Permanente Revolution der Begriffe (eBook)
123 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518758588 (ISBN)
<p>Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre – zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie – an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.</p>
Landnahme und Erlösung.
Die Kapitalismusreligion
Sehr geehrte Damen und Herren!
Unzählige Male wurde versucht zu ergründen, was Goethes »Faust« im Innersten zusammenhält. Es ist ein Werk, von dem man füglich sagen möchte: Es ist dazu bereits alles gesagt worden, nur noch nicht von allen.
Ich selbst habe dieses Werk nie verstanden, und ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es Ihnen nach meinem Vortrag besser gehen wird als mir. Aber ich hatte immer einen Verdacht. Und es waren einige Erfahrungen der letzten Zeit – nicht Erfahrungen mit Literatur, sondern mit der »Heiligen Schrift«, worunter ich die österreichische Presse verstehe, wenn der Papst zu Besuch kommt –, die dazu geführt haben, dass ich einen Aspekt des »Faust« plötzlich zu verstehen meinte beziehungsweise umgekehrt, dass mit Hilfe des »Faust 2« ein Aspekt des »Kapitalismus 2« vielleicht verstanden werden könnte. Unter »Kapitalismus 2« verstehe ich den entfesselten, Land nehmenden, ein Land nach dem anderen nehmenden globalen Kapitalismus.
Der Aspekt, um den es mir geht, ist folgender: Wir erleben derzeit ein besonders starkes Anwachsen der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Religion, und dies gleich doppelt: als »Trost« und als »Bedrohung«, je nach »eigener« oder »fremder« Religion. Was bedeutet das? Ist Religion wirklich ein immanenter Widerspruch zur Säkularisierungsdynamik von Moderne, Aufklärung und Kapital – und verschiebt sich jetzt wieder das Kräfteverhältnis zwischen Religionen und Säkularisierung zu Gunsten der Religionen? Wenn ja, warum? Oder aber – und das ist vorsichtig vorformuliert meine These, die, falls sie stimmt, auch gleich die Frage nach dem Warum beantworten würde: oder aber ist Religion nicht vielmehr selbst ein Säkularisierungsinstrument im Kapitalismus geworden, ein Mittel, das Heilige, das Mystische, letztlich Gott zu verweltlichen, also auch das, was nicht durch Vernunft begründet werden kann, der Kapitallogik dienstbar zu machen? Das hieße aber auch, dass Religion das Scharnier ist, mit dem der Kapitalismus das Sakrale in seine eigenen Strukturen aufnehmen kann, um so selbst zur Religion zu werden.
Deshalb ist Goethes »Faust« für die Moderne, für die aufgeklärte Welt, eben die exemplarische Auseinandersetzung mit Gott – weil sie nicht nach Gott fragt. Die Frage nach Gott, der Versuch, seine Existenz zu beweisen, war ebenso wie der Versuch, den Glauben an ihn zu erzwingen, vormodern. Die Frage nach Gott im Versuch, ihn zu widerlegen, markierte den Epochenbruch und den Beginn der Aufklärung. Erst die Frage nach der Religion und eben nicht nach Gott gab den Menschen zurück, was ja tatsächlich des Menschen ist, nämlich die Frage, was die Menschen glauben, und auch, wie sich Menschen auf Grund ihres Glaubens verhalten. Wir können bekanntlich nicht davon ausgehen, dass es einen Gott gibt. Aber wir müssen davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Menschen an einen Gott glaubt. Wir müssen also davon ausgehen, dass der Glaube an einen Gott das Verhalten und Handeln der Menschen mitbestimmt, dass daher die Idee »Gott« auf je bestimmte Art die Praxis der Menschen lenkt. Und das bedeutet: Wir müssen selbst dann, wenn wir davon überzeugt sind, dass es keinen Gott gibt, die Frage, ob es einen Gott gibt, mit Ja beantworten. Aber genau deshalb ist der Gott der Moderne säkularisiert, weil er lediglich als Voraussetzung der Religion, also einer menschlichen und menschengemachten Institution anerkannt ist. Dies ist der moderne Gott, der Gott der aufgeklärten Welt: unbewiesen, aber als unbewiesener anerkannt, allerdings anerkannt bloß als Begründung einer Religion und nicht der Welt, und somit Ausdruck der aufgeklärten Dreifaltigkeit: Vernunft, Freiheit, Säkularisierung. Eine Vernunft, die so weit geht, noch im Irrationalen einen vernünftigen Kern in Hinblick auf menschliche Lebensorganisation anzuerkennen. Freiheit, die so weit geht, auch die Freiheit jener zuzulassen, die einer menschengemachten Freiheit systematisch und organisiert (eben z. B. durch die Institution Religion) widersprechen. Und Säkularisierung, die zwar Gott säkularisieren konnte, aber durch die Anerkennung der Religionsfreiheit das Sakrale und seine Strukturen wieder in sich aufzunehmen bereit war.
Zwar schwamm Gott also unbewiesen in seinem Blute, wie Heinrich Heine schrieb, aber er war nicht tot, wie Nietzsche dann befürchtete – er hatte sich bloß vom Schöpfer der Welt zur Gründungslegende der Institution Religion gewandelt. Er war nun sozusagen der alte Herr, der sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hatte, und das Geschäft heißt jetzt Religion. Und dieses Geschäft muss Profit machen, nicht nur in Befriedigung von gewissen menschlichen Gefühlen und Gestimmtheiten, sondern tatsächlich auch im Sinn einer gesellschaftlichen Vernunft, also als das Heilige, das die Menschen, die den Menschen Wölfe sind, zu Lämmern macht, wodurch das menschliche Zusammenleben erleichtert wird.
Aus diesem Grund fragt Gretchen den Doktor Faust zunächst nicht, ob er an Gott glaube, sondern danach, wie er es mit der Religion halte. Und aus genau diesem Grund definiert sich das heutige Europa nicht als »gottesfürchtiger Kontinent«, sondern als Kontinent, der verwurzelt ist in Christentum und Judentum, also in Religionen. Und aus ebenfalls diesem Grund hatte der Geheimrat Goethe, der Autor des »Faust« und somit der mit beträchtlicher Empathie beschriebenen Tragödie Gretchens, als Weimarer Minister das Todesurteil der Kindmörderin Johanna Katharina Höhn unterschrieben: Die als zutiefst gottesfürchtig beschriebene Frau flehte um Gottes Erbarmen und menschliche Milde. Gottes Erbarmen möge die junge Frau erhoffen, so Goethe, aber eben weil ein Minister in seinem Staatsamte kein Gott sei, könne er nicht Milde walten lassen, wenn ein für das menschliche Zusammenleben unerlässliches religiöses Gebot gebrochen werde. Das verstehe ich zunächst unter »Säkularisierung Gottes«: die Anmaßung, nicht Gott zu sein, sondern nur der Maschinist seiner Religion. Und es war ein Missverständnis just der aufgeklärt Leichtgläubigen, dass durch die Transformation von Gottesmacht in Menschenmacht die Religion überflüssig werde.
Dass die Säkularisierung der Welt durch den Kapitalismus kein Absterben der Religion versprach, sondern bloß ein anderes Verhältnis zu ihr, hätten wir von Doktor Faust längst lernen können.
Was zeigt das Faust-Drama? Eine komprimierte Geschichte von Aufklärung und Moderne, kurz: unsere Gewordenheit. Diese Geschichte beginnt mit Gelehrsamkeit, Vernunftanspruch und wissenschaftlicher Neugier. So schön war die Zeit, und so unbefriedigend. Mit der Idee, den individuellen Profit zu suchen, ja, diesen heiligzusprechen, selbst wenn man sich dafür mit dem Teufel verbünden muss, geht sie von der Gedankenwelt über in die Praxis. Sie bildet in der Praxis das unternehmerische Denken und Handeln heraus, beziehungsweise ein Handeln, das sich auch für ein Denken hält, zumindest als Erbe der alten Ideen. Die unternehmerische Praxis führt zur Einführung von Papiergeld, Buchhaltung, Wertpapierhandel – und Betrug als unvermeidliche Konsequenz von Spekulationsgeschäften. Die Fiktionalisierung von Wert (wie sie in der Einführung des Papiergeldes ökonomische Realität wird) stellt buchstäblich alle Werte auf den Kopf, und die Grenzen des Menschenmöglichen werden so fiktiv wie die Golddeckung des Papiergelds. Damit ist aber auch die Schöpfung als gottgegebene in Frage gestellt, nun kann auch der Mensch eine Welt aus dem Nichts schaffen. Nun werden wir im »Faust 2« Zeuge der ersten In-vitro-Fertilisation. In den nächsten Szenen und Bildern erleben wir in logischer Konsequenz den völligen Untergang der klassisch-antiken Ideale als Sehnsuchtsbild der Moderne. Das hat natürlich auch politische Konsequenzen: Ist das ideale Menschenbild entzaubert, dann macht es auch als politisches Ideal keinen Sinn mehr, und so werden wir Zeuge, wie die Gesellschaft idealisierter aufgeklärter Bürger in das kippt, was sie immer war, um es immer wieder aufs Neue zu werden: eine Masse, der, im Falle von Aufruhr, nicht hellenistisch-demokratisch, sondern autoritär begegnet wird, weil der Unternehmer-Geist es so will, selbst wenn die aufgeklärte Herrschaft Skrupel hat. Schließlich endet alles in wirtschaftlichem Raubrittertum, bildlich dargestellt in der Szene, in der Faust das Haus der Alten einfach abfackeln lässt, um sich deren Besitz anzueignen.
Diese zutiefst säkulare Geschichte, an deren Ende wir selbst uns heute wiederfinden, geschieht und entwickelt sich allerdings in steter Auseinandersetzung mit der Religion und eben der Frage, wie es der aufgeklärte Geist mit ihr hält. Goethes Antwort auf diese Frage war äußerst hellsichtig. Sie lässt sich auch durch unsere zeitgenössischen Erfahrungen vollkommen verbürgen. Um dies zu zeigen, nämlich dass die Religion ein säkulares Phänomen, die wahre Religion aber der Kapitalismus ist, will ich von den alten Brettern des Faust-Dramas kurz in das Österreich der Gegenwart hüpfen. Dies wird uns dann wieder zurückführen zu einer zentralen Metapher des »Faust 2«, mit der ich schließlich die Gewordenheit unseres Verhältnisses zur Religion vorführen möchte.
Österreich. Papst Benedikt XVI. kommt zu Besuch. Alle Zeitungen machen ihren politischen Teil unter der ideellen Gesamtschlagzeile auf:
»ALLES ÜBER DEN PAPST«.
Aber so viel »alles« auch ist, eine Unzahl von Informationen, Glossen, Berichten, Reportagen, Porträts, Kommentaren und sogenannten »Wortspenden«, es zeigt dies alles im Grunde nur ein und den selben Sachverhalt in vielen...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 21st Century Best Foreign Novel of the Year award 2020 • Aufsatzsammlung • Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2022 • Brüssel • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2017 • Die Hauptstadt • edition suhrkamp 2592 • ES 2592 • ES2592 • Essays • Kakehashi-Literaturpreis 2024 • Kultur • Prix du livre européen (Europäischer Buchpreis) 2023 |
| ISBN-13 | 9783518758588 / 9783518758588 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.