Unsere unbekannte Familie (eBook)
280 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518757512 (ISBN)
Tiere denken, Tiere fühlen, Tiere sind erfinderisch und haben ein komplexes Seelenleben - und nicht selten versuchen sie, sich uns Menschen verständlich zu machen. Bisweilen gelingt dies, und wem dies einmal widerfahren ist, wird nicht nur für immer verändert, sondern hat eine Geschichte zu erzählen, die auch unseren Blick auf die Tierwelt verändern kann. Viele Menschen haben Jürgen Teipel ihre ganz besonderen Begegnungen erzählt - es sind frappierende, überraschende und anrührende Geschichten: so wie die von dem Eichhörnchen, das in einem Park an jemandem hochkrabbelt, ihn geradezu »adoptiert« und nicht mehr von ihm weichen will, selbst nicht unter der Dusche; oder die von dem sieben Meter langen Glattwalbaby, das einen Taucher zu einer Rutschpartie auf seinem Rücken einlädt; oder die von der einstmals wilden Katze, die bei der Rückkehr ihres Lebensmenschen nach langer Abwesenheit so außer sich gerät, dass sie tagelange Freudentänze aufführt; oder die von der sterbenskranken Frau, die Trost durch die empathische Begleitung eines Pferdes bekam.
Diese oft unglaublichen, noch wahren Geschichten - von Kühen mit Humor, von Pferden, die sich selbst heilen, von künstlerisch begabten Affen, verliebten Katzen und von Angst-Hasen, die über sich selbst hinauswachsen - handeln von Vertrauen, Mitgefühl, Freundschaft und, ja, auch von Liebe zu und unter den Tieren. In ihnen scheint für Momente die Grenze zwischen Mensch und Tier aufgehoben.
<p>Jürgen Teipel, geboren 1961, kam 1980 durch die Herausgabe einer Punk-Zeitschrift zum Schreiben. Danach organisierte er Konzerte, war DJ und schrieb u. a. für <em>Frankfurter Rundschau</em>, <em>Neue Zürcher Zeitung</em>, <em>Spiegel </em>und <em>Zeit</em>. Sein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, <em>Verschwende Deine Jugend</em>, wurde zum Bestseller und Auslöser eines Punk-Revivals. Der Autor lebt bei München.</p>
Jürgen Teipel, geboren 1961, kam 1980 durch die Herausgabe einer Punk-Zeitschrift zum Schreiben. Danach organisierte er Konzerte, war DJ und schrieb u. a. für Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, Spiegel und Zeit. Sein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Verschwende Deine Jugend, wurde zum Bestseller und Auslöser eines Punk-Revivals. Der Autor lebt bei München.
Die Rutschpartie
Erzählt von Roland Gockel, Berlin
In den Siebzigern, als Jugendlicher, hatte ich eine Art Traumvision: Ich entwickelte ein mir selber nicht erklärbares Interesse für Meeressäuger. Deswegen reiste ich später lange Jahre herum und kuckte, wo ich eine Begegnung – vor allem mit Walen – hervorrufen kann. Ich wollte das unbedingt machen und erleben.
Mit dreiundzwanzig – das war 1986 – lernte ich in der Südsee endlich einen Walforscher kennen, einen Australier, der versprach, mich einen Tag lang mitzunehmen. Dann kam allerdings ein Sturm auf, es klappte nicht, meine Abreise rückte näher – und am letztmöglichen Tag nahm er mich endlich mit. Es wurde der erste Tag, an dem er keine Wale sah! Zum Glück hatte er ein Hydrophon – das ist ein Unterwassermikrofon –, sodass ich die Wale wenigstens hören konnte. Wunderschöne Buckelwalgesänge.
Danach machte ich noch weitere Reisen. Nur war es immer wieder wie verhext. Eigentlich waren sie da, eigentlich hätte ich sie sehen müssen, aber es kam mir so vor: Je mehr ich die Begegnung erzwingen wollte, umso weniger fand sie statt. Irgendwann gab ich’s auf und wollte nur noch die Reisen genießen. Und das war die magische Wende. Weil sie dann nämlich auftauchten. Das ist zumindest mein Eindruck. Im Laufe der nächsten Jahre ergaben sich viele Begegnungen. Zuerst bei einer Whale-Watching-Tour vor der Küste von San Francisco – die Amerikaner waren mit den Australiern die Ersten, die solche speziellen Bootstouren machten –, dann unter Wasser bei den Azoren und schließlich einige Male einfach so, als Geschenk, ungeplant.
Mit sechsunddreißig machte ich eine Reise nach Patagonien. Ich hatte als Journalist eine besondere Genehmigung, in einem Naturschutzgebiet ins Wasser zu dürfen, und wollte Filmaufnahmen machen. Das war allerdings alles andere als einfach. Das Wasser ist planktonreich, die Sicht ist nicht gut. Hier und da ein paar Schemen ...
Wiederum am letzten Tag meiner Anwesenheit nahm ich noch mal bei einer Glattwalmutter mit Kalb einen Anlauf, aber glaubte schon gar nicht mehr so recht daran. Es war der letzte Versuch. Ich ging mit Neoprenanzug und Schnorchelausrüstung ins Wasser. Walmutter und Kalb waren etwa dreißig Meter entfernt und spielten gerade miteinander. Das Spiel ging so, dass das Kalb – knapp unter der Wasseroberfläche – auf die Mutter zuschwimmt, kuckt, dass es auf den Rücken kommt, und die Mutter geht dann aus dem Wasser hoch, wodurch ihr Rücken zur Wasserrutsche wird und das Kalb in Richtung Schwanzflosse runtergleitet.
Dieses Kalb – das etwa sieben Meter lang war – hatte daran offensichtlich großen Spaß. Aber auf einmal bewegte es sich von der Mutter weg, in meine Richtung, um zu kucken, was ich wohl für ein seltsames Wesen bin. Es war höchstens vier Monate alt und hatte wahrscheinlich noch nie einen Taucher gesehen. Ich versuchte natürlich, den Abstand zu halten und weiterhin nur zu beobachten. Das Kalb war sehr ungewöhnlich. Ganz weiß, mit schwarzen Punkten überall. Und es schwamm nun also in einem für einen Wal langsamen Tempo zu mir rüber – für mich als Mensch in einem sehr schnellen Tempo – und positionierte sich erst mal so, dass ich mich auf einmal zwischen Mutter und Kind befand. Was mir sehr unangenehm war. Ich dachte im ersten Moment: »Oha! Das ist genau das, was man nicht tun soll!« Es gibt ein paar goldene Regeln für Tierfilmer; man soll zum Beispiel möglichst nie zwischen Tiermutter und Kind geraten, weil man dadurch beide in Stress bringt. Es ist einfach ne sensible Situation. Der Schutzinstinkt der Mütter ist groß. Und bei einer achtzehn Meter langen Glattwalmutter kann das natürlich nach hinten losgehen.
Noch dazu wurde mir klar, dass das Walbaby mit mir das gleiche Spiel machen wollte wie vorher mit der Mutter. Es wollte irgendwie auf mich drauf und dann an mir runterrutschen, merkte aber an meiner Reaktion – ich schwamm dann doch sehr aufgeregt weg –, »das passt hier von den Proportionen her alles nicht zusammen« und zog sich erst mal zurück.
Beim nächsten Mal schwamm es ganz vorsichtig und langsam heran. Es hatte sein Bewegungstempo und seine ganze Art, mit mir umzugehen, geändert. Und dadurch wurde ich ebenfalls vorsichtig und langsam. Wir kamen uns immer näher, verharrten lange unmittelbar nebeneinander, und nach kurzer Zeit traute ich mich, die Brustflosse anzufassen. Das ließ es zu. Und währenddessen waren wir uns auch mit den Augen sehr nah. Im Wasser ist das Gefühl für Nähe interessanterweise ein anderes als am Land. Viele Tiere im Wasser kommen sich näher, als das an Land der Fall ist. Das hat womöglich damit zu tun, dass die meisten Tiere im Wasser keine Arme haben, mit denen sie tasten oder greifen könnten. Was sich offenbar auf den Intimsphärenbereich um sie herum auswirkt. Er ist kleiner. Zwischen mir und dem Walbaby betrug er vielleicht noch dreißig Zentimeter.
Und das war dann total süß: Das Walbaby machte einige Male das Auge auf und zu, was auf mich, weil ich wegen seiner Größe natürlich nur ein Auge sehen konnte, wie ein Zwinkern wirkte. Schließlich tauchte es ab, und ich blieb an der Wasseroberfläche zurück. Und dann kam es wieder hoch! Direkt unter mir! Aber langsam. Und ich blieb. Und es hob mich ganz behutsam – auf seinem Rücken – aus dem Wasser. Ich lag mit einem Mordsherzklopfen auf diesem Rücken. Und am Ende ließ es mich abrutschen; drehte dieses Spiel aus eigenem Antrieb also völlig um. Ich fand das derart faszinierend! – dass dieses doch noch kleine Jungtier dieses Spiel, das es gerade noch mit der Mutter gespielt hatte, auf einmal mit einer völlig anderen, ihm völlig fremden Spezies wieder aufnahm.
Noch dazu war ich dadurch in einer ganz anderen Rolle als sonst. Ich war viel kleiner. Ich wusste ja nicht, wie geschickt oder ungeschickt dieses Tier ist. Ich bin zwar nicht auf der Speiseliste der Glattwale, aber trotzdem liefert man sich einem Tier dieser Größe in so einem Moment ja aus. Ich bin die Schnecke im Wasser verglichen mit so einem Meeressäuger. Ich kann mich nicht schnell genug zurückziehen. Es gibt auch gar keinen Ort, an den ich mich zurückziehen könnte. Das heißt, es ist ein Akt der Hingabe. Das Gefühl war wie bei einem Fallschirmsprung – samt Loslassen, Darauf-Einlassen und einem unglaublichen Vertrauensvorschuss auf die soziale Sensibilität des Tieres. Aber ich muss sagen: In dem Moment, in dem ich merkte, es geht alles gut, dieses Sieben-Meter-Walbaby behandelt mich ganz achtsam – so wie unsereiner, der ein Meerschweinchen in die Hand nimmt –, da fand ich’s vor allem toll. Diese Vorsicht zu spüren! Diese Feinheit für ein anderes Wesen einer anderen Art. Ich war begeistert.
In solchen Augenblicken merkt man erst, wie unglaublich abwertend Begriffe wie »Wildnis« oder »wild« in unserer Kultur oft benutzt werden. Fast alles, was ich jemals hinsichtlich des Verhaltens von Tieren erlebte, ergab einen Sinn. Im selben Moment, in dem ich mir die Zeit nahm, sozusagen zu dolmetschen, ein Wildtier wirklich kennenzulernen, fiel dieser Aspekt, der bei uns so gerne gleichgesetzt wird – nämlich »wild ist gleich unberechenbar« –, einfach weg. Im Grunde muss man nur beobachten. Daraus wächst ein Gespür, eine verfeinerte Wahrnehmung. Und heraus kommt ein achtsamer Umgang. Verhaltensweisen setzen sich in Wirklichkeit aus aneinandergereihten Verhaltensfragmenten zusammen: Die Körperhaltung ändert sich, es gibt Geräusche, die man hören kann oder vielleicht auch nicht; bei Landtieren wackeln womöglich die Ohren in besonderer Weise. Es gibt immer eine Verhaltenskette. In ihr kündigt sich der nächste Schritt dadurch an, dass er mit den vorher empfangenen Signalen korrespondiert und sich daraus formt. Das kann für menschliches Zeitempfinden sehr langsam oder blitzschnell passieren. Dabei ist es auch wichtig zu wissen, dass sozialaktive Tiere eine unterschiedliche Tagesform haben. Sie haben Zeiten, zu denen sie sozial interessiert sind; sie haben Zeiten, zu denen sie hungrig sind; und sie haben Zeiten, in denen sie ihre Ruhe brauchen und...
| Erscheint lt. Verlag | 14.3.2018 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Dokumentarische Geschichten • Empathie Tiere • Gefühle Tiere • Geschenk • Geschenkbuch • Geschenkbücher • Kommunikation • Sachbuch • Seelenleben Tiere • ST 4860 • ST4860 • suhrkamp taschenbuch 4860 • Tiere • Tiererzählungen • Tiergeschichten • Tierwelt • Verhalten Tiere • Wahre Geschichten |
| ISBN-13 | 9783518757512 / 9783518757512 |
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