Lord Jim (eBook)
559 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97959-7 (ISBN)
Joseph Conrad, geboren am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski bei Berchitschew/Ukraine, gestorben am 3. August 1924 in Kent. Unter russischer Herrschaft geboren, mit Polnisch als Muttersprache und Französisch als Umgangssprache aufgewachsen, wurde er Kapitän der Britischen Handelsmarine und ein englischer Erzähler von Weltrang.
Erstes Kapitel
E R maß vielleicht ein, zwei Zoll weniger als sechs Fuß, besaß eine kräftige Statur und kam mit leicht vorgeneigten Schultern, vorgestrecktem Kopf und einem starren Blick aus gesenkten Augen, der an einen angreifenden Stier erinnerte, geradewegs auf einen zu. Seine Stimme war tief und laut, und die Art seines Auftretens zeugte von unbeugsamer Selbstbehauptung, die nichts Aggressives hatte. Sie schien eine Notwendigkeit und richtete sich offenbar ebenso sehr gegen ihn selbst wie gegen alle anderen. Er war makellos sauber, vom Hut bis zu den Schuhen in fleckenloses Weiß gekleidet, und in den vielen Häfen des Ostens, in denen er sich den Lebensunterhalt als Hafen-Kommis für Schiffsausrüster[5] verdiente, war er sehr beliebt.
Ein solcher Hafen-Kommis braucht keine Prüfung in irgendeinem Fach abzulegen, aber einerseits muß er über die Fähigkeit verfügen, abstrakt zu denken, andererseits seine Gedanken praktisch umsetzen können. Seine Arbeit besteht darin, mit Segel, Dampf oder Ruder alle konkurrierenden Anwerber bei jedem Schiff, das gerade vor Anker geht, aus dem Rennen zu schlagen, gutgelaunt dessen Kapitän zu begrüßen, ihm eine Karte aufzudrängen – die Geschäftskarte des Schiffsausrüsters – und ihn auf seinem ersten Besuch an Land ebenso zielsicher wie unaufdringlich zu einem riesigen, höhlenartigen Laden zu lotsen, der alles enthielt, was an Bord eines Schiffes gegessen und getrunken wird, und wo man alles bekommen kann, was ein Schiff seetüchtig macht und schön – angefangen von einem Satz Haken für die Ankerkette bis hin zu einem Heft Blattgold für die Schnitzereien am Heck – und wo der Kapitän von einem Schiffsausrüster, den er noch nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder willkommen geheißen wird. Es gibt da ein kühles Empfangszimmer, Armsessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, eine Kopie der Hafenvorschriften und einen so herzlichen Willkomm, daß einem Seemann das Salz einer dreimonatigen Fahrt aus der Seele schmilzt. Die derart geknüpfte Verbindung wird durch die täglichen Besuche des Hafen-Kommis aufrechterhalten, solange das Schiff im Hafen liegt. Dem Kapitän gegenüber ist er treu wie ein Freund und aufmerksam wie ein Sohn, er ist geduldig wie Hiob, selbstlos ergeben wie eine Frau und fröhlich wie ein Zechkumpan. Später dann wird die Rechnung zugeschickt. Es ist ein wunderschöner und zutiefst menschenfreundlicher Beruf. Deshalb ist ein guter Hafen-Kommis eine Seltenheit. Wenn ein Hafen-Kommis über die Fähigkeit der Abstraktion verfügt und dazu noch den Vorzug besitzt, auf See aufgewachsen zu sein, dann ist er seinem Brotgeber eine Stange Geld und ein gutes Stück Nachsicht wert. Jim hatte immer reichlich verdient und reichlich Nachsicht genossen – so reichlich, daß man damit die Treue eines Höllenfürsten hätte erkaufen können. Nichtsdestoweniger schmiß er die Arbeit manchmal in schwarzer Undankbarkeit hin und ging auf und davon. Seinen Brotgebern erschienen die Gründe, die er anführte, offenbar unzureichend. Sobald er ihnen den Rücken kehrte, sagten sie: »Verdammter Narr!« – und das war ihre Art, seine Überempfindlichkeit zu tadeln.
Für die im Hafengeschäft tätigen Weißen und für die Schiffskapitäne war er einfach Jim – mehr nicht. Er hatte natürlich noch einen anderen Namen, er war aber ängstlich darauf bedacht, daß keiner ihn nannte. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verbergen, sondern ein Faktum. Wenn dieses Faktum sein Inkognito lüftete, verließ er auf der Stelle den Hafen, in dem er sich gerade aufhielt, und zog in den nächsten – gewöhnlich weiter östlich gelegenen. Es mußten Seehäfen sein, denn er war ein von der See ins Exil geschickter Seemann und besaß die Fähigkeit der Abstraktion, die für keine andere Arbeit taugt als die eines Hafen-Kommis. Er trat den geordneten Rückzug an, in Richtung aufgehender Sonne, und das Faktum folgte ihm ebenso beiläufig wie unabänderlich auf dem Fuß. So lernte man ihn im Laufe der Jahre nach und nach in Bombay, in Kalkutta, in Rangoon, in Penang, in Batavia[6] kennen – und an jeder dieser Stationen war er einfach Jim, der Hafen-Kommis. Später, als ihn das schmerzhafte Bewußtsein des Unerträglichen für immer fort aus den Seehäfen und fort von den Weißen trieb und hinein in die jungfräulichen Urwälder, fügten die Malaien des Dschungeldorfes, das er als Versteck für sein beklagenswertes Talent ausersehen hatte, der einen Silbe seines Inkognitos ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan[7] Jim – was soviel hieß wie: Lord Jim.
Ursprünglich kam er aus einem Pfarrhaus.[8] Viele Kapitäne schmucker Handelsschiffe kommen aus solchen Heimstätten der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater besaß jene gewisse Kenntnis des Unerkennbaren, wie sie der Rechtschaffenheit von Kleinhäuslern förderlich ist, ohne gleichzeitig den Seelenfrieden derjenigen zu stören, denen eine unfehlbare Vorsehung ein Leben in Herrschaftshäusern ermöglicht hat. Die kleine, auf einem Hügel erbaute Kirche hatte die moosgraue Farbe eines Felsens, der hinter gezacktem Blattwerk hervorlugt. Jahrhundertelang hatte sie da gestanden, und wahrscheinlich erinnerten sich die Bäume ringsum noch der Grundsteinlegung. Unter ihr leuchtete, inmitten von Grasflächen, Blumenrabatten und Tannenbäumen, die Vorderseite des Pfarrhauses in warmem Rot, dahinter lag ein Obstgarten, links davon befanden sich der gepflasterte Hof eines Reitstalls sowie die schrägen Glasfronten von Gewächshäusern, die an einer Backsteinmauer entlangliefen. Die Familie hatte diese Pfründe schon seit Generationen, Jim aber war einer von fünf Söhnen, und nachdem seine Berufung zur See nach dem systematischen Studium unterhaltsamer Ferienlektüre offenbar geworden war, wurde er umgehend auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine« geschickt.
Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und wie man sich auf Oberbramrahen[9] bewegt. Er war allseits beliebt. Er war Drittbester beim Navigieren und Schlagmann im ersten Kutter. Er behielt stets einen klaren Kopf, besaß eine ausgezeichnete körperliche Konstitution und stellte sich in der Takelage sehr geschickt an. Seine Position war oben im Vortopp, und oft blickte er von dort oben in die Tiefe, mit der Verachtung eines Mannes, dem es bestimmt ist, inmitten von Gefahren glanzvoll zu bestehen, blickte hinunter auf die friedliche Versammlung von Dächern, die von der braunen Flut des Flusses in zwei Teile zerschnitten wurde, während am äußersten Rand dieser flachen Scheibe vereinzelte Fabrikschlote senkrecht in den rußigen Himmel stiegen, jeder einzelne schlank wie ein Bleistift und jeder ein rauchspeiender Vulkan. Er konnte die großen Schiffe auslaufen sehen, die breitbäuchigen Fähren, die ständig in Bewegung waren, die kleinen Boote, die tief unter ihm auf dem Wasser trieben, und in der Ferne das diesig schimmernde Meer und die Hoffnung auf ein bewegtes Leben in der Welt der Abenteuer.
Selbstvergessen inmitten des Gewirrs von zweihundert Stimmen, durchlebte er dann auf dem Unterdeck in Gedanken schon das Seemannsleben der leichten Literatur. Er stellte sich vor, wie er Leute von sinkenden Schiffen rettete, in einem Orkan Maste kappte, mit einem Tau durch die Brandung schwamm; oder er sah sich als einsamen Schiffbrüchigen, barfuß und selbst halbnackt auf nackten Klippen herumirren, auf der Suche nach Schalentieren, um den Hungertod abzuwenden. An tropischen Küsten bot er Wilden trotzig die Stirn, schlug auf hoher See Meutereien nieder und sprach verzweifelten Männern, die in einem kleinen Boot auf dem Ozean trieben, Mut zu – immer ein Musterbeispiel der Pflichterfüllung, immer der unerschrokkene Held, wie er im Buche steht.
»Da ist etwas passiert. Kommt mit.«
Er sprang auf. Die Jungen flogen in Schwärmen die Leitern hinauf. Oben war Hasten und Rufen zu hören, und als er durch die Luke geklettert war, blieb er wie angewurzelt stehen.
Es herrschte die Abenddämmerung eines Wintertags. Der Wind hatte seit Mittag aufgefrischt und den Verkehr auf dem Wasser zum Erliegen gebracht und blies nun mit der Stärke eines Orkans, in plötzlichen Böen, die wie die Salven schwerer Geschütze über das Meer hindröhnten. Der Regen stürzte klatschend in Bahnen herab und ließ dann wieder nach, und hin und wieder bot sich ihm flüchtig der furchterregende Anblick der tosenden Fluten, der hochgeschleuderten, am Ufer entlanghüpfenden Boote, der inmitten vorübertreibender Dunstschwaden reglos aufragenden Gebäude, der breiten, schwerfällig vor Anker stampfenden Fährboote, der riesigen Landungspontons, die sich, eingehüllt in Gischt, hoben und senkten. Und nach der nächsten Bö war alles wieder wie fortgeblasen. Sprühregen erfüllte die Luft. Der Sturm verfolgte verbissen sein Ziel, im Kreischen des Windes und im Aufruhr von Himmel und Erde lag wilde Entschlossenheit, die gegen ihn gerichtet schien, und ein heiliger Schrecken nahm ihm den Atem. Er stand still. Ihm war, als würde er herumgewirbelt.
Jemand rempelte ihn an. »Den Kutter bemannen!« Jungen hasteten an ihm vorüber. Ein Küstenfahrer hatte auf der Suche nach Zuflucht beim Einlaufen einen vor Anker liegenden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder auf dem Schiff hatte den Unfall bemerkt. Ein Haufen Jungen kletterte auf die Reling und drängte sich um die Davits[10]. »Kollision. Direkt vor uns. Mr. Symons hat’s gesehen.« Ein Stoß – er fiel taumelnd gegen den Besanmast[11] und kriegte ein Tau zu fassen. Ein Zittern lief durch das alte Schulschiff, das mit Ketten an seinen Ankerplatz festgemacht war, es hob und senkte sich, Bug voran, leicht vor dem Wind, und seine bescheidene Takelage summte in...
| Erscheint lt. Verlag | 15.11.2017 |
|---|---|
| Übersetzer | Klaus Hoffer |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Abenteuerroman • Abenteurer • Buch Kolonialismus • Englische Literatur • Erzählung 19. Jahrhundert • große klassiker zum kleinen preis • Herz der Finsternis • Klassiker • Klassiker 19. Jahrhundert • Klassiker Bücher • Klassiker englische Literatur • Klassiker Literatur • Klassiker Weltliteratur • Klassiker zum kleinen Preis • Kolonialismus • Litearatur Klassiker • Literatur 19. Jahrhundert • Napoleon • Psychologischer Roman • Roman • Roman 19. Jahrhundert • Roman Napoleon • Schiff • Seefahrer • Verfehlung • Weltliteratur |
| ISBN-10 | 3-492-97959-9 / 3492979599 |
| ISBN-13 | 978-3-492-97959-7 / 9783492979597 |
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