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Kafka von Tag zu Tag (eBook)

Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
640 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490896-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kafka von Tag zu Tag -  Reiner Stach
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Ein Schatz für alle Kafka-Liebhaber Über drei Jahrzehnte hat der große Kafka-Biograph Reiner Stach Daten rund um das Leben von Franz Kafka gesammelt: Er hat eine unendliche Fülle an Material zusammengetragen, gesichtet und ausgewertet. Der Ertrag ist eine ebenso umfassende wie präzise Chronik, die Kafkas privates Umfeld - Familie, Freunde, Geliebte - ebenso einbezieht wie seine Lektüre, die Entstehungsgeschichte seiner Werke, seine berufliche Laufbahn, seine Reisen und die für ihn bedeutsamsten kulturellen und politischen Ereignisse. Außerdem bietet Reiner Stach knappe Zusammenfassungen sämtlicher Briefe und Tagebucheinträge, wodurch Kafkas Reaktionen auf die Ereignisse lebendig werden und sich nicht selten auch verblüffende Parallelen, Widersprüche und Querverbindungen zeigen. Ein Schatz an Informationen, der zum Nachschlagen ebenso anregt wie zum Weiterlesen.

Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern. 1987 erschien seine Monographie ?Kafkas erotischer Mythos?. 1999 gestaltete Stach die Ausstellung ?Kafkas Braut?, in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. 2002 und 2008 erschienen die ersten beiden Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach für ?Kafka: Die Jahre der Erkenntnis? mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet. Für sein herausragendes Gesamtwerk auf dem Feld der literarischen Biographik erhielt er 2016 den Joseph-Breitbach-Preis. Literaturpreise: 2003 Kulturförderpreis des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land 2008: Sonderpreis zum Heimito von Doderer-Literaturpreis 2016: Joseph-Breitbach-Preis

Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern. 1987 erschien seine Monographie ›Kafkas erotischer Mythos‹. 1999 gestaltete Stach die Ausstellung ›Kafkas Braut‹, in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. 2002 und 2008 erschienen die ersten beiden Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach für ›Kafka: Die Jahre der Erkenntnis‹ mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet. Für sein herausragendes Gesamtwerk auf dem Feld der literarischen Biographik erhielt er 2016 den Joseph-Breitbach-Preis. Literaturpreise: 2003 Kulturförderpreis des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land 2008: Sonderpreis zum Heimito von Doderer-Literaturpreis 2016: Joseph-Breitbach-Preis

Die Gegenüberstellung von Geschichte und Geistesgeschichte gibt ein anschauliches Bild des Dichters wieder.

Vorwort


Der Biograph will erzählen, »wie es gewesen ist«, fokussiert auf die Gefühle, Gedanken, Erlebnisse, Entscheidungen und Leistungen eines einzelnen Menschen. Ob er diesem Anspruch genügen kann, hängt von vielerlei Fähigkeiten ab, die er im Akt des Schreibens bündeln muss; zuallererst aber hängt es davon ab, wie empfindlich sein Sinn für Tatsachen ist. Versteht er sein Handwerk, so wird er ausdauernd, gewissenhaft und unbestechlich im Umgang mit Fakten sein, er wird nicht zögern, sich nach der kleinsten Münze zu bücken, und ebenso wenig, sie in den Papierkorb zu werfen, sobald er sie als Spielgeld erkannt hat.

Solche Genauigkeit und Intuition beim Auswerten des überlieferten Materials ist eine der am meisten unterschätzten Tugenden des Biographen, denn von den Lesern und Kritikern wird sie so selbstverständlich vorausgesetzt wie die Fähigkeit des Notenlesens bei angehenden Musikern. Das ist ein Missverständnis, dem der Biograph besser nicht aufsitzen sollte. Zielgerichtetes Sammeln von Fakten erfordert nämlich nicht nur ein Wissen um die vielversprechendsten Quellen und deren Zuverlässigkeit, es verlangt darüber hinaus ein breites Kontextwissen, das heißt ein Wissen darüber, was zu sammeln sich überhaupt lohnt und in welcher Hinsicht es sich lohnt.

Ein einfaches Beispiel. Nehmen wir an, ein Biograph Franz Kafkas findet heraus, dass eines der Gebäude, die in dem Roman Das Schloss als Orte der Handlung beschrieben werden, eine genaue Entsprechung in der Wirklichkeit hatte und dass man das architektonische Vorbild auch heute noch besichtigen kann. Er steht vor diesem Gebäude, in der rechten Hand den Fotoapparat, in der linken Kafkas Schilderung, und tatsächlich, es stimmt alles, Wort für Wort. Natürlich versetzt es in freudige Erregung, etwas Derartiges zu entdecken, und es ist zunächst schwer, sich dem Gefühl einer auratischen Nähe zu entziehen. Kühlen Kopfes muss sich der Biograph jedoch sagen, dass er diese Freude allenfalls mit einer kleinen Gruppe unverbesserlicher Fans wird teilen können, während der Erkenntniswert des isolierten Faktums doch recht überschaubar bleibt. Es könnte sein, dass dieser Wert tatsächlich im Anekdotischen verbleibt, und in diesem Fall bliebe nur die Empfehlung an den Leser, hinzufahren, es sich anzuschauen und den leisen Schauder selbst zu genießen (nämlich in dem nordwestböhmischen Dörfchen Zürau, heute Siřem).

Diese Einschätzung wird sich jedoch grundlegend ändern, sobald der Biograph eine zweite und dritte gleichartige Entdeckung macht. Denn das wirft nun doch die Frage auf, ob hier womöglich ein Muster, eine Serie vorliegt, die systematisch untersucht werden sollte – weil wir, falls die Vermutung sich bestätigen sollte, kostbare Informationen über Kafkas Produktionsweise, über sein visuelles Gedächtnis und über die für ihn typische Überlagerung realer und imaginärer Details gewinnen würden. Eine solche Entdeckung wäre interessant nicht mehr nur für Kafka-Touristen, sondern auch für Literaturwissenschaftler.

Daraus folgt zum einen, dass kein Mosaiksteinchen zu verachten ist. Denn es wohnt ihm ein potentieller Erkenntniswert inne, der sich entfaltet, sobald weitere passende Steinchen gefunden sind. Eine wie immer geartete intellektuelle Herablassung gegenüber dem leidenschaftlichen Sammler kann sich der Biograph daher nicht leisten, denn die Sammler sind es – darunter Archivare, Hobbyforscher und hochspezialisierte Philologen – , die den empirischen Rohstoff schürfen, manchmal in jahrzehntelanger entbehrungsreicher Arbeit und mit wenig öffentlicher Anerkennung.

Zum anderen freilich ist ebenso offensichtlich die fatale Eigendynamik des Sammelns, die dazu führen kann, dass Genauigkeit und Vollständigkeit zum Selbstzweck werden und das Interesse an allem, was darüber hinausgeht – also an Deutung, Synthese, Kontextualisierung –, allmählich verlorengeht. Ja, selbst eine umgekehrte Herablassung des Sammlers gegenüber jeglicher intellektueller Arbeit, die über den Tellerrand des Mess- und Zählbaren hinauswill, ist nicht selten. Diese Hybris des reinen Faktums trifft insbesondere diejenigen Biographen – und demzufolge auch deren Leser – , die einen Menschen oder eine Epoche neu verstehen wollen, ohne darauf warten zu müssen, dass das allerletzte Steinchen gefunden ist, ja, die an ein solches letztes Puzzleteil gar nicht glauben und die daher in Kauf nehmen, dass ihr Verständnis für immer unabgeschlossen bleibt. Gewiss, die Steinchen selbst sind haltbarer als jeder noch so raffinierte Versuch, sie zu den Konturen eines plausiblen Bildes aneinanderzufügen. Wozu aber, fragt der Goethe-Biograph Nicholas Boyle, dienen denn eigentlich Kompilationen von Fakten, wenn nicht von Zeit zu Zeit jemand eine überzeugende Synthese all des Materials versucht? Das ist die entscheidende Frage.

 

Mein eigener erster Versuch einer solchen Synthese datiert zurück auf die achtziger Jahre. Bei S. Fischer war soeben der erste Band der Kritischen Kafka-Ausgabe erschienen, der Roman Das Schloss, und der erste Blick in den separaten Apparatband, der zahllose Textvarianten akribisch verzeichnet, kam einer Offenbarung gleich. Hatte man sich an die sperrigen diakritischen Zeichen erst einmal gewöhnt, so konnte man Kafka bei der Arbeit verfolgen. Man konnte beobachten, wie er krasse Einfälle abmilderte, falsche Fährten legte und allzu Eindeutiges nachträglich vernebelte. Ja, man konnte ihn sogar bei verräterischen Fehlleistungen ertappen, etwa der Verwechslung von Namen. Und schon beim ersten Durchblättern entdeckte ich, dass Kafka an diesem Romanmanuskript eine beispiellose Operation vorgenommen hatte. Genau in dem Augenblick, da er eine sexuelle Szene aus der Ich-Perspektive hätte schildern müssen, entschied er, diese Perspektive aufzugeben und nachträglich zum Er überzugehen. Und das, obwohl er in dem schon weit fortgeschrittenen Text das Wort Ich und alle seine abgeleiteten Formen Hunderte Male tilgen und ersetzen musste.

Es war offensichtlich, dass man aus diesen Textvarianten, die von der überwältigenden Mehrzahl der Leser nur als philologisches Geröll wahrgenommen wurden, sehr weitreichende Erkenntnisse gewinnen konnte, wenn man sie nur in der richtigen Weise kontextualisierte: Erkenntnisse über Kafkas Schreibstrategie, die Logik seiner Assoziationen während des Schreibens selbst, aber auch über die bewussten und unbewussten Einflüsse gesellschaftlich geprägter Metaphern und Ideologeme bis hinein in die intimsten Bereiche der Imagination. Es war von größtem intellektuellem Reiz, diese beiden scheinbar so weit voneinander entfernten Ebenen ineinander zu spiegeln: auf der einen Seite unscheinbare Textsplitter, Verschreibungen und Korrekturen bis hinab zum gestrichenen Buchstaben – auf der anderen Seite mächtige mentalitätsgeschichtliche Strömungen, die auf den winzigen Mosaiksteinchen ihre Spuren hinterließen. Am Themenkomplex Frauen-Weiblichkeit-Sexualität ließen sich diese Zusammenhänge besonders eindrücklich belegen, und das Ergebnis war die Studie Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen (1987).

Dass dieses Verfahren auch in Biographien gut funktionieren kann, sofern das Material es »hergibt«, war seit langem bekannt. Eine unscheinbare, selbst alberne Anekdote, ein falscher Zungenschlag in einem Brief, ein scheinbar zufälliges Vergessen – derartige Marginalien wirken bisweilen wie Blitze über einer verfinsterten Landschaft, sie erlauben überraschende Einblicke, rücken Proportionen zurecht, zeigen dem Biographen aussichtsreiche Wege, auf denen er weitergehen sollte. Durch die Weiblichkeitsstudie hatte ich in dieses Verfahren Vertrauen gefasst, für die geplante Biographie über Kafka beschloss ich, es extensiv zu nutzen. Und zwar in einer für den Leser möglichst gut nachvollziehbaren und überprüfbaren Weise.

Das ist schließlich auch einer der Gründe dafür, warum die vollendete dreibändige Biographie (2002, 2008, 2014) so ungewöhnlich viele szenisch erzählte Passagen enthält. Unscheinbare sinnliche Details, an denen sich etwas Größeres, Wesentlicheres ablesen lässt, wirken viel überzeugender, wenn sie in ihrem lebendigen Zusammenhang gezeigt werden. So dient zum Beispiel die detaillierte Schilderung von Kafkas Blutsturz am 11. August 1917 nicht nur dazu, die biographische Erzählung mit Farbe und Emotion anzureichern. Sie zeigt vielmehr auch – bei allem Horror – ein unerwartetes Moment der Entspannung, und es war diese körperliche Erfahrung einer plötzlichen paradoxen Erleichterung, ohne die Kafkas »entspanntes« Beharren auf den sekundären Krankheitsgewinnen der Tuberkulose kaum vorstellbar ist. Denn es gehört zu den charakteristischen Zügen seiner Persönlichkeit, dass er sich selten von allgemeinen Überlegungen leiten ließ, vielmehr auf die unmittelbare Bestätigung im sinnlichen Erleben unmittelbar angewiesen blieb. Der tiefe Schlaf nach dem Blutsturz ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Isoliert betrachtet, gäbe dieses Puzzleteil nicht viel her; in den richtigen Kontext versetzt, das heißt, verbunden mit einigen genau passenden Teilen, beginnt es zu leuchten.

Das biographische Erzählen bedarf der Synthese aber noch in einem anderen Sinn. Das Leben eines Menschen verläuft ja niemals in einer Abfolge von Ereignissen, die sich auf einem Zeitstrahl ordentlich auftragen ließen. Vielmehr hat man es stets mit einem vieldimensionalen Geflecht zu tun, mit Wechselwirkungen zwischen den verschiedensten...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Dora Diamant • Elli Kafka • Familie Fanta • Felice Bauer • Hermann Kafka • Hungerkünstler • Karl Kraus • Klassiker der Moderne • Landarzt • Löwy • Marienbad • Max Brod • Nachlass • Ottla Kafka • Prag • Proceß • Regestenband • Sanatorium • Schloss • Valli Kafka • Verwandlung
ISBN-10 3-10-490896-6 / 3104908966
ISBN-13 978-3-10-490896-0 / 9783104908960
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