Douglas E. Richards studierte Molekularbiologie und war viele Jahre in der Biotechnologie als Führungskraft tätig. Er verfasste eine Vielzahl populärwissenschaftlicher Artikel u.a. für den National Geographic und BBC. Mit seinen Science-Thriller-Romanen zählt er zu den New York Times-Bestsellerautoren. Er lebt mit seiner Familie in San Diego, California.
1
Jenna Morrison gab ihrer Schwester Amber einen Abschiedskuss, ohne auf das Gebrüll der kleinen Sophia zu achten. Sie war vollständig in eine Babydecke eingewickelt, sodass man ihre Gegenwart durch bloßes Hinsehen nicht bestätigen konnte, fast als wäre sie in ein baumwollweiches, mintgrünes schwarzes Loch gefallen. Die Decke vermochte Sophias ohrenbetäubendes Kreischen – von der Evolution verfeinert, bis es über alle Maßen nervtötend war und man es unmöglich ignorieren konnte – kein Stück zu dämpfen.
Amber klopfte Sophia behutsam auf den Rücken, hielt sie dicht am Körper und hoffte, dass der Grund für den Höllenlärm nur ein verklemmtes Bäuerchen war. Hilflos warf sie ihrer Schwester einen um Entschuldigung heischenden Blick zu. Das Baby hätte kein schlechteres Timing haben können.
»Danke, dass du gekommen bist, Jen«, sagte sie. »Du hast mir das Leben gerettet.«
»Spinnst du?«, fragte Jenna ein bisschen lauter als sonst, um das Gebrüll ihrer Nichte zu übertönen. »Um nichts auf der Welt hätte ich das verpassen wollen. Ich musste dich unbedingt sehen. Sophia kennenlernen. Ganz zu schweigen davon, mir meine persönliche Babydröhnung abzuholen. Ich sollte dir danken.«
»Du bist echt die Beste«, sagte Amber. Ihr war die Betrübnis über den Aufbruch ihrer Schwester an der Nasenspitze anzusehen, ebenso wie ihre wachsende Panik.
Aber wer hätte ihr das vorwerfen können? Mit zwanzig Mutter zu werden war das eine, aber etwas ganz anderes war es, wenn der Vater zwei Monate nach der Geburt verschwand. Das hätte jeden fertiggemacht, stabile Psyche hin oder her.
Als Jenna erfahren hatte, dass Amber das Kind ganz allein großziehen musste, war sie so schnell wie möglich aus San Diego aufgebrochen, um ihr mit Sophia zu helfen und sie moralisch zu unterstützen, wenigstens für eine Woche. Alles in allem war es ganz gut gelaufen, und sie war überzeugt, dass ihre Schwester allmählich ihre emotionale Stabilität wiedererlangte, auch wenn es natürlich Monate oder gar Jahre dauern konnte, bis sie sich wieder ganz erholt hatte.
Aber es war wirklich ermutigend, dass Amber nicht nur keinerlei Anzeichen einer postnatalen Depression zeigte, sondern sogar eine dieser Mütter war, die von Innen heraus zu leuchten schienen, in der Mutterschaft schwelgten und schier ertranken in wohligen Oxytocin-Fluten, ausgelöst von den unermüdlichen Versuchen des Babys, ihr die Brustwarzen vom Leib zu nuckeln.
Jenna wäre gern länger geblieben, aber sie steckte gerade mitten in ihrer Doktorarbeit über Genetik und musste in ihr eigenes Leben zurück. Und zurück zu Nathan Wexler, ihrem Verlobten.
»Pass auf dich auf«, sagte Jenna ernst. »Und denk dran, lass dich von nichts runterziehen. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Aber vor dir liegt ein tolles Leben. Ich weiß es. Sophia hat ja keine Ahnung, was für ein Glück sie hat.«
Amber nickte, und in einem Augenwinkel erschien eine Träne. Jenna küsste die mintgrüne Decke, drückte die Lippen so fest darauf, dass das brüllende Baby die Berührung am Hinterkopf spürte. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort ins wartende Taxi und setzte sich auf die Rückbank.
Auf der Fahrt nach O’Hare dachte sie über das Leben nach. Was ihrer Schwester passiert war, hätte sie niemandem gewünscht, aber es war nicht zu leugnen, dass Babys entzückend waren, und viele Frauen packten es auch als alleinerziehende Mütter ganz bravourös. Und Jenna war überrascht von der Entdeckung, was für ein ausgeprägter Mutterinstinkt in ihr selbst geschlummert und nur auf den Anblick eines Babys gewartet hatte.
Wann würden sie und Nathan eine Familie gründen? Und wie viele Kinder würden sie wohl haben?
Nathan Wexler war ein brillanter Physiker und Mathematiker, und auch wenn sie ihm nicht mal annähernd das Wasser reichen konnte – wer konnte das schon? –, galt auch sie allgemein als begabt. Auf sie beide wartete, soweit sich so etwas vorhersagen ließ, ein von anspruchsvoller, befriedigender Arbeit erfülltes Leben.
Sie waren sich einig, dass sie irgendwann mal Kinder wollten, aber bisher hatten sie nur theoretisch darüber gesprochen. Natürlich hatten sie noch viel Zeit. Nathan war zwar schon neunundzwanzig, sie selbst aber erst sechsundzwanzig. Nur … würden sie wohl jemals beschließen, dass jetzt die richtige Zeit wäre? Inmitten ihrer Karrieren und anderer geistiger Herausforderungen, die am Ende womöglich die ganze Welt verändern würden – etwas, das vor allem bei Nathan nicht unwahrscheinlich war.
Immerhin hatten sie es immer noch nicht geschafft zu heiraten. Sie lebten jetzt seit achtzehn Monaten zusammen und betrachteten einander als Mann und Frau, aber Jennas Bereitschaft, Zeit von ihren anderen Leidenschaften abzuziehen, um das Ganze richtig offiziell zu machen, war verschwindend gering. Und auch eine rasche Hochzeit in Vegas kam nicht infrage, denn das hätte ihnen Nathans Familie niemals verziehen.
Also mussten sie einen Veranstaltungsort aussuchen. Das Ganze durchplanen. Gäste einladen.
Sie erschauerte. Lieber hätte sie sich auf einen Hügel voller Feuerameisen gesetzt.
Jenna fragte sich, wie lange sie und Nathan noch brauchen würden, bis sie sich gegenseitig das Jawort gaben. Und wenn sie es aus Zeitgründen nicht mal hinbekamen zu heiraten, würden sie es dann jemals schaffen, eine Familie zu gründen? Möglicherweise nicht.
Erst vor einem Jahr hatten sie und Nathan Idiocracy gesehen, einen alten Film, den sie urkomisch und oft auf geniale Art bissig gefunden hatten, aber er hatte bei ihnen auch einen Nerv getroffen: Die Grundprämisse des Films war, dass die Entwicklung der Menschheit nicht auf Großartigkeit zusteuerte, sondern auf Idiotie.
Und diese These wurde sehr nachdrücklich vermittelt. Ein Erzähler wies darauf hin, dass einstmals die natürliche Selektion dafür gesorgt hatte, dass die Stärksten, Klügsten oder Schnellsten am ehesten überlebten. Aber in der menschlichen Gesellschaft, in der es keine Raubtiere mehr gab, die die Herde ausdünnten, belohnte die Evolution nicht mehr Intelligenz, sondern bevorzugte schlicht diejenigen, die sich am meisten vermehrten.
Anschließend zeigte der Film lauter ungebildete Vollidioten, die alles flachlegten, was sich bewegte, einschließlich diverser Verwandter, und die es offenbar für den großartigsten Sport der Welt hielten, bei der leisesten Provokation Stühle nacheinander zu werfen. Sie vermehrten sich völlig unbekümmert wie sexsüchtige Karnickel.
Weshalb? Weil sie sonst nichts mit ihrer Zeit anzufangen wussten. Weil sie impulsgesteuert waren und zu dämlich, um zu begreifen, welchen Sinn Verhütung haben sollte. Und weil staatliche Finanzspritzen und Lebensmittelmarken immer großzügiger ausfielen, je mehr Kinder sie hatten.
Diese Szenen standen im scharfen Kontrast zu einem anderen Handlungsstrang, in dem zwei recht zimperliche, hochintelligente Spezialisten übers Kinderkriegen diskutierten. Beide waren sich einig, dass es sich um eine wichtige Entscheidung handelte und sie auf den richtigen Zeitpunkt warten sollten, denn ein Kind zu bekommen, sollte man keineswegs überstürzen. Am Ende starben sie kinderlos.
Die Moral: Die dämlichen Triebgesteuerten waren vielleicht nicht in der Lage, einen Beruf auszuüben oder Algebra zu begreifen, aber ganz sicher wussten sie, wie man einander flachlegte – und sich wie verrückt reproduzierte.
Der Film spielte viele Generationen in der Zukunft, nachdem diese umgekehrte Evolution bereits unvermeidlich zu einer Gesellschaft geführt hatte, die größtenteils aus Idioten bestand.
Eine Komödie, ja, aber während in Fachkreisen noch darüber diskutiert wurde, ob etwas dran sei, fiel es Jenna schwer, sich seiner inneren Logik zu entziehen.
Sie selbst war brillant, im Gegensatz zu ihrer weniger brillanten und erheblich stärker impulsgesteuerten Schwester. Sie fragte sich, wie viele Kinder Amber wohl haben würde. Und ob sie selbst und ihr supergenialer Mann überhaupt welche bekommen würden.
Auf dem Lindbergh-Flughafen in San Diego wurde Jenna von einem strahlenden, aber müden Nathan Wexler begrüßt, der genauso aussah wie während ihrer Skype-Telefonate der vergangenen Woche – als wäre er allergisch gegen Schlaf.
Nach einer langen Umarmung und als das Laufband endlich ihr Gepäck hergegeben hatte – der Flughafen war dafür bekannt, dass man lange auf seine Koffer warten musste –, fuhr Wexler sie nach Hause zu ihrem kleinen Mietshaus in La Jolla. An der University of California in San Diego war er mit Abstand der jüngste Lehrstuhlinhaber am Fachbereich Physik und hatte schon jetzt bahnbrechende Arbeiten in unterschiedlichen Teilgebieten der Physik und Mathematik geleistet.
Auf dem Weg löcherte Wexler sie mit Fragen über den Besuch bei ihrer Schwester, wollte wissen, wie sie Ambers Zustand einschätzte, obwohl sie sich darüber auch schon bei ihren täglichen Telefonaten unterhalten hatten. Als sie zu Hause ankamen, zauberte er eine Flasche teuren Rotwein hervor, dazu zwei elegante, übergroße Kelche aus...
| Erscheint lt. Verlag | 14.5.2018 |
|---|---|
| Übersetzer | Maike Hallmann |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Split Second |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror | |
| Schlagworte | eBooks • New-York-Times-Bestsellerautor • Physik • Science-Thriller • Spannung • Thriller • Zeitreise |
| ISBN-10 | 3-641-22271-0 / 3641222710 |
| ISBN-13 | 978-3-641-22271-0 / 9783641222710 |
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