Kapitel 1
Ist das, wonach es aussieht?“
Jo dreht sich zur Seite und mustert den Typen, der auf dem Barhocker neben ihrem Platz genommen hat, und so etwas wie ein Lächeln versucht. Falls das seine Pick-Up-Line ist, sollte er dringend daran arbeiten.
„Wonach sieht’s denn aus?“
„Ehering.“
Schön, wenn Männer komplizierte Sachverhalte in einem einfachen Hauptwort ausdrücken können, statt einen unnötig langen Satz mit Grammatik und dem ganzen altmodischen Schnickschnack zu bilden. Jo verdreht innerlich die Augen.
„Ist es.“
„Mist.“
Mit dieser Einordnung hat sich für den Typ offenbar auch die Unterhaltung erledigt. Er steht umständlich vom Barhocker auf und stapft grußlos zurück zu dem großen Tisch in der Ecke der Kneipe, wo er sich zu seinen Kumpels setzt. Denen schildert er die Begegnung mit Jo eindeutig wortreicher, als seine tatsächliche Anmache ausgefallen ist, und sie reagieren mit schallendem Gelächter.
Jo schaut auf die Uhr – kurz nach elf. Zeit, hier die Segel zu streichen. Auch wenn Luca meist durchschläft und von ihren Ausflügen ins Haddocks selten etwas mitbekommt, lässt sie ihn doch nie länger als eine knappe Stunde alleine. Die aber braucht sie hin und wieder, um etwas Abstand zu bekommen von diesem Leben, in dem sie sich ansonsten ganz gut eingerichtet hat.
Die alte Ruhelosigkeit, an die sie sich schon aus den Tagen ihrer Kindheit erinnert, ist dennoch ihr Begleiter geblieben, den Jo an Abenden wie heute mit Bier und Tequila zum Schweigen zu bringen versucht. War es nicht Gottfried Benn, der gesagt hat, er kokse vor allem, um die Stimmen in seinem Kopf kurzzeitig ruhigzustellen? Guter Mann, dieser Benn.
„Zahlen!“ Jo winkt Benny, der in der angrenzenden Küche gerade die Spülmaschine öffnet und für einen Moment kaum zu sehen ist, im Wasserdampf. „Es waren jeweils zwei, oder?“, fragt der und zwinkert lächelnd, also Jo auf drei erhöhen will. „Ist ja schon der Zwölfte!“, flüstert der Student, der hier an drei Abenden in der Woche den Laden schmeißt, verschwörerisch. Jo erinnert sich dunkel daran, wie sie ihm kürzlich zwischen zwei Shots erzählt hat, dass ihr Gehalt immer am 15. des Monats fällig wird und sie kurz vorher meist etwas knapp bei Kasse ist. Dafür schämt sie sich jetzt angemessen und gleicht das ungute Gefühl mit viel zu viel Trinkgeld aus, obwohl sie tatsächlich verdammt klamm ist. Benny schaut schuldbewusst auf die Münzen in seiner Hand und Jo schwört sich hoch und heilig, für eine Weile mit den Besuchen im Haddocks auszusetzen.
Bereits bevor sie die Wohnungstür öffnet, kann Jo Obama auf der anderen Seite maunzen hören. Sobald sie im Flur steht, streicht ihr der fette Kater laut schnurrend um die Beine. Jo bückt sich und streichelt ihm den Kopf.
„Na, Dicker, alles klar bei euch?“ Obama leckt ihre Finger und schüttelt sich, wobei sein Gesichtsausdruck so etwas wie Entrüstung annimmt.
„Sorry. Salz?“ Jo kichert albern. Sie ist offenbar doch ein wenig beschwipst.
„Leise!“, ermahnt sie den beleidigten Kater und drückt den Zeigefinger auf ihre Lippen, während sie die Schuhe auszieht und mit den Füßen unter den Spiegelschrank schiebt. „Du weckst sonst Luca.“ Obama folgt ihr durch den Flur bis zu der Tür, aus der ein schmaler Streifen blaues Licht fällt. Auf Zehenspitzen tapst Jo in das Zimmer, verbeißt sich tapfer einen Aufschrei, als sich ein scharfer Legostein in ihren nackten Fuß bohrt, und tritt ans Bett ihres Sohnes.
Das blasse Gesicht des Fünfjährigen ist in das blaue Licht seiner kleinen Nachttischlampe getaucht, auf der Fische die Tiefen eines unbekannten Meeres durchschwimmen. Lucas unzählige Sommersprossen wirken beinahe lila und die kleinen Hände liegen so verdreht auf seiner Stirn und unter dem Kopf, als hätte er sich beim Einschlafen noch die Haare gerauft. Jo weiß aus zärtlichen Erzählungen der Großmutter, dass ihre eigene kindliche Schlafhaltung ganz ähnlich gewesen sein muss. Auch die Sommersprossen im Gesicht des Jungen tragen so schon Jo, ihre Oma und Generationen von Frauen vor ihnen. Luca aber ist der erste Bub, dessen Gesicht sie betupfen. „Ein Zeichen für die Regenschauer in seiner Seele“, hat ihre Nonna dazu gesagt und Jos Herz beklommen gemacht, weil sie hofft, ihr Sohn möge in seinem Leben verschont bleiben von den Stürmen, die in ihrer eigenen Seele oft toben.
Bisher scheint ihr Wunsch sich zu erfüllen. Der Kleine ist ein aufgewecktes, herzliches Kind, das immer lacht. Die Pendelei zwischen Kita, Zuhause und seiner Urgroßmutter scheint ihn nicht weiter zu belasten, auch wenn Jo sehr wohl weiß, dass die alte Frau seinem Temperament nicht ewig gewachsen sein wird. Aber noch kommen sie zu dritt gut zurecht und so unterdrückt Jo den Anflug von schlechtem Gewissen über die zurückliegende Stunde an der Bar – die Kneipe liegt schließlich im selben Haus wie ihre Wohnung – und schleicht aus dem Zimmer des Jungen, nachdem sie das Licht neben seinem Bett gelöscht hat.
In ihrem eigenen kleinen Schlafzimmer zieht Jo den Ehering ihrer toten Mutter vom Finger und legt ihn in eine Schatulle auf der Kommode, bevor sie ihre Kleider achtlos auf den Boden wirft und nackt unter die Bettdecke schlüpft.
Jo wird von dem Geruch frischen Kaffees geweckt und ahnt sofort, das verheißt nichts Gutes. Ihr Gefühl bestätigt sich, als sie die Augen öffnet und in Lucas nutellaverschmiertes Gesicht schaut.
„Mama, du hast verschlafen“, erläutert der Dotz eine Tatsache, die zwischenzeitlich auch seiner Mutter klar geworden ist.
„Na sowas“, murmelt sie. „Und deswegen kriege ich keinen Guten-Morgen-Kuss?“
„Doooch!“, ruft Luca enthusiastisch und schmatzt ihr einen Teil seiner Schokolade ins Gesicht, bevor er zurück Richtung Küche wackelt.
Leise fluchend greift Jo nach dem Handy auf ihrem Nachttisch. In einer Push-Meldung informiert RPR1 über einen Autounfall auf der B9 kurz hinterm Bodenheimer Wasserwerk und die Allgemeine Zeitung Mainz verkündet, dass weitere Details zu den inoffiziellen Bezügen des 05-Präsidenten bekannt geworden sind.
Sie seufzt. Diese Geschichte zieht sich nun schon seit Wochen. Aber sie möchte eigentlich gerade nur kontrollieren, ob sie letzte Nacht betrunken irgendwelche peinlichen Nachrichten abgesetzt hat. Doch da ist scheinbar alles sauber: Postausgang, Anrufliste, SMS. Lediglich im WhatsApp-Verlauf mit ihrem Kollegen Jonas hat sich etwas getan: „Morgen Mittagspause im Bullys?“, hat sie ihm um 2.51 Uhr geschrieben. Kurz vor drei. Jo massiert sich die Schläfe. Kein Wunder, dass ihr Kopf derartig dröhnt. Aber eher ungewöhnlich, dass Jonas noch nicht auf ihren Vorschlag reagiert hat, zumal, wenn es um Burger geht. Für die lässt er eigentlich alles stehen und liegen.
„Guten Morgen, Engelchen.“ Es ist Jos Großmutter vorbehalten, Kosenamen einen Klang zu geben, der einem Tadel gleichkommt.
„Du solltest dich hier nicht immer so reinschleichen, Nonna“, sagt Jo statt einer Antwort, während sie sich ungelenk an den Küchentisch setzt. Sie bemüht sich nur Luca zuliebe darum, die Schärfe, die sie eigentlich verspürt, aus ihrem Tonfall zu halten.
„Und du solltest dich hier nicht immer so rausschleichen.“ Die Großmutter knallt ungerührt eine Tasse Kaffee, schwarz mit wenig Zucker, vor Jo auf den Tisch, die bei dem lauten Geräusch gequält zusammenzuckt.
„Das geht dich überhaupt nichts an.“
„Wenn mein Ur-Enkel zu spät in die Schule kommt, schon.“
„Mein Sohn geht noch in den Kindergarten. Und wir schaffen das gerade so alleine.“
„Sieht mir nicht danach aus, Engelchen.“
„Lass das Engelchen stecken, Nonna. You’ve got to stop it.“
„Was? Dafür zu sorgen, dass meine drunk ass granddaugther nicht verschläft?“
Wie immer, wenn die Frauen vor Luca streiten, verfallen sie ins Englische, damit der Junge sie nicht versteht.
„Wenn du dich derart für das drinking problem deiner eigenen daugther interessiert hättest, she might still be alive – und du müsstest dein schlechtes Gewissen nicht damit beruhigen, to show up here all the time.“
Jo spürt bereits während die aufgewühlten Worte ihren Mund verlassen, dass sie im Begriff ist, zu weit zu gehen. Aber sie kann sich trotz der Alarmglocken in ihrem Kopf nicht bremsen. Sie hasst es, sich in die Ecke gedrängt zu fühlen. Und niemand schafft es besser als ihre Großmutter, ihr das Gefühl zu geben, auf ganzer Linie zu versagen. Dass Nonna – ein Begriff, der sich nach einem gemeinsamen Italienurlaub von Jo, ihrer Mama und der Großmutter in den Achtzigern gehalten hat – es nur gut meint, ändert daran überhaupt nichts, im Gegenteil.
„Um die Sauferei deiner Mutter zu beenden, hätte man sie emotional von deinem Vater loseisen müssen. Du weißt so gut wie ich, dass das unmöglich war“, presst Nonna unüberlegt ohne schützendes Englisch hervor und fixiert Jo mit wütendem Blick.
„Mama hat gar keinen Vater“, mischt Luca sich krähend in die Unterhaltung ein, sichtlich froh darüber, etwas zu verstehen und zugleich einen Punkt gefunden zu haben, an den er anknüpfen kann. „Genau wie ich!“
Der Tonfall des Jungen drückt aus, dass er diese Tatsache für etwas Positives hält. Jo bestärkt ihren Sohn darin, indem sie ihm die ausgestreckte Hand zum High-Five anbietet, das der Junge klatschend und breit grinsend einlöst. Nonna schnaubt aufgebracht. „So ein Unsinn! Jeder Mensch hat einen Vater.“
„Mag sein“, entgegnet Jo kühl. „Aber manchen von uns geht’s dabei eben...