Unheilbar (eBook)
149 Seiten
Null Papier Verlag
978-3-96281-197-6 (ISBN)
Paul Heyse (1830-1914) ist ein Mitglied der Riege deutscher Literaturnobelpreisträger. Er bekam den Preis 1910 als erster deutscher Dichter überhaupt verliehen - Mommsen (1902) war Historiker. Theodor Fontane glaubte 1890, dass Heyse seiner Epoche »den Namen geben« und ein »Heysesches Zeitalter« dem Goetheschen folgen werde. Heyse war Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Er pflegte zahlreiche Freundschaften und war auch als Gastgeber berühmt. Viele seiner Novellen siedelte Heyse in seiner Wahlheimat Italien an.
Paul Heyse (1830-1914) ist ein Mitglied der Riege deutscher Literaturnobelpreisträger. Er bekam den Preis 1910 als erster deutscher Dichter überhaupt verliehen – Mommsen (1902) war Historiker. Theodor Fontane glaubte 1890, dass Heyse seiner Epoche »den Namen geben« und ein »Heysesches Zeitalter« dem Goetheschen folgen werde. Heyse war Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Er pflegte zahlreiche Freundschaften und war auch als Gastgeber berühmt. Viele seiner Novellen siedelte Heyse in seiner Wahlheimat Italien an.
Unheilbar
Unheilbar
Meran, den 6. Oktober 186∗
Seit acht Tagen, die ich nun hier bin, keine Zeile geschrieben! Ich war zu erschöpft und aufgeregt von der langen Reise. Wenn ich mich niedersetzte und auf die weißen Blätter starrte, war mir’s, als blickte ich in eine Camera obscura. Alle Bilder, die mir unterwegs entgegen geflogen waren, tauchten ganz deutlich und farbig wieder auf und jagten sich wie im Fiebertraume, bis mir die Augen übergingen. Unterwegs fühlte ich auch mehr als ein Mal, dass mir die Tränen nahe waren; aber ich war nicht allein, und von den fremden Herren, die mitfuhren, bemitleidet und ausgefragt zu werden, hatte ich wahrlich keine Lust. Hier ist’s anders; ich bin einsam und frei; ich habe es schon erfahren, dass nur die Einsamen frei sein können. Warum schäme ich mich denn auch jetzt noch, zu weinen? Ist es denn nicht traurig genug, dass ich erst einen Blick in alle Schönheiten dieser Welt tun durfte, seit ich weiß, dass es ein Abschiedsblick ist? –
Es wäre wohl besser, ich verschlösse dieses Heft und ließe die Blätter leer. Womit kann ich sie füllen, als mit unfruchtbaren Klagen? Ich hatte es mir schön und tröstlich gedacht, alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Winter, den ich noch zu leben habe, durch den Sinn gehen würde. Ich wollte meinem geliebten Bruder, meinem kleinen Ernst, der jetzt doch noch zu jung ist, um das Leben und den Tod zu verstehen, an diesem Hefte ein Vermächtnis hinterlassen, das ihm teuer wäre, wenn er später einmal nach seiner Schwester fragte und Niemand da wäre, der ihm antworten könnte. Aber ich sehe wohl, es war ein törichter Gedanke. Möchte man denn in der Erinnerung eines teuren Menschen fortleben unter dem Bilde der letzten Krankheit? Er soll mich lieber vergessen, als sich diese blassen Züge einprägen, die mich selber erschrecken, so oft ich in den Spiegel sehe.
Abends. Schwüle, bedeckte Luft.
Ich habe ein paar Stunden lang am Fenster gesessen. Man sieht da weit in das schöne Etschland hinaus, über die Stadtmauer, die Allee mit den breitästigen Pappeln, die auf dem Steindamme längs der rauschenden Passer stehen, in die Niederung hinein, wo die Herden zwischen den hundert kleinen Bächen weiden, bis zu den fernen Bergen. Die Luft war ganz still; ich konnte sogar einzelne Stimmen von den Spaziergängern auf der Wassermauer unterscheiden; oder schien mir’s nur so? Die Kinder meines Wirts, des Schneiders, sahen neugierig zur Tür herein, bis ich ihnen das Letzte von meiner Reise-Schokolade gab. Wie glücklich sie damit zur Mutter hinausliefen! Ich bin dann ganz heiter und still geworden und habe mir’s überlegt, dass ich Unrecht täte, mich vor meinen Selbstgesprächen zu fürchten. Mögen diese Blätter doch immerhin ein Testament sein – müssen sie darum schon Trauer tragen? Bin ich nicht von Hause, wo ich wie mit hundert Banden eingeschnürt war, mit herzhaftem Entschlusse fortgegangen, noch einmal des Lebens und der Freiheit froh zu werden, und sollte mir jetzt das Zeugnis geben, dass ich nicht verdiente, frei zu sein? Freilich, ich weiß, es ist ein kurzes Glück. Aber um so fester muss ich es halten und mir’s nicht durch Schwäche und Versinken in Selbstbemitleidung verkümmern. – –
Die Wirtin hat mir erzählt, dass heute früh ein Meraner Bürger in den besten Jahren, der nie eine Krankheit gehabt, plötzlich gestorben sei. Alle hätten ihm immer ein langes Leben zugetraut, und er selbst sich wohl auch. Bin ich nicht zu beneiden, wenn ich mich mit ihm vergleiche? Er wird eben auch, wie die meisten Menschen, in Mühe und Arbeit hingelebt und gedacht haben, die Zeit, um auszuruhen und sein bischen Leben auch zu genießen, werde endlich einmal kommen, wenn genug er geschafft und erworben hätte. Er hat sein Ziel nicht gekannt; ich kenne das meinige; das ist der Unterschied. Ist er nicht zu meinen Gunsten? Ist es nicht noch lange genug bis zum Frühling, und würde ich diese Gnadenfrist auskosten, wie ich jetzt tue, wenn ich sie nicht kennte? O es ist in Wahrheit eine Gnade, vom Tode nicht überrascht und überfallen zu werden, ihn langsam kommen zu sehen, dass man, Auge in Auge mit ihm, erst noch leben lernen kann! Ich kann es unserm Arzt, meinem lieben, väterlichen Freunde, nie genug danken, dass er mir die Wahrheit nicht verschwieg. Er hat dadurch das Wort, das er meiner sterbenden Mutter gab, mir immer ein Freund zu sein, reichlich eingelöst.
Die Nacht ist nun hereingebrochen; ich kann kaum mehr sehen, was ich schreibe. Habe ich mein Leben lang jemals einen so tiefen Frieden, um mich und in mir, genossen, wie hier in diesem schönen, blühenden, rebenbekränzten Vorhof des Grabes? Nur einen Hauch davon in deine gepresste, kummervolle Seele, mein armer Vater! Gute Nacht! Und gute Nacht, mein kleiner Ernst! Wer wird dich heute zu Bette gebracht und dich mit Märchen in Schlaf geplaudert haben?
Am 6. Nachmittags.
Meine Frau Meisterin hat heute, als sie mir das Essen brachte, mir eifrig zugeredet, nicht immer im Zimmer zu sitzen, es sei so schön auf der Wassermauer, man sehe da so viele Leute, ich müsse mich doch zerstreuen. Ich konnte der guten Seele nicht begreiflich machen, dass es mir lieber sei, mich zu sammeln, als mich zu zerstreuen, dass ich nach fremden Menschen gar kein Verlangen trüge.
Nur dass ich noch zu schwach und müde sei von der Reise und die zwei steilen Treppen mir beschwerlich fallen, hat ihr endlich eingeleuchtet.
Nun sitz’ ich wieder und schreibe. Die Stickerei habe ich weglegen müssen; sie greift mir jetzt die Brust an; auch das kleine Töchterchen des Wirtes, dem ich täglich Unterricht in Handarbeiten geben will, musste ich wieder wegschicken. Es liegt mir auch ein Zweifel im Sinn, der mich erst heute beim Aufwachen, da aber ganz heftig und heiß überlief, und mit dem ich erst ins Reine kommen muss.
Seltsam, dass er mir nicht früher begegnet ist. Ich war so völlig überzeugt, das Rechte zu tun. Ich wusste so deutlich, dass ich Niemand zu Hause fehlen würde, dass mein Vater jeden ungütigen Stiefmutterblick, der mir galt, schwer empfand, dass ich auch für Ernst überflüssig war, seit die Mutter darauf bestanden hat, ihn trotz seiner Jugend in die Pension zu tun, nur um ihn nicht mehr zu sehen und für ihn sorgen zu müssen. Der Vater weinte, als er mich zum letzten Mal an sich drückte. Aber es erleichterte ihm doch das Herz, mich fortreisen zu sehen. Er gönnt mir das Beste; und was kann er für mich tun? – Nun ist es mir dennoch auf einmal nahe getreten, ob ich nicht noch andere Pflichten zurückgelassen habe, ob ein Mensch, so lange er nicht ganz unfähig ist, die Hände in den Schoß legen und einen winterlangen Feierabend genießen darf? – Erst seit ich mich glücklich fühle, seit aller Staub und Druck des kahlen kleinstädtischen Alltagslebens von mir abgefallen ist, frag’ ich mich, welch ein Recht ich habe, glücklicher zu sein, als die Tausende, die dem...
| Erscheint lt. Verlag | 1.7.2025 |
|---|---|
| Reihe/Serie | 99 Welt-Klassiker | 99 Welt-Klassiker |
| Verlagsort | Neuss |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Schlagworte | Adel • Adolf Friedrich von Schack • Betrug • Doge • Dogen • Emanuel Geibel • Felix Dahn • Franz von Kobell • Friedrich Bodenstedt • Gondel • Hermann Lingg • Italien • Kaiser • König • Robert von Hornstein • Tyrannei • Untergang • Verrat • Wilhelm Heinrich Riehl • Wilhelm Hertz |
| ISBN-10 | 3-96281-197-4 / 3962811974 |
| ISBN-13 | 978-3-96281-197-6 / 9783962811976 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich