraus in den Garten.
Raeseng stellte das Zielfernrohr scharf und zog den Repetierhebel zurück. Die Patrone sprang mit lautem Klicken in die Kammer. Raeseng sah sich um. Abgesehen von den hohen Tannen, die sich in den Himmel reckten, rührte sich nichts. Kein Vogel flatterte auf, kein Insekt summte. Bei der Stille würde der Knall eines Schusses weit tragen. Was, wenn jemand ihn hörte und angelaufen käme? Er schob den Gedanken weg. Darüber brauchte er sich den Kopf nicht zu zerbrechen. Schüsse waren nichts Besonderes hier draußen. Die Leute würden annehmen, es seien Wilderer auf der Wildschweinjagd. Wer verschwendete schon seine Zeit damit, tief in den Wald zu stapfen, um einem einzelnen Schuss auf den Grund zu gehen? Raeseng betrachtete den Berg im Westen. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Höhenkamm. Er hatte noch Zeit.
Der alte Mann begann, seine Blumen zu gießen. Manche bekamen einen großen Schluck Wasser, andere nur ein paar Tropfen. Es sah fast zeremoniell aus, wie er die Gießkanne neigte, als serviere er ihnen Tee. Ab und zu schienen die Schultern anzudeuten, dass er tanzte, dann wieder liebkoste er kurz eine Blüte. Er deutete auf eine Blume und lachte leise. Es sah aus, als unterhalte er sich mit ihr.
Raeseng justierte die Schärfe nach und betrachtete die Blume, mit der der alte Mann sprach. Sie kam ihm bekannt vor; er musste sie schon einmal gesehen haben, aber er wusste den Namen nicht mehr. Er versuchte, sich zu erinnern, welche Blumen im Oktober blühten – Cosmeen? Zinnien? Chrysanthemen? –, aber keiner dieser Namen passte zu der, die er vor sich hatte.
Warum konnte er sich nicht erinnern? Stirnrunzelnd durchforschte er sein Gedächtnis nach einem Namen, aber bald vertrieb er auch diese Gedanken aus seinem Kopf. Es war eine Blume. Was sollte daran wichtig sein?
Ein riesiger schwarzer Hund kam vom anderen Ende des Gartens herüberspaziert und rieb den Kopf am Oberschenkel des alten Mannes. Ein reinrassiger Mastiff. Ein Tier, wie Julius Cäsar es von seiner Eroberung Britanniens mitgebracht haben könnte. Ein Hund, mit dem die alten Römer Löwen gejagt und Wildpferde zusammengetrieben hatten. Der alte Mann tätschelte ihn, und der Hund strich ihm um die Beine und kam ihm beim Blumengießen in die Quere. Dann warf der Mann einen platten Fußball quer durch den Garten, und der Hund wedelte mit dem Schwanz und rannte hinter dem Ball her. Der alte Mann wandte sich wieder seinen Blumen zu, und wie zuvor begrüßte er sie mit Gesten und redete auf sie ein. Der Hund kam schnurstracks zurück, den schlaffen Ball im Maul. Diesmal warf der alte Mann den Fußball weiter, und der Hund lief wieder hinterher. Der wilde Mastiff, der einmal Löwen gejagt hatte, war ein Clown geworden, aber der Alte und der Hund schienen gut zueinanderzupassen. Sie wiederholten ihr Spiel immer wieder, und es schien ihnen keineswegs langweilig zu werden, sondern Freude zu machen.
Der alte Mann war fertig mit dem Blumengießen. Er richtete sich auf, streckte sich und lächelte zufrieden. Dann drehte er sich um und schaute halb den Berg herauf, als wüsste er, dass Raeseng da war. Sein lächelndes Gesicht geriet in Raesengs Fadenkreuz. Ob ihm bewusst war, dass die Sonne jetzt weniger als eine Handbreit über dem Horizont stand? Dass er tot sein würde, bevor sie hinter dem Berg verschwand? Lächelte er deshalb? Aber vielleicht lächelte er in Wirklichkeit gar nicht. Das Gesicht des Alten schien in einem Dauergrinsen erstarrt wie eine holzgeschnitzte Hahoe-Maske. Manche Leute hatten so ein Gesicht. Leute, deren innere Regungen man nie erraten konnte, weil sie immer lächelten.
Sollte er jetzt abdrücken? Wenn er es tat, könnte er vor Mitternacht wieder in der Stadt sein. Er würde ein heißes Bad nehmen und sich mit ein paar Bier betrinken. Oder er könnte eine alte Beatles-Platte auflegen und sich ausmalen, wie gut es sein würde, wenn das Geld erst auf seinem Konto wäre. Vielleicht könnte er nach diesem letzten Auftrag sein Leben ändern. Gegenüber einer Mädchenoberschule eine Pizzeria aufmachen oder im Park Zuckerwatte verkaufen. Er sah es vor sich, wie er bündelweise Ballons und Zuckerwatte an die Kinder verteilte und in der Sonne döste. Dieses Leben konnte er wirklich haben, nicht wahr? Die Vorstellung erschien ihm plötzlich wundervoll. Aber er musste sie aufsparen, bis er abgedrückt hätte. Noch lebte der alte Mann, und noch war das Geld nicht auf seinem Konto.
Der Schatten des Berges wanderte zusehends den Hang hinunter. Wenn er schießen wollte, musste er es jetzt tun. Der alte Mann war mit dem Blumengießen fertig und würde jeden Augenblick ins Haus gehen. Dann würde die Arbeit viel schwieriger werden. Warum die Sache verkomplizieren? Drück ab. Drück jetzt ab und verschwinde von hier.
Der alte Mann lächelte, und der Hund rannte mit dem Fußball im Maul herum. Das Gesicht des Alten war kristallklar in seinem Fadenkreuz. Drei, vier tiefe Falten durchfurchten seine Stirn, er hatte eine Warze über der rechten Augenbraue und Leberflecken auf der linken Wange. Raeseng starrte auf das Herz, das gleich von einer Kugel durchbohrt würde. Der Pullover des alten Mannes sah handgestrickt aus, nicht wie Fabrikware, und bald würde er blutgetränkt sein. Er musste nur ganz leicht auf den Abzug drücken, und der Schlagbolzen würde auf den Zünder der 7.62-mm- Patrone treffen und das Schießpulver in der Messinghülse entzünden. Die Explosion würde das Projektil durch die Züge im Lauf treiben, sodass es um die Längsachse rotierend durch die Luft schoss, geradewegs durch das Herz des alten Mannes. Infolge ihrer hohen Geschwindigkeit und zerstörerischen Explosivkraft würde die Kugel die zerfetzten Organe des alten Mannes durch die Austrittswunde im Kreuz regelrecht hinaustreiben. Beim bloßen Gedanken daran überzog sich Raesengs Körper mit einer Gänsehaut. Das Leben eines anderen Menschen in der Hand zu halten war immer ein seltsames Gefühl.
Drück ab.
Jetzt.
Aber aus irgendeinem Grund drückte Raeseng nicht ab, sondern legte das Gewehr auf den Boden.
»Nicht der richtige Augenblick«, knurrte er.
Er wusste nicht genau, warum es nicht der richtige Augenblick war. Aber es gab für alles einen richtigen Augenblick. Einen richtigen Augenblick für ein Eis. Einen richtigen Augenblick für einen Kuss. Und vielleicht klang es dumm, aber es gab auch einen richtigen Augenblick zum Abdrücken und einen richtigen Augenblick für eine Kugel ins Herz. Warum auch nicht? Und wenn Raesengs Kugel zufällig gerade dann durch die Luft und auf das Herz des alten Mannes zukatapultiert wurde, wenn sich ebenso zufällig der richtige Augenblick präsentierte? Das wäre wunderbar. Natürlich wartete er nicht auf den besten aller möglichen Augenblicke. Dieser günstige Augenblick würde vielleicht niemals kommen, oder er würde vor seiner Nase vorbeistreichen. Da begriff er, dass er einfach nicht abdrücken wollte. Er wusste nicht, warum, aber er wollte nicht. Er zündete sich eine Zigarette an. Der Schatten des Berges kroch über die Hütte des alten Mannes hinweg.
Als es dunkel wurde, ging der alte Mann mit dem Hund hinein. Anscheinend gab es in der Hütte keinen Strom, denn dort drinnen schien es noch dunkler zu sein. Im Wohnzimmer leuchtete eine einzelne Kerze, aber Raeseng konnte das Innere durch das Zielfernrohr nicht gut erkennen. Die Schatten des Mannes und seines Hundes ragten an einer Ziegelwand auf und verschwanden. Von seiner Position aus konnte Raeseng den alten Mann jetzt nur noch erschießen, wenn dieser sich mit der Kerze in der Hand mitten ins Fenster stellte.
Die Sonne verschwand hinter dem Bergkamm, und Dunkelheit senkte sich auf den Wald. Der Mond schien nicht, und selbst Gegenstände in unmittelbarer Nähe waren kaum auszumachen. Da war nur der Kerzenschimmer aus der Hütte des alten Mannes. Die Dunkelheit war so tief, dass die Luft sich feucht und schwer anfühlte. Warum verschwand er nicht einfach? Warum trödelte er hier im Dunkeln herum? Raeseng wusste es nicht. Warte auf die Morgendämmerung, entschied er. Bei Sonnenaufgang würde er einen einzigen Schuss abgeben – ganz so, als schösse er auf die hölzerne Zielscheibe, mit der er jahrelang geübt hatte –, und dann würde er nach Hause gehen. Er steckte den Stummel seiner Zigarette in die Hosentasche und schlüpfte in sein Zelt. Es gab nichts, womit er sich die Zeit hätte vertreiben können; also aß er einen Keks, verkroch sich in den Schlafsack und schlief ein.
Zwei Stunden später wurde Raeseng von schweren Schritten im Gras aus dem Schlaf gerissen. Sie kamen auf sein Zelt zu. Drei oder vier, unregelmäßig und dumpf. Ein Körper, der sich durch hohes Gras bewegte, dass es rauschte. Er konnte nicht sagen, was es war. Vielleicht ein Eber. Oder eine Wildkatze. Raeseng entsicherte das Gewehr und richtete es in die Dunkelheit, auf das Geräusch, das sich näherte. Besser noch nicht schießen. Es war schon vorgekommen, dass bewaffnete...
| Erscheint lt. Verlag | 23.11.2018 |
|---|---|
| Übersetzer | Rainer Schmidt |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Die Vegetarierin • Han Kang • Killer • Korea • Organisiertes Verbrechen • Thriller |
| ISBN-13 | 9783958902503 / 9783958902503 |
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