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Die Jahre (eBook)

Spiegel-Bestseller
Nobelpreis für Literatur 2022

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
255 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75863-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Jahre -  Annie Ernaux
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Nobelpreis für Literatur 2022

Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux' aufsehenerregendes Werk wirkt von Beginn an weit über die französischen Grenzen hinaus. Eine faszinierende Einladung, das eigene Leben zu hinterfragen: »Annie Ernaux zu lesen ist ein Schock, eine Erfahrung, vor allem ist es wichtig.« Der Spiegel

Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, die uneingelösten Verheißungen der Nullerjahre, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind. Und dabei schreibt sie ihr Leben - unser Leben, das Leben - in eine völlig neuartige Erzählform ein: »Annie Ernaux ist die Königin der neuen autobiographischen Literatur.« Die Zeit



Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada).

 

 

 

 

 

Alle Bilder werden verschwinden.

 

die Frau in Yvetot, die sich am helllichten Tag zum Pinkeln hinter die Baracke hockte, in der zeitweilig die Kneipe untergebracht war, weil die eigentliche Kneipe in Trümmern lag, und die dann mit gerafftem Rock den Schlüpfer hochzog und wieder in der Baracke verschwand

 

das tränenüberströmte Gesicht von Alida Valli, die in Noch nach Jahr und Tag mit Georges Wilson tanzt

 

die Begegnung mit dem Mann im Sommer 1990, auf einer Straße in Padua, seine an den Schultern angewachsenen Hände, und sofort war die Erinnerung an das Medikament da, das die Ärzte dreißig Jahre zuvor Schwangeren gegen Übelkeit verschrieben hatten, und an den Witz, den sich die Leute später erzählten: Eine werdende Mutter strickt Babywäsche und nimmt dabei Contergan, nach jeder Reihe eine Tablette. Ihre Freundin fragt entsetzt, ob sie denn nicht wisse, dass das Baby ohne Arme geboren werden könne. Sie antwortet: Schon, aber ich kann keine Ärmel stricken

 

Claude Piéplu, der in der Komödie Et vive la liberté ein Regiment Legionäre anführt, in einer Hand eine Fahne, in der anderen einen Strick mit einer Ziege

 

die majestätische alte Dame, die an Alzheimer litt und die wie alle Bewohnerinnen des Altersheims eine geblümte Kittelschürze trug, die sich dazu aber eine blaue Stola umlegte und tagein, tagaus erhobenen Hauptes den Flur entlangschritt, als wäre sie die Herzogin von Guermantes im Bois de Boulogne, und tatsächlich sah sie aus wie Céleste Albaret, Prousts Haushälterin, die eines Tages in Bernard Pivots Talkshow aufgetreten war

 

die Frau auf einer Freiluftbühne, die von mehreren Männern in einen Kasten gesperrt und mit Schwertern durchbohrt wurde – sie kam lebend wieder heraus, weil es sich um einen Zaubertrick mit dem Titel Das Martyrium einer Frau handelte

 

die Mumien in zerlumpter Spitze, die in der Kapuzinergruft in Palermo an den Wänden hingen

 

Simone Signorets Gesicht auf dem Plakat von Thérèse Raquin

 

der Schuh, der sich im Schaufenster des Geschäfts André in der Rue du Gros-Horloge in Rouen auf einem Sockel drehte, und auf dem Rand zog immer wieder derselbe Satz vorbei: Mit Babybotte läuft Ihr Kind schön flott.

 

der Fremde im Bahnhof Termini in Rom, der die Sichtblende seines Erste-Klasse-Abteils ein Stück heruntergezogen hatte, sodass er nur von der Hüfte abwärts sichtbar war und sein Geschlechtsteil rieb, weil er bemerkt hatte, dass im Zug nebenan junge Frauen aus dem Fenster schauten

 

der Mann in der Kinoreklame für Paic-Spülmittel, der fröhlich seine schmutzigen Teller zerschmetterte. Eine Stimme aus dem Off sagte streng: »Das ist doch keine Lösung!«, und der Mann blickte in die Kamera und fragte verzweifelt: »Was ist denn dann die Lösung?«

 

der Strand von Arenys de Mar neben den Bahngleisen, und der Hotelgast, der aussah wie Zappy Max

 

das Neugeborene, das der Arzt im Krankenhaus Pasteur in Bordeaux wie ein gehäutetes Kaninchen in die Höhe hielt und das eine halbe Stunde später angezogen in seinem Bettchen schlief, auf der Seite liegend, die Decke bis zur Schulter gezogen, eine Hand schaute hervor

 

Philippe Lemaire, der Schauspieler und Juliette Grécos Ehemann, seine schöne Gestalt

 

der Vater in der Fernsehwerbung, der sich hinter seiner Zeitung versteckte und es seiner Tochter gleichtun wollte, ein Picorette-Schokobonbon in die Luft warf und vergeblich versuchte, es mit dem Mund aufzufangen

 

das Haus mit der weinüberwucherten Laube in Venedig, auf dem Zattere-Kai Nummer 90 A, das in den Sechzigerjahren ein Hotel gewesen ist

 

die Gesichter der Menschen, die vor dem Abtransport ins Konzentrationslager von den Behörden fotografiert worden waren, in einer Ausstellung Mitte der Achtzigerjahre im Palais de Tokyo in Paris, Hunderte von versteinerten Gesichtern

das Plumpsklo im Hof hinter dem Haus in Lillebonne, die Ausscheidungen und das Papier fielen in den Bach und wurden vom plätschernden Wasser davongetragen

 

all die schummrigen Bilder der ersten Jahre, mit einem Sommersonntag als hellem Fleck, all die Träume, in denen die toten Eltern wieder leben oder man eine fremde Landstraße entlangläuft

 

das von Scarlett O'Hara, wie sie die Leiche des Nordstaaten-Soldaten, den sie erschossen hat, die Treppe hinunterzerrt – und wie sie auf der Suche nach einem Arzt für Melanie, die in den Wehen liegt, durch die Straßen Atlantas läuft

 

das von Molly Bloom, die im Bett neben ihrem Ehemann liegt, an ihren ersten Kuss denkt und ja, ja, ja sagt

 

das von Elizabeth Drummond, die 1952 zusammen mit ihren Eltern auf einer Landstraße in der Nähe von Lurs ermordet wurde

 

reale oder imaginäre Bilder, die einen bis in den Schlaf verfolgen

Momentaufnahmen, beschienen von einem Licht, das allein ihnen gehört

 

Sie alle werden mit einem Schlag erlöschen wie zuvor die Millionen Bilder im Kopf der Großeltern, gestorben vor einem halben Jahrhundert, wie die Bilder im Kopf der Eltern, die ebenfalls nicht mehr sind. Bilder, in denen man selbst als kleines Mädchen im Kreise anderer Menschen auftaucht, die gestorben sind, bevor man selbst geboren wurde, so wie in den eigenen Erinnerungen die Töchter und Söhne als Kleinkinder von unseren Eltern in jungen Jahren und unseren Klassenkameraden umgeben sind. Und auch wir werden eines Tages in den Erinnerungen unserer Kinder im Kreise der Enkel stehen, im Kreise von Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.

 

 

 

Auch werden sich auf einen Schlag alle Wörter auflösen, mit denen man Dinge, Gesichter, Handlungen und Gefühle benannte, mit denen man Ordnung in die Welt gebracht hat, die das Herz höher schlagen und die Scheide feucht werden ließen.

 

die Slogans, Graffiti an Häuser- und Klowänden, Gedichte und schmutzige Witze, Titel

 

Anamnesis, Epigone, Noema, Deontologie, Begriffe, deren Definition man in ein Notizheft schrieb, damit man sie nicht jedes Mal nachschlagen musste

 

die Formulierungen, die andere ganz selbstverständlich gebrauchten, während man selbst glaubte, man würde sie nie beherrschen, unstrittig ist, eingedenk dessen

 

die furchtbaren Sätze, die man besser vergessen hätte, die sich einem aber einbrannten, gerade weil man sie verdrängen wollte, du siehst aus wie eine abgehalfterte Hure

 

die Sätze von Männern im Bett, Mach mit mir, was du willst, ich bin heute Nacht dein Spielzeug

 

existieren ist trinken ohne Durst

 

wo waren Sie am 11. September 2001?

 

in illo tempore sonntags in der Messe

 

alter Zausel, Rabatz machen, das schießt den Vogel ab!, du Dummerjan! Aus der Mode gekommene Redewendungen, die man eines Tages zufällig wieder hört, kostbar wie ein verlorener und wiedergefundener Gegenstand, und von denen man sich fragt, wie sie die Zeit überdauert haben

 

die Sätze, die man mit einem bestimmten Menschen verbindet – und mit einer bestimmten Stelle an der N14, weil der Beifahrer diesen Satz gesagt hat, als man gerade dort vorbeifuhr, und später muss man jedes Mal, wenn man dort entlangkommt, an diesen Satz denken, er schießt einem so plötzlich durch den Kopf, wie die Fontänen im Park von Schloss Peterhof hochspritzen, wenn man mit dem Fuß drauftritt

 

die Grammatikbeispiele, Zitate, Schimpfwörter, Chansons und Sinnsprüche, die man in der Jugend in ein Heft geschrieben hat

 

Abbé Trublet kompilierte, kompilierte, kompilierte

 

eine Frau kann nur Ruhm erlangen, wenn sie ihr Glück zu Grabe trägt

 

daher lebt der beste Teil unseres Gedächtnisses außerhalb von uns, im feuchten Hauch eines Regentages

 

was haben eine Ehefrau und Dachpappe gemeinsam? Wenn man sie nicht ordentlich nagelt, liegen sie bald beim Nachbarn

 

ein anständiges Mädchen geht um acht ins Bett, damit es um zehn zu Hause ist

 

Chansons wie C'était un porte-bonheur un petit cochon avec un cœur / qu'elle avait acheté au marché pour cent sous / pour cent sous c'est pas cher entre nous

 

mon histoire c'est l'histoire d'un amour

 

tirlipoter und schmilblick, heiteres Begrifferaten im Radio

 

(hab ich recht oder stimmt's, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt, zum Bleistift, schauen wir mal, dann sehen wir schon, Einbildung ist auch eine Bildung, tausendmal gehörte Sprüche, weder geistreich noch lustig, sondern nur irritierend flach, Sprüche, die in unserem Familienleben allgegenwärtig waren und die mit der Trennung aus dem Alltag verschwunden sind, die einem aber immer mal wieder herausrutschten, im falschen Moment, in einer unpassenden Situation, außerhalb der...

Erscheint lt. Verlag 16.12.2017
Übersetzer Sonja Finck
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Les années
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiographie • beste freundin geschenk • Bestseller bücher • buch bestseller • Bücher Neuerscheinung • Didier Eribon • Ehe • Emanzipation • Eribon • Erinnerung • Erinnerungen einer Frau • Feminismus • Fotografien • Frankreich • Frau • Frauen • Frauenleben • Frauenschicksal • Gedächtnisliteratur • Geschenkbuch für Frauen • Geschenke für Frauen • Gesellschaft • Gesellschaftsporträt • Globalisierung • Literaturnobelpreis • Nachkriegszeit • Nobelpreis • Nullerjahre • Proust • Rückblick • Rückkehr nach Reims • Selbsterfahrung • Spiegel-Bestseller-Liste • ST 4968 • ST4968 • suhrkamp taschenbuch 4968 • Weiblich • Weihnachtsgeschenke
ISBN-10 3-518-75863-2 / 3518758632
ISBN-13 978-3-518-75863-2 / 9783518758632
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