Bruder und Schwester (eBook)
150 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1545-1 (ISBN)
Leonhard Frank wurde am 4. September 1882 in Würzburg geboren. Sein Vater war Schreiner, er selbst ging zu einem Schlosser in die Lehre, arbeitete als Chauffeur, Anstreicher, Klinikdiener. Talentiert, aber mittellos, begann er 1904 ein Kunststudium in München. 1910 zog er nach Berlin, entdeckte seine erzählerische Begabung und verfaßte seinen ersten Roman, 'Die Räuberbande', für den er den Fontane-Preis erhielt. Im Kriegsjahr 1915 mußte er in die Schweiz fliehen: Er hatte Zivilcourage gezeigt und handgreiflich seine pazifistische Gesinnung kundgetan. Hier schrieb er Erzählungen gegen den Krieg, die 1918 unter dem berühmt gewordenen Titel 'Der Mensch ist gut' erschienen. Von 1918 bis 1933 lebte er wieder in Berlin, nun schon als bekannter Autor. 1933 mußte er Deutschland erneut verlassen, diesmal für siebzehn Jahre. Die Stationen seines Exils waren die Schweiz, England, Frankreich, Portugal und zuletzt Hollywood und New York. 1952, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus den USA, veröffentlichte er den autobiographischen Roman 'Links wo das Herz ist'. Leonhard Frank, 'ein Gentleman, elastisch, mit weißen Haaren, der in seinem langen Leben alles gehabt hat: Hunger, Entbehrung, Erfolg, Geld, Luxus, Frauen, Autos und immer wieder Arbeit' (Fritz Kortner), starb am 18. August 1961 in München.
I
An einem regnerischen Nachmittag im Herbst des Jahres 1906 saßen Herr und Frau Schmitt, deren Ehe tags vorher geschieden worden war, beim Rechtsanwalt, um die materiellen Dinge zu ordnen. Auch Frau Schmitts Vertreter war da.
Die beiden Anwälte brauchten nicht zu kämpfen und nicht zu vermitteln, sondern nur die rechtsgültigen Formulierungen für das Maschinendiktat gemeinsam zu notieren. Denn die Geschiedenen, denen schon bald nach der Hochzeit fast jedes Wort und oft nur die vermeintlich unzulässige Betonung eines Wortes, ein Blick, eine offene oder geschlossene Zimmertür, irgendwelche Winzigkeiten, wie sie jeder Tag bringt, Anlaß zu heftigem Streit geworden waren, machten in den materiellen Dingen keinerlei Schwierigkeiten, obgleich in dieser Stunde endgültige Vereinbarungen über große Vermögenswerte getroffen wurden.
Herr Schmitt, Mitdirektor und europäischer Generalagent der größten amerikanischen Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen, war ein reicher Mann. Er war Deutschamerikaner, Frau Schmitt Russin.
Die Anwälte, die bei Punkten von besonders weittragender Bedeutung jeweils Herrn oder Frau Schmitt erst noch einmal fragten, ob sie denn auch wirklich einverstanden seien, und stets die Antwort erhielten, sich nur ganz nach den Vorschlägen des Herrn Schmitt oder nach den Wünschen der gnädigen Frau zu richten, konnten ihr Staunen über diese nie erlebte Einigkeit in einer Sache, die sonst in der Regel zu den wildesten Orgien der Habsucht führte, nicht ganz verbergen.
Angesichts dieses Staunens wechselten die Geschiedenen hin und wieder einen Blick, bei beiden begleitet von einem kleinen resignierten Lächeln, in dem das gegenseitige Zugeständnis enthalten war, wenigstens von einem Menschen untadeliger Gesinnung neun Jahre lang bis aufs Blut gepeinigt worden zu sein.
Während die Anwälte, die nicht begriffen, weshalb dieses so großzügig einige Paar sich überhaupt getrennt hatte, ihre gemeinsame Arbeit in die Maschine diktierten, blickten die Geschiedenen, beide reglos in die Sessel zurückgelehnt, hinaus auf die nassen, schon herbstgelben Bäume und den trüben Spreekanal. Es schien, als wollten dieses Gelb und dieser Regen, die drückende Leblosigkeit da draußen, der ganze machtvoll trostlose Nachmittag nie mehr enden.
»Aber eigentlich doch sehr vernünftig! Trotz dieser .. Generosität schließlich nur vernünftig!« flüsterte erstaunt der Anwalt seinem beistimmenden Kollegen zu, nachdem er den fertigen Vertrag durchgelesen hatte, und reichte ihn gewichtig Frau Schmitt, deren Blick an Herrn Schmitt vorüberstreifte, fragend, ob sie das lesen müsse. Frau Schmitt konnte mit drei Zahlen charakterisiert werden: Sie war dreißig, sah aus wie zwanzig und hatte die Schuhnummer 34. Immer und in jeder Lebenslage war jemand dagewesen, der ihr alle Sorge und Verantwortung abgenommen hatte. Herr Schmitt unterschrieb das zweite Vertragsexemplar und bat gleichzeitig, noch eine Vereinbarung über die Kinder beizufügen. Sie hatten sich, auch vor dem Scheidungsgericht, dahin geeinigt, daß der achtjährige Konstantin beim Vater und die dreijährige Lydia bei der Mutter bleiben solle, und nun wünschte Herr Schmitt noch, daß die Mutter sich bereit erklärte, in gar keiner Weise mehr in die Erziehung des Knaben einzugreifen, da ein Kind nur Schaden nehmen könne, wenn es von zwei gleichberechtigten Personen beraten werde, die einander so sehr ablehnend gegenüberstünden und vor allem auch in den Fragen der Erziehung ganz entgegengesetzter Ansicht seien.
»Also, Lydia kann Ihretwegen falsch erzogen werden! Das ist Ihnen gleichgültig ... Unerhört!«
»Nein. Aber Sie werden sich doch gewiß nicht auch noch von Lydia trennen wollen.«
»Das muten Sie mir zu?«
Darauf antwortete er nicht. Er sagte: »Außerdem sind Sie ja überzeugt, daß Ihre Erziehungsmethode gut und richtig ist.«
»Aber Sie sind entgegengesetzter Meinung.«
Alte, tausendfach übereinander gelagerte Erbitterung ließ ihn resigniert lächeln bei dem Gedanken, daß sie ja niemals und in keiner Sache seine Meinung habe gelten lassen.
Sie mußte die Hand auf das tobende Herz pressen. »Ich liebe meine Kinder über alles.«
»Das habe ich nie bezweifelt.«
»Aber Sie tun es ja!«
»Wieso?« Nun war er doch wieder verblüfft.
»Jawohl! Denn Sie behaupten immer wieder, ich schade den Kindern.«
›Soll ich ihr nun zum zehntausendstenmal sagen, daß sie ihre Kinder über alles lieben und ihnen dennoch Schaden zufügen kann; daß ein Kind Schaden nehmen muß, wenn alles, aber auch alles, was es tut oder nicht tut, kritisiert wird‹, dachte er und schwieg. Er hatte gelernt, daß Schweigen für ihn noch die beste Verteidigung war.
Erbittert starrten sie aneinander vorbei.
Die Anwälte, die jetzt schon mehr begriffen, formulierten rasch den Nachsatz über die Kinder, und Frau Schmitt, die noch nie selbständig etwas ausgeführt hatte, richtete ihren hilflosen Kinderblick fragend auf Herrn Schmitt. »Hier?« – »Nein, hier!«
Und unterschrieb dann doch an der falschen Stelle.
Mit vollendeter Aufmerksamkeit half er ihr in den Mantel und betrachtete dabei gleichgültig den zarten, weißen Nacken, der ihn vor neun Jahren bezaubert hatte.
Zur selben Zeit brachte die alte Kinderfrau, eine Ostpreußin mit wuchtiger Kartoffelnase und winzigen, klugen Augen, die schon Frau Schmitts Kindheit betreut hatte, die kleine Lydia zu Bett. Das lange Nachthemd, das in der Taille mit einem Goldfaden abgebunden war, hatte Lydia schon an. Ohne diesen Goldfaden schlief sie nicht ein.
Ihr Haar war so schwarz wie die Seidenfransen eines schwarzen Schals, und die länglichen Riesenaugen, tiefblau, hatten einen flaschengrünen Schimmer. Das Mündchen dachte.
Sie streckte die winzige Hand vor, die von der Knienden gewaschen wurde, und blickte dabei still und dennoch äußerst interessiert hinüber zu Konstantin, der mit Buntstiften ein Gesicht zeichnete.
Die Kinderfrau holte das Handtuch, sah im Vorbeigehen dem Maler über die Schulter und erkannte in der gewaltigen Nase mit den winzigen zwei Punkten links und rechts sich selbst. »Du Teufel, du frecher!«
Der Achtjährige, den, gleich der kleinen Lydia, die Natur schon durch Schädelbau und Gesichtsbildung und wie die Augen denkend blickten, als ernstes Menschenkind gezeichnet hatte, fühlte aus der Tiefe seines Wesens unwiderstehlich den Übermut aufsteigen und konnte den Triumph darüber, daß sie selbst sich erkannt hatte, nicht unterdrücken.
Lydia blickte unverwandt zu ihm hinüber und hielt dabei immer noch das schon gewaschene Händchen vorgestreckt. Triumph und Übermut des Bruders sprangen so unvermittelt auf sie über, daß dem fest zusammengepreßten lächelnden Mündchen plötzlich ein leiser Jubelton entschlüpfte. Sofort wurde das ganz weiße, von den schwarzen Seidenfransen umrahmte, vollwangige Gesicht wieder ernst.
Als sie im Bett lag, ganz unbeachtet vom Bruder, verhielt sie sich vollkommen still und blickte nur groß hinüber, bis er aufsah. Da ließ sie lockend und kokett die Augenlider flattern. Die Kinderfrau war in der Küche.
Nach einer Weile hob Konstantin triumphierend das Papier über den Kopf und zeigte Lydia sein Gemälde. Ohne das geringste Interesse bezeugt zu haben, schloß sie befriedigt die Augen zum Schlafe. Es war, als verheimlichte sie die Genugtuung darüber, daß sie seine Beachtung erreicht hatte.
Da trat die Mutter ein, blickte tadelnd ringsum, als ob im Kinderzimmer alles auf dem Kopfe stünde, und rief schließlich: »Tut ein braves Kindchen das?«
Die Kinderfrau stand unterm Türrahmen und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Was hat sie denn schon wieder getan? Liegt ja mäuschenstill.«
Die Mutter stürzte vor dem Bett ins Knie, in die entgegengestreckten Ärmchen, und riß im Taumel der Liebe ihr Töchterchen an sich.
Am nächsten Morgen reiste Herr Schmitt mit seinem Sohne ab, zuerst nach England, wo er Konstantin in das Eton College gab, dann auf acht Tage nach New York zur Bilanzsitzung und von dort nach Rußland, wo er die nächsten zehn Jahre zu bleiben gedachte. Herr Schmitt hatte zur Erschließung des russischen und ostasiatischen Marktes die Generalagentur nach Petersburg verlegt.
Getreu der Abmachung bei dem Berliner Rechtsanwalt schrieb Frau Schmitt ihrem Söhnchen jährlich nur einen Brief, einen Glückwunsch zum Geburtstag, den Konstantin in den ersten Jahren mit kurzen Berichten über seine Fortschritte im Boxen und Fußballspiel beantwortete, in Fachausdrücken, die auch die Kinderfrau, die zu Rate gezogen wurde, nicht verstand; später antwortete er überhaupt nicht mehr.
Frau Schmitt, in der das Bild des Achtjährigen, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, weiterlebte, bat noch nach acht Jahren, in ihrem Geburtstagsbrief, als Konstantin schon ein sportgestählter ernster Jüngling und eben dabei war, die Philosophie Nietzsches mit der Humes zu vergleichen, er solle nur ja gut aufpassen, daß er seine Taschentücher nicht immer mit den dummen Farbstiften bekleckse und beim Kirschenessen die Kerne nicht verschlucke.
Auf diesen Brief antwortete der Direktor des Eton College, Mr. Schmitt habe das Institut verlassen, er sei von seinem Vater nach Rußland gerufen worden.
Das war im Jahre 1914. Herr Schmitt hatte seinen Sohn zwischen zwei Operationen zu sich kommen lassen. Er benutzte diese Zwischenzeit dazu, Konstantin bei einem bewährten Jugendfreunde einzuführen, der sich bereit erklärt hatte,...
| Erscheint lt. Verlag | 9.3.2018 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Geschwisterliebe • Heinrich Mann • Konventionen • Leonhard Frank • Liebe • Moderne Klassik • Verbotene Liebe • Walküre • Wälsungenblut • Wiederentdeckung • Wilhelm Meister |
| ISBN-10 | 3-8412-1545-9 / 3841215459 |
| ISBN-13 | 978-3-8412-1545-1 / 9783841215451 |
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