Jerry Cotton Sonder-Edition 66 (eBook)
80 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-5554-3 (ISBN)
Sie kidnappten Männer, Frauen und Kinder. Es kam ihnen nicht darauf an, ob sie einen berühmten Wissenschaftler, einen betrunkenen Penner oder ein hilfloses Baby erwischten. Die Entführten verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Auf ihre Spur brachte uns erst ein Brief, ein Nachruf aus der Hölle ...
1
Die Stimme aus dem Telefonhörer klang heiser und kurzatmig. Man konnte die schnaufenden Atemzüge hören, mit denen der Mann seine Meldung unterbrach.
»Sergeant Ray Allen, Agent«, stieß er hervor. »Prospect-Park-Revier in Brooklyn. Wir haben gerade ein Kidnapping beobachtet.«
Ich fuhr aus meiner bequemen Haltung hoch und tat drei Dinge gleichzeitig: Ich presste den Hörer mit der Schulter gegen das Ohr, kritzelte Kidnapping auf einen Zettel und fragte dabei: »Wann und wo, Sergeant? Die Einzelheiten, bitte, im Telegrammstil.«
Ich schob den Zettel über den Schreibtisch hinweg meinem Freund und Partner Phil Decker zu. Er warf nur einen Blick auf den Zettel, dann sprang er auf und riss unsere Mäntel und Hüte von den Haken der Bürotür.
Inzwischen vollendete der Sergeant seine Meldung. »Ein Mädchen, Agent, ungefähr siebzehn, blond, lange Mähne, weißer Pullover, kurzer schwarzer Rock. Mindestens drei Täter, männliche Personen, in einem cremegelben Chevrolet. Sie haben sich im Neubaugelände unter dem Expressway verschanzt. Einen Steinwurf südlich des Prospect Park, Ecke Caton Avenue/Ocean Parkway. Sie sind bewaffnet und haben uns beschossen. Aber sie können nicht mehr raus.«
»Das Mädchen ist noch bei ihnen?«, fragte ich.
»Ja, Agent. Leider.«
»Nichts unternehmen, Sergeant! Wir kommen sofort. Abriegeln und stillhalten, verstanden?«
»Okay, Agent.«
Ich unterbrach die Verbindung und drehte den Hausanschluss vom Einsatzleiter. »Cotton«, sagte ich. »Kidnapping in Brooklyn. Ich brauche ein paar G-men aus den Bereitschaften.«
Das Wort »Kidnapping« bringt die ganze Maschinerie des FBI auf Hochtouren, wenn es sein muss, in Sekundenschnelle.
»Vierundzwanzig Mann in sechs Wagen«, erwiderte der Einsatzleiter, ohne eine Sekunde zu zögern. »Besondere Ausrüstung?«
»Tränengas, Gasmasken, Maschinenpistolen, jeder vierte ein Gewehr mit Zielfernrohr«, gab ich zurück. »Ein Wagen mit Lautsprecheranlage. Die Täter sind bereits von einer Streife der City Police festgenagelt, haben sich aber verschanzt und das Opfer bei sich. Eventuell müssen wir uns auf eine Belagerung einrichten. Falls wir sie des Mädchens wegen ziehen lassen müssen, muss die Überwachungsabteilung vorbereitet sein, damit wir ihre Spur nicht verlieren.«
»Ich werde die Jungs auf Trab bringen. Die Adresse?«
Ich wiederholte die Ortsangaben der Sergeants und fügte hinzu: »Phil und ich fahren voraus. Die Kollegen sollen nachkommen. Alarmieren Sie die zuständige Feuerwehrabteilung, falls wir ihre Leitern brauchen. Ein Rettungswagen mit Arzt soll in die Nähe beordert werden.«
»Wird sofort veranlasst, Cotton.«
»Also dann«, sagte ich und warf den Hörer auf die Gabel.
Den Hut stülpte mir Phil auf, während wir durch den Flur liefen. Weit entfernt hörten wir das Schrillen des Alarms in den Bereitschaftsräumen. Im Lift zog ich meinen Mantel über.
»Und das am Montagmorgen«, knurrte Phil. »Ich dachte, es gäbe mal eine ruhige Woche.«
Wir liefen durch die Halle auf den hinteren Ausgang zu. Im Hof stand mein roter Jaguar, frisch gewaschen, aufgetankt und gründlich inspiziert wie nach jedem Wochenende. Wir kletterten in die niedrige, lang gezogene Kiste, während aus der Halle der Fahrbereitschaft schon der Lautsprecherwagen herausgefahren wurde. Phil schaltete das Warnlicht und die Sirene ein, als ich auf die Ausfahrt zukurvte.
Durch die 69th Street krochen vier Autoschlagen nebeneinander. Es war ein trüber, regnerischer Vormittag. Unser Warnlicht streute zuckende Geisterfinger über die nassen Autodächer hin. Ein Taxifahrer hielt sich für wichtiger als unseren Einsatz und musste unbedingt noch vor uns an der Ausfahrt vorbei. Ich riss das Steuer herum, ließ den Jaguar zwei Wagenlängen über den menschenleeren Gehsteig schießen und rumpelte knapp vor dem Taxi auf die Fahrbahn. Der Driver hupte vor Wut. Er war der Einzige, der sich nicht um unser Warnlicht und die gellende Sirene kümmerte.
Als ich auf die Kreuzung der First Avenue hinausschoss, winkte uns ein Cop der City Police gegen die Ampeln die Fahrbahn frei. Ein knappes Handzeichen von mir dankte dem aufmerksamen Kollegen. Im Rückspiegel sah ich, wie er sich das Taxi vornahm. Unwillkürlich musste ich grinsen.
Indessen hatte Phil das Mikrofon des Funksprechgeräts an sich gezogen. »Wagen Cotton«, sagte er. »Alarmeinsatz wegen Kidnapping. Erbitten Verbindung mit Sergeant Ray Allen, Streifenführer vom Prospect-Park-Revier in Brooklyn. Ich wiederhole: Kidnapping! Erbitten Vorrang für all unsere Gespräche.«
Aus dem Lautsprecher drang die Stimme des Kollegen aus der FBI-Funkleitstelle. »Kidnapping, verstanden. Verbindung wird gesucht. Gehen Sie auf Q für Vorrang.«
Phil drückte eine Taste am Funksprechgerät. In diesen Augenblicken mussten ein Dutzend oder mehr Telefon- und Funkgespräche durch den Äther, alle beschäftigt mit einem einzigen Problem, alle konzentriert zur knappsten Form, alle bezogen auf eine Ecke in Brooklyn, wo sich drei oder mehr Männer mit einem sechzehn- oder siebzehnjährigen Mädchen verschanzt hatten. Vielleicht wussten die Eltern der Kleinen noch nichts. Und vielleicht würden sie ihre Tochter nur noch als Leichnam wiedersehen. Es hing von tausend Umständen ab, und wir konnten nicht alle beeinflussen.
Im Grunde konnten wir nur eines: mit allen Kräften versuchen, nicht zu spät zu kommen. Ich trat das Gaspedal tiefer, sobald ich nur hundert Yards freie Fahrbahn vor mir hatte, und ich musste bremsen, wo der Stau keinem eine Chance gab, uns die Straße freizumachen. Der Uhrzeiger am Armaturenbrett ruckte unbeirrt vorwärts.
Es gibt ein halbes Dutzend Möglichkeiten, von Manhattan hinüber nach Brooklyn zu kommen. Brooklyn liegt im Südosten. Aber der kürzeste Weg ist nicht immer der schnellste. Statt nach Süden war ich nach Norden eingebogen. In der 72nd Street ging es nach Westen. Das Metropolitan Museum tauchte im Regenschleier halbrechts vor uns auf.
Ich raste in den Central Park hinein. Die Scheibenwischer klackten. Bäume, Büsche und Gras duckten sich unter der Last des trommelnden Regens. Die Fahrbahn glänzte schwarz und schimmernd vor Nässe.
Ich drosselte die Geschwindigkeit ein wenig, bevor ich auf die Kreuzung jenseits des Parks hinausschoss. Weit vor uns ragten die Pfeiler in den trübgrauen Himmel, die die Hudson-Uferstraße tragen.
Der West Side Express Highway, wie sie die Uferstraße hier nennen, ist als Stadtautobahn ausgebaut. Hier kann man jede Minute doppelt herausfahren, die man durch den Umweg verlor. Ich drückte stärker aufs Gaspedal. Die Tachonadel fing zu zittern an. Mit zufriedenem Schnurren fraß der Jaguar die Meilen.
»Sergeant Allen«, krächzte eine heisere Männerstimme aus dem Lautsprecher.
»Agent Decker. Wir sind unterwegs, Sergeant. Wie ist die Lage bei Ihnen?«
»Wir haben Verstärkung von vier Streifenwagen. An ein Rauskommen ist für die Kidnapper nicht mehr zu denken. Aber wir kommen auch nicht hinein. Die Kerle halten das Gelände ringsum den Neubau unter Beschuss.«
»Beschreiben Sie uns die Örtlichkeit, Sergeant.«
»Außen herum ein Bauzaun, etwa mannshoch. Es wird nicht gearbeitet, vielleicht wegen des Regens. Vom Zaun zur Baustelle sind ungefähr achtzehn Yards freier Raum. Ringsum. Das Gebäude hat vier Stockwerke, aber noch keine Wände. Nur Betonpfeiler und eingezogene Decken. Wir …«
Aus dem Lautsprecher drang der entfernte Lärm eines Schusses, das laute Pling von getroffenem Blech und ein bösartiges Sirren.
»Verdammt noch mal!«, fluchte der Sergeant. »Die Hunde haben mir ein Loch in die Tür geschossen. Dabei ist der Wagen noch keine drei Wochen alt.«
»Denken Sie lieber an sich selbst, Sergeant«, rief Phil. »Sind Sie ausreichend in Deckung? Sonst brechen wir das Gespräch ab.«
»Ich bin auf der anderen Seite ausgestiegen. Jetzt hocke ich zwar im Regen, aber ich habe den ganzen Wagen als Deckung.«
»Haben Sie schon versucht, die Täter anzusprechen?«, wollte mein Partner wissen.
»Nein, Agent. Sie haben doch gesagt …«
»Okay«, unterbrach Phil. »Halten Sie weiterhin Ihre Leute zurück. Wenn sich etwas Besonderes tut, rufen Sie Wagen Cotton auf Q.«
»Ja, Agent. Wie lange dauert’s noch?«
»In ein paar Minuten haben wir die Einfahrt zum Brooklyn Tunnel.«
»Hoffentlich kriegen Sie die Burschen bis heute Nachmittag zur Vernunft, dass sie das Mädchen laufen lassen, Agent. Meine Familie wartet nach Feierabend auf mich. Kindtaufe von meinem ersten Enkelsohn. Neun Pfund! Wenn das kein Cop wird, dann weiß ich auch nicht.«
Phil lachte leise. Für einen Augenblick waren Dienstnummern und Funktionen in den Hintergrund gerückt. Cops, die eine Uniform trugen, gewannen aus der Anonymität ihres Berufs die menschlichen Züge von Vätern und Großvätern. Cops mit Revolver und Dienstabzeichen, aber Menschen wie du und ich.
»Wir werden versuchen, was wir für Ihre Kindtaufe tun können, Sergeant. Wenn es nicht klappt, verschwinden Sie auf jeden Fall, sobald Ihre Schicht Feierabend hat. Wir bringen genug Leute mit.«
»Nein, Agent. Daran ist nicht zu denken. Was meine Streife angefangen hat, führt sie auch zu Ende.«
»Das müssen Sie entscheiden, Sergeant. Haben Sie die Identität des Mädchens feststellen können?«
»Nein, Agent«, antwortete der Sergeant. »An der Stelle, wo es in den Kidnapperwagen gezerrt wurde, kannte es keiner der Leute, die es zufällig beobachtet haben.«
»Mit was für Waffen...
| Erscheint lt. Verlag | 21.11.2017 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Jerry Cotton Sonder-Edition | Jerry Cotton Sonder-Edition |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Al Capone • alfred-bekker • Anna Basener • Bahnhofsroman • Bastei • Bestseller • Cora • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • erste-fälle • gman • G-Man • Groschenheft • Hamburg • Hamburg-Krimi • Heft • Heftchen • Heftchen-Roman • Heftroman • Heft-Roman • Horst-Bosetzky • international • Jerry Cotton • Kindle • Klassiker • Krimi • Krimiautoren • Krimi-Bestseller • Krimi Bestseller 2017 • Krimi-deutsch • Krimi kindle • Kriminalgeschichten • Kriminalroman • kriminalroman bestseller 2017 • kriminalroman-deutsch • kriminalroman kindle • krimi neuerscheinungen 2017 • Krimis • krimis&thriller • Krimi-Serie • Krimi-Thriller • letzte fälle • Liebesroman • martin-barkawitz • Mira • Neuerscheinung • Neuerscheinungen • nick-carter • Polizeiroman • Pulp • Pulp Ficition • Reihe • Romanheft • Roman-Heft • schwerste fälle • schwerste-fälle • serial content • Serial Novel • Serial Novels • Serie • Serien • Seriennovellen • Soko-Hamburg • spannend • spannende Krimis • Spannungsroman • stefan-wollschläger • Tatort • Terror • thomas-herzberg • Thriller • uksak • Wegner • wegners schwerste fälle • Western |
| ISBN-10 | 3-7325-5554-2 / 3732555542 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-5554-3 / 9783732555543 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich