Jerry Cotton Sonder-Edition 88 (eBook)
80 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-7104-8 (ISBN)
Hinter den Mauern von St. Quentin hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Er kam auf etwas, was er für den genialsten Einfall hielt. An Hunderten von unausgefüllten Tagen und in ebenso vielen Nächten feilte er an seinem Plan. Als er entlassen wurde, ging er unverzüglich ans Werk. Das kostete neun Menschen das Leben. Denn er machte Reklame für den Tod ...
1
Mit einem Scheckbetrug fing er an – mit kaltblütig geplanten Morden hörte er auf. Die erste falsche Unterschrift brachte ihm zweiundsechzig Dollar und vierundsiebzig Cent ein und acht Monate auf Bewährung. Beim zweiten Mal erbeutete er zwar etwas über zweitausend Dollar, aber zugleich auch achtzehn Monate, die er abzusitzen hatte.
Von Schecks hatte er jetzt genug. Sein drittes Schwindelunternehmen war anders angelegt. Gefälschte Grundstückspapiere und ein paar raffinierte Manipulationen bescherten ihm zweiunddreißigtausend Dollar ein und eine Strafe von sechs bis acht Jahren Zuchthaus.
Hinter den Mauem von St. Quentin hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Er kam auf etwas, was er für den genialsten Einfall seines Lebens hielt. In Hunderten von unausgefüllten Tagen und schlaflosen Nächten feilte er an seinem Plan. Als er dann am 3. Juli, einem Donnerstag, entlassen wurde, machte er sich unverzüglich daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Das kostete neun Menschen das Leben.
Die großen Gebäudekomplexe, die Wachttürme mit Scheinwerferbatterien und Maschinengewehren, die kahlen Höfe und die klobigen Mauern von St. Quentin lagen im hellen Sonnenlicht eines Frühlingstags, als sich für Samuel Rochinski endlich das letzte Tor in die Freiheit öffnete. Es war vier Minuten nach zehn Uhr vormittags – die Entlassungszeit für St. Quentin.
Rochinski war neunundvierzig Jahre alt, konnte aber leicht für fünfundfünfzig oder älter gehalten werden. Er trug den hellgrauen, von der Mode überholten Anzug, den er bei seiner Einlieferung getragen hatte. Wie er so leicht gebeugt und ohne sich umzublicken von dem Tor des Zuchthauses fortging, schien es fast, als stellten Anzug und heller Staubmantel eine zu schwere Last für die hängenden Schultern dar.
Rochinski wusste genau, dass ihn niemand erwartete. Er war nicht verheiratet, er besaß keine Verwandten, und er hatte nirgendwo auf der Welt Freunde. Zeit seines Lebens war er ein Einzelgänger gewesen. Deshalb achtete er auch nicht auf den roten Ford, der ihm von der entferntesten Ecke der schier endlosen Zuchthausmauer her entgegenrollte.
Am Steuer saß eine Frau mit einem etwas auffälligen Make-up. Die Augenbrauen waren zu deutlich nachgezogen, die Lippen eine Idee zu dunkel geschminkt. Außerdem war auf den ersten Blick zu erkennen, dass sie falsche Wimpern angeklebt hatte. Die Frau mochte dreißig Jahre alt sein. Sie trug ein dunkles, blauseidenes, schimmerndes Kleid, glänzende blaue Handschuhe und eine Kappe auf dem pechschwarzen Haar. Ein kleiner Netzschleier spannte sich über Nasenspitze und Kinn.
Samuel Rochinski hatte Fahrzeug und Fahrerin nur mit einem flüchtigen Blick bedacht und wollte seinen Weg fortsetzen, als der Wagen neben ihm hielt.
»Mister Rochinski, nicht wahr?«, fragte die Frau durch das hinuntergelassene Seitenfenster.
Samuel Rochinski blieb verdutzt stehen. »Ja«, erwiderte er, räusperte sich und fügte hinzu: »Müsste ich Sie kennen?«
»Wohl kaum.« Die Frau warf ihm einen Blick zu und versuchte, zu lächeln. »Ich kenne Sie, das genügt. Willkommen in der Freiheit, Mister Rochinski. Steigen Sie ein. Ich wollte Sie abholen.«
Rochinski runzelte die Stirn und fingerte an seiner Brille mit den dünnen Goldbügeln. Die fast leere Reisetasche baumelte von seiner linken Hand. »Mich?«, fragte er mit einem verlegenen Lächeln. »Aber woher kennen Sie mich denn?«
»Ist das so wichtig?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht nicht. Ich bin ein wenig verwirrt, Ma’am. Es ist … Ach, du liebe Zeit, ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass mich mal irgendjemand irgendwo abgeholt hat. Aber wenn es Ihr Ernst ist …?«
Er streckte die Hand aus und griff nach der Autotür. Die Frau beugte sich über den Beifahrersitz und half ihm von innen. Rochinski kletterte in den Wagen und schob seine schlaffe Reisetasche auf den Rücksitz.
»Wie war’s?«, fragte die Frau und deutete mit einer umfassenden Gebärde auf die hochragenden, schier endlosen Mauern des Zuchthauses.
Rochinski zuckte mit den Schultern. Er lehnte sich zurück und genoss den Luxus eines gepolsterten Sitzes. Mit geschlossenen Augen erwiderte er: »Da war mal einer, der durfte für uns singen. Eine sehr angenehme Männerstimme. Es wundert mich, dass sie diese Veranstaltung zugelassen haben. Noch dazu dieses Lied, das allen da drin seither nicht mehr aus dem Kopf geht: Saint Quentin, I hate every inch of you … Da haben Sie Ihre Antwort.«
»Saint Quentin, ich hasse jeden Zoll von dir«, wiederholte die Frau nachdenklich.
»Ja«, sagte Rochinski hart und öffnete die Augen wieder. »Jede Note, jeder Ton, jede Silbe dieses Lieds kam uns aus dem Herzen: Saint Quentin, ich hasse jeden Zoll von dir! Manchmal ist es so schlimm, dass man versucht ist, diese Mauern mit den bloßen Fingernägeln zu zerkratzen. Was auch immer geschehen mag, niemand wird mich je wieder in dieses Gefängnis bringen. Niemand!«
Die Frau schwieg. Mit routinierter Sicherheit steuerte sie den Wagen über die Ausfallstraßen von der Stadt fort. Später bog sie auf weniger befahrene Nebenstraßen ab, schließlich auf Seitenwege, die nicht einmal richtig asphaltiert waren, und endlich stoppte sie das Fahrzeug vor einer Felsklippe, die schroff zur See abfiel. Sie stiegen aus. Tief unten leuchtete die gischtende Brandung. Ihr dumpfes Brausen erfüllte die Luft.
Rochinski atmete tief. »Mein Gott«, sagte er leise, »wie viele Nächte habe ich davon geträumt …?«
Die Frau hatte ein kleines Fernrohr aus dem Handschuhfach geholt. Jetzt suchte sie langsam und systematisch die Umgebung ab.
Als Rochinski es bemerkte, erkundigte er sich: »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Im Gegenteil«, erwiderte die Frau. »Ich möchte mich vergewissern, dass uns niemand beobachtet.«
Samuel Rochinski erschrak, ohne es zu zeigen. Keine Zeugen? Wollte sie ihn etwa von der Klippe stürzen? Aber warum sollte sie so etwas tun? Er kannte sie doch gar nicht. Er hätte schwören können, dass er sie nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Und doch, auf eine äußerst verwirrende Weise kam ihm irgendetwas an ihr seltsam vertraut vor. Aber er konnte nicht einmal herausfinden, was es war.
»Dann«, sagte er und musste sich wieder räuspern, »dann sind Sie absichtlich zu dieser einsamen Stelle gefahren?«
»Natürlich. Glauben Sie, ich hätte ein romantisches Plätzchen für uns zwei gesucht?« Der Spott in ihrer etwas zu schrillen Stimme war unüberhörbar. »So schön, mein Lieber, sind Sie nun wirklich nicht, Rechner.«
Vor dem letzten Wort hatte sie eine kleine Pause eingelegt. Als sie es dann aussprach, wich Rochinski unwillkürlich einen Schritt zurück. Er stieß gegen den Wagen und tastete mit der Hand nach dem Türrahmen.
»Rechner?«, wiederholte er. »Rechner?«
»So wurden Sie doch in Saint Quentin von allen genannt, nicht wahr?«
Rochinski nickte verwirrt. »Ja, das ist wahr. Doch sie haben mir diesen Spitznamen erst im Zuchthaus gegeben. Ich dachte, dass es niemand außerhalb der Mauern wissen könnte.«
Das Gesicht der Frau war unter dem Schleier nicht besonders gut zu erkennen. Dennoch schien es Rochinski, als lächelte sie.
»Ich weiß es trotzdem«, erwiderte sie. »Und ich weiß eine Menge mehr. Sie möchten gerne einen kleinen Laden haben, wo Sie Uhren reparieren können. Weniger verkaufen, als vielmehr reparieren. Habe ich recht?«
»Sie werden mir allmählich unheimlich«, gestand Rochinski. »Auch das können eigentlich nur die Leute in Saint Quentin wissen. Aber da drin gibt es keine Frauen. Woher also können Sie es wissen? Sind Sie die Frau eines anderen Sträflings? Oder die Frau eines Wächters?«
»Nein. Und fangen Sie nicht an, darüber zu grübeln. Ich bin über Sie informiert. Das muss Ihnen genügen. Woher, das spielt keine Rolle. Sind Sie immer noch an dem kleinen Uhrenladen interessiert?«
»Sicher, ja, natürlich«, gab Rochinski zu. »Uhren haben mich immer gereizt. Sie sind kleine Meisterwerke der Berechnung. Aus einer vollendeten Kombination von Zahnrädern ergibt sich eine vorausberechenbare Bewegung in der Zeit. Wenn man so will, könnte man sagen, dass jede Uhr angewandte Mathematik …«
»Ich kenne Ihr Steckenpferd«, fiel ihm die Frau ins Wort. »Sie haben Ihren Spitznamen Rechner ja nicht grundlos erhalten. Nun, Sie können Ihren Uhrenladen haben. In einer Kleinstadt namens Marion im Bundesstaat Kansas. Wie gefällt Ihnen das?«
Samuel Rochinski zuckte verlegen mit den Schultern. »Es wäre natürlich sehr schön«, gab er zu. »Ich habe oft davon geträumt, im Zuchthaus, nachdem ich mir Mühe gegeben hatte, das Uhrmacherhandwerk zu erlernen. Immer habe ich mir vorgestellt, wie hübsch es sein müsste, irgendwo einen kleinen Laden zu haben, wohin die Leute ihre alten Uhren bringen, damit ich sie reparieren kann.«
»Sie können Ihren Traum verwirklichen. Ich habe in Marion einen solchen kleinen Laden für Sie gekauft. Sie können ihn haben.«
Rochinski schüttelte wehmütig den Kopf. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber es geht nicht. Missverstehen Sie mich nicht. Natürlich weiß ich Ihre Güte zu schätzen. Aber was hätte es für einen Sinn, wenn ich Ihnen jetzt etwas vormachte? Einen solchen Laden muss man ja nicht nur haben, man muss ihn doch auch halten können. Und das, fürchte ich, ist gar nicht möglich. Um einen billigen Wecker zu reparieren, kann man ein paar Stunden Zeit brauchen. Aber dann könnte der...
| Erscheint lt. Verlag | 25.9.2018 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Jerry Cotton Sonder-Edition | Jerry Cotton Sonder-Edition |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Action Abenteuer • action romane • action thriller • action thriller deutsch • alfred-bekker • Bastei • bastei hefte • bastei heftromane • bastei romane • bastei romane hefte • Bestseller • Deutsch • e Book • eBook • E-Book • e books • eBooks • erste fälle • erste-fälle • Fall • gman • G-Man • Hamburg • Heft • Heftchen • Heftroman • heftromane bastei • Horst-Bosetzky • international • Kindle • Krimi • Krimiautoren • Krimi deutsch • krimi ebook • Krimi kindle • Kriminalfälle • Kriminalgeschichte • Kriminalgeschichten • Kriminalroman • Kriminalromane • kriminalromane 2018 • kriminalromane deutsch • Krimi Reihe • Krimireihen • krimi romane • Krimis • krimis&thriller • krimis und thriller kindle • Krimi Urlaub • letzte fälle • martin-barkawitz • morland • nick-carter • Polizeiroman • Reihe • Romanheft • Roman-Heft • schwerste fälle • schwerste-fälle • Serie • Soko-Hamburg • spannend • spannende Krimis • spannende Thriller • Spannungsroman • stefan-wollschläger • Stefan Wollschläger • Tatort • Terror • thomas-herzberg • Thriller • uksak • Urlaub • Wegner |
| ISBN-10 | 3-7325-7104-1 / 3732571041 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-7104-8 / 9783732571048 |
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