Totenversteher (eBook)
272 Seiten
Bebra Verlag
978-3-8393-6162-7 (ISBN)
Das Autorenpaar Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk schreibt seit über zwanzig Jahren gemeinsam Drehbücher für das Fernsehen. Geprägt sind beide von langjährigen Auslandsaufenthalten in New York und London, von wo sie unter anderem ihre Vorliebe für den angelsächsischen Humor mitgebracht haben. Inzwischen leben sie in Berlin, und wenn sie nicht in ihrer Charlottenburger Wohnung vor den Computerbildschirmen sitzen, dann erforschen sie die Stadt, die sie jeden Tag aufs Neue überrascht.
Das Autorenpaar Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk schreibt seit über zwanzig Jahren gemeinsam Drehbücher für das Fernsehen. Geprägt sind beide von langjährigen Auslandsaufenthalten in New York und London, von wo sie unter anderem ihre Vorliebe für den angelsächsischen Humor mitgebracht haben. Inzwischen leben sie in Berlin, und wenn sie nicht in ihrer Charlottenburger Wohnung vor den Computerbildschirmen sitzen, dann erforschen sie die Stadt, die sie jeden Tag aufs Neue überrascht.
Aus dem offenen Grab kam ein Stöhnen
Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oytinghausen, seit frühester Kindheit kurz Hasi gerufen, trug einen langstieligen Rosenstrauß unter dem Arm und ging gemessenen Schrittes – nicht eiliger, als es die Friedhofsruhe an diesem lauen Sommernachmittag erlaubte, aber auch nicht so langsam, dass ein zufälliger Beobachter ihm unbotmäßige Neugierde hätte vorwerfen können – an einem frisch ausgehobenen Grab vorbei. Als Spross einer Familie, deren Stammbaum viele Jahrhunderte zurückreichte, war ihm die Etikette im Umgang mit Toten zur zweiten Natur geworden, denn schließlich bestand der weitaus größte Teil seiner Verwandtschaft aus längst Verblichenen. In Gestalt von düsteren Ahnenporträts sahen sie aus ihren prunkvollen goldenen Bilderrahmen auf die noch lebenden Verwalter ihrer Gene und Traditionen und wachten darüber, dass diese ihnen mit der gleichen ernsten Würde gedachten, mit der sie selbst auf ihre Nachkommen herabblickten.
Hasi schaute über eine Rasenfläche mit Kriegsgräbern, die wie große Schokoladentafeln ordentlich aneinandergereiht im Gras lagen, und bog in einen von Kiefern und Birken verdunkelten Seitenpfad ab. Der Waldfriedhof machte seinem Namen alle Ehre, er war weitläufig und unübersichtlich und die einzelnen Grabsteine lagen fast versteckt unter Bäumen und Büschen, sodass er insgesamt den Eindruck eines natürlich gewachsenen Waldes machte. Hasis verstorbene Tante Pudel hatte ihm immer geraten, bei Stress einen Waldspaziergang zu machen, um seine Gedanken zu sortieren und sich zu entspannen. Doch heute sah er weder einen Grund, sich entspannen zu müssen, noch gab es irgendetwas in der Welt, um das er sich Gedanken zu machen hatte. Genüsslich sog er die frische Waldluft ein. Früher war er als arbeits- und mittelloser Verwandter der geduldete Dauergast seiner weitläufigen Familie gewesen – gerne gesehen zwar, aber doch immer wieder weitergereicht wie ein überzähliges Hochzeitsgeschenk. Seitdem Tante Pudel ihn jedoch unerwartet zum Alleinerben eingesetzt hatte, war er gänzlich sorgenfrei. Außer der traurigen Tatsache natürlich, dass die alte Baronin, um ihm das Vermögen überhaupt vermachen zu können, vorher hatte sterben müssen. Heute jährte sich zum ersten Mal der Tag, an dem sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Und daher besuchte er nun ihr Grab, wie immer mit ihren Lieblingsblumen und, wie es sich für diesen Anlass gehörte, im dunklen Anzug. Er mochte sich zwar nur ungern ein Leben nach dem Tod vorstellen, es wären ja auch schrecklich viele Leute, die da auf einen Haufen zusammenkämen, aber man konnte trotzdem nicht sicher sein, ob Tante Pudel ihn nicht vom Jenseits aus kritisch ins Visier nahm, nur um sich davon zu überzeugen, dass er der guten Form Genüge tat. Sie war schon immer einen Tick anstrengend gewesen, was den Dresscode anging. Bis zu ihrem Tod hatte sie ihn mietfrei in ihrem Souterrain wohnen lassen und jetzt gehörte ihr Haus am Fischerhüttenweg ihm allein. Von Finanzen verstand er nichts, aber seinem väterlichen Vetter Brezel war es gelungen, Tante Pudels Vermögen bei einem angesehenen Berliner Investmentfonds so gut anzulegen, dass Hasi bis an sein Lebensende eine monatliche Apanage ausgezahlt bekam.
So in Erinnerungen an seine Tante versunken, schritt Hasi über den federnden Waldboden voran. Nach einer Weile mündete der Pfad in einen breiteren Weg. Direkt gegenüber bemerkte er schon wieder ein frisch ausgehobenes Grab. Wenn die Beerdigungen in diesem Tempo weitergingen, dürften in Berlin bald nicht nur Wohnungen knapp werden, die Toten müssten auch noch mit einer Bankbürgschaft in der Hand Schlange stehen, um hier einen Liegeplatz zu ergattern. Oder war er womöglich im Kreis gegangen, so wie die Verdurstenden in der Wüste es zu tun pflegten, anstatt schnurstracks zur nächsten Getränkeoase zu laufen?
Ein dumpfes Husten ließ ihn aufhorchen.
»Hallo«, rief er nicht allzu laut, »ist hier jemand?«
Aus dem offenen Grab kam ein Stöhnen und eine Hand streckte sich heraus. Ein Mann mit fettigem Haarzopf richtete sich in der Grube auf.
»Ey, Meesta! Willste mir uffn Federball jehn? Dit nennt man Störung der Totenruhe.«
Eine würzige Duftschwade Marihuana wehte Hasi direkt in die Nase.
Er warf einen Blick in das ausgehobene Grab. Ein Spaten stand neben einem Klappstuhl und es lagen einige leere Bierflaschen herum. Das Ensemble macht den Eindruck, als hätte der Mann es sich da unten häuslich eingerichtet.
»Wenn Sie hier arbeiten, dann kennen Sie sich doch bestimmt aus?«, fragte Hasi vorsichtig. In Berlin konnte man nie wissen, ob man gleich umarmt oder angepöbelt würde.
»Willste auch mal schnuppern?« Der Totengräber zeigte auf den Joint in seiner Hand.
»Vielen Dank.« Hasi schüttelte den Kopf. Vor einem feierlichen Grabbesuch gehörte es sich ganz und gar nicht, sich durch Drogenkonsum in beschwingte Stimmung zu bringen.
Der Mann nahm einen Zug und blickte Hasi fordernd an. »Hast mir schon mal irgendwo gesehen, oder?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Hasi, denn mehr als ein mildes Interesse für sein Gegenüber zu zeigen, galt in seiner Familie als unfein.
»Immer mit der Ruhe. Denk erst mal nach.«
Hasi kratzte sich am Kinn. Der Mann duzte ihn wie ein guter Bekannter.
»Kleena Tipp vom Fachmann. Du hast doch ’n Fernseher, oder?«
»Ach so! Sie sind vom Fernsehreparaturdienst!«
»Pillepalle!« Er nahm noch einen Zug. »Noch ’n Tipp: Das Camp.«
Hasi sah ratlos in das erwartungsvolle Gesicht. »Tut mir leid, ich komme gerade nicht darauf.«
»Da red ick mir ’n Zahn locker!« Der Totengräber schlug sich gegen die Stirn. »Mann, die Reality Show!«
»Bedaure.«
Der Mann in der Grube schüttelte gerührt den Kopf. »Fünfzig Tage mit Typen, die alle ’n Sprung in der Glocke hatten. Nicht mal schiffen kann man, ohne dass die Kamera draufhält.«
»Das tut mir leid.« Hasi merkte, dass seine Antwort den armen Kerl nicht zufriedenstellte. »Ich meine, wirklich fabelhaft, wie Sie das überstanden haben.«
Der Mann strahlte wieder. »Dit is amtlich, Meesta! Ick war am Ende der Clou vom Ganzen, alle Scheißkameras auf meine Visage, kann mir keiner mehr nehmen.«
»Freut mich für Sie«, sagte Hasi. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Grabstätte der Familie von Rettwitz finde? Ich fürchte, ich habe ein wenig die Orientierung verloren.«
»Gloobste, ick latsche hier durch die Floristik und kieke uff Leichensteine?«
»Kein Grabstein. Ein Pavillon in weißem Marmor mit schwarzen Tafeln.«
»Hättste ooch gleich sagen können. Den Waldweg zurück und hinter der Säule mit dem goldenen Kopp rechts ab.«
Ein Windstoß trieb die Marihuanaschwaden in Hasis Gesicht, sodass es ihm fast den Atem nahm, bevor er sich mit leichterem Kopf wieder auf den Weg machte. Als der Pavillon zwischen den Baumstämmen hindurchschimmerte, wischte er sich ein unpassendes Lächeln aus dem Gesicht. Die Grabstätte war flankiert von weißen Marmorsäulen und die einheitlichen schwarzen Marmortafeln trugen Namen in goldenen Lettern und Daten, die bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichten. Mit dem Fuß fegte Hasi ein paar Kiefernnadeln von den Stufen. Die Rosen, die er das letzte Mal mitgebracht hatte, waren inzwischen verwelkt, und er stellte den neuen Strauß in die Vase. Tante Pudel hatte Rosen geliebt und jetzt kümmerte er sich um ihre Rosenrabatte vor der Terrasse, goss sie jeden Morgen und deckte sie im Winter mit Tannenzweigen gegen die Kälte ab. Er wohnte nach wie vor im Souterrain. Aus irgendeinem Grund hatte er Hemmungen, Tante Pudels Wohnräume im Obergeschoss zu beziehen. Er beließ es dabei, alles mit dem Federbusch abzustauben und einmal im Monat die Teppiche im Garten auszuklopfen, so wie sie es zu Lebzeiten von ihm erwartet hatte. Aber inzwischen kam es ihm doch etwas mühsam vor, dass er sich in ihrem Haus immer noch bewegte wie auf Zehenspitzen, und manchmal fragte er sich, ob seine Tante selbst nicht wollen würde, dass er sein Erbe endlich in Gebrauch nahm. Er war schließlich jung und sie war tot, das sollte doch zumindest eine Änderung in ihrer Beziehung bewirken.
Hasi gähnte. Das nutzlose Grübeln strengte seinen Kopf an und auch die Rauchschwaden des Totengräbers waren nicht ohne Wirkung geblieben. Er setzte sich auf eine Marmorbank. Die Grabpflege konnte noch warten. Der Himmel war strahlend blau, nur ganz oben sah er die zarten weißen Kondensspuren der Flugzeuge, die den Himmel wie mit Kreidestrichen durchkreuzten. War es nicht wunderbar, nicht arbeiten und nirgendwo anders sein zu müssen als hier und jetzt auf einer kühlen Friedhofsbank? Was für eine herrliche Ruhe. Er lehnte sich gegen eine der Säulen und gähnte noch einmal herzhaft. Während seine Augenlider schon schwer wurden und der Kopf langsam nach vorn sackte, fiel ihm eine schadhafte Stelle am Ärmelaufschlag seines Jacketts auf. Das war noch lange kein Grund, den Kittel zu entsorgen, denn mit Textilkleber und schwarzem Filzstift würde sich die Kalamität leicht beheben lassen, dachte er noch, bevor er langsam wegdriftete.
Plötzlich hörte Hasi...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2018 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Auftragskiller • Belletristik • Berlin • Hasi-Krimi • Investmentbetrüger • Jenseits • Kunsthändler • Schwerin von Krosigk • Séancen • Spannung |
ISBN-10 | 3-8393-6162-1 / 3839361621 |
ISBN-13 | 978-3-8393-6162-7 / 9783839361627 |
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Größe: 865 KB
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