John Sinclair Sonder-Edition 64 (eBook)
80 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-5434-8 (ISBN)
Mary Ann Baxter war eine Dame von Welt. Sie leitete eine der bekanntesten Londoner Tanzschulen, gehörte zu den oberen Fünfhundert, war berühmt für ihre Clubfeste und hatte bereits drei Männer überlebt.
An jedem hatte sie gehangen, um jeden hatte sie getrauert, und trotzdem liebte sie alle drei selbst nach deren Tod weiter. Wer ihrer zahlreichen Freunde ahnte schon, dass die drei Verstorbenen gar nicht begraben waren?
Auf einem ihrer Clubfeste platzte die Bombe! Als Höhepunkt präsentierte Mary Ann Baxter ihre verstorbenen Männer als Zombies ...
Der Wind war kalt. Am Himmel trieben graue Schneewolken wie lauernde Ungeheuer. Es sah so aus, als wollten sie sich jeden Moment auf die Erde stürzen, um die Häuser, Straßen, Autos und Menschen unter sich zu begraben.
Der Wind drang in jede Ritze. Zahlreiche Menschen schützten sich mit dicken Schals, die sie mehrmals um den Hals und um die Mundpartie gewickelt hatten. Die Verkäufer von Fellmützen hatten Hochkonjunktur.
Nicht einmal gegen Mittag, als sich die Sonne am Himmel zeigte, taute das Eis.
Die Autofahrer verhielten sich vorbildlich, denn an vielen Stellen schimmerten Eiskristalle auf dem Asphalt.
Auch der Rolls fuhr langsam. Der Chauffeur kannte den Weg, denn er brachte seine Chefin häufig zum Friedhof, wo sie sich an den Gräbern ihren Erinnerungen hingab. Friedhöfe waren für sie das Salz in der Suppe des Lebens.
Der Rolls glitt lautlos dahin. Wenn sein silberfarbener Metalliclack vom Licht der kalten Wintersonne getroffen wurde, strahlte er explosionsartig auf. Das störte aber hinter den getönten Scheiben niemanden.
Die Frau im Fond hatte sich schräg in die Polster gelegt. Das rote Leder war weich wie ein Katzenfell.
Der Wagen war mit allen Schikanen ausgerüstet: Telefon, Fernseher, Stereo-Anlage und der obligatorischen Bordbar. In diesem Kühlfach standen immer ein paar Flaschen Champagner, das Lieblingsgetränk der Frau.
Andere sagten Puffbrause dazu. Sie störte das nicht. Besonders auf langweiligen Fahrten wie dieser nippte sie gern an dem trockenen Edelgesöff.
Luxus, wohin man schaute.
Und als Luxus-Frau sah sich Mary Ann Baxter. Sie gehörte zu den Oberen Fünfhundert der Londoner Gesellschaft, ohne selbst von Adel zu sein. Aber sie hatte Geld, zudem hatte sie einen außergewöhnlichen Beruf und gab Feste, die bei der Schickeria beliebt waren. Wer von Mary Ann Baxter eingeladen wurde, der gehörte dazu, der hatte es geschafft, der war in.
Geld hatte sie, die dreifache Witwe, aber sie war dabei, es zu vermehren, denn ihr gehörte die bekannteste Londoner Tanzschule.
MAB Dancing!
Mehr brauchte man nicht zu sagen, jeder Londoner kannte diese große Schau. Wer Kinder und genügend Geld hatte, der schickte seine Sprösslinge zu Mary Ann Baxter in die Tanzschule. Die Älteren kamen ebenfalls gern, um ihre Tanzkenntnisse aufzufrischen, außerdem gehörte es in gewissen Kreisen dazu, Mary zu kennen. Manchmal las sich ihre Schülerliste wie das berühmte Buch »Who’s who?«.
So sehr sie den Luxus liebte, so sehr hielt sie auf ihr Äußeres. Sie war eine attraktive Frau. Sie war vierzig Jahre alt, hatte schwarzbraunes Haar und sah bedeutend jünger aus. Irgendjemand hatte sie einmal mit der berühmten Filmschauspielerin Greta Garbo verglichen, denn Mary versteckte sich oft hinter einer dunklen Brille.
Sie liebte Schmuck, teure Kleider und Pelze. Der Mantel, den sie mitgenommen hatte, lag wie ein ausgebreiteter Leopard hinter ihr. Dass diese seltenen Tiere ihretwegen hatten ihr Leben lassen müssen, darüber dachte sie nicht nach.
Luxus musste sein, egal auf wessen Kosten.
Sie hatte das Glas geleert und wollte sich gerade einschenken, als der Wagen in eine Kurve fuhr. Fliehkräfte wirkten, und der kostbare Champagner schwappte über den Rand.
Mary Ann Baxter verzog das Gesicht. Sie hatte volle Lippen, einen Mund, der zum Küssen einlud. Im Moment wirkte er allerdings wie eine offene Wunde.
»Kannst du nicht achtgeben?«, zischte sie.
Über ihre Hand rann der Champagner auf die Beine und das Sitzleder. Mit einem langen Schluck spülte sie den Ärger runter.
Mary Ann Baxter schaute aus dem Fenster. Bis sie den Friedhof erreichten, blieb Zeit, eine Zigarette zu rauchen.
Ein schneller Wagen überholte sie, als Mary Ann Baxter die goldene Zigarettenspitze aus der Handtasche kramte. Der Fahrer versuchte durch die getönten Scheiben in den Rolls zu schauen, schaffte es aber nicht.
Wenig später passierten sie graue Häuserfronten. Auf den Dächern schimmerte der Raureif. Deshalb sahen sie aus wie matte Spiegel, über die der feine Qualm aus den Schornsteinen wehte.
Die Frau schüttelte sich, als ihre Blicke über die Fronten glitten. Sie dachte an ihre eigene Jugend. Die ersten Jahre nach dem Krieg hatte sie in einem solchen Haus verbracht und die engen Wohnungen hassen gelernt. Hier lebten Menschen ohne Freiraum, die sich gegenseitig in die Töpfe guckten.
Die Zeiten lagen zum Glück hinter ihr. Sie hatte diese Jahre abschütteln können und einen Ehrgeiz entwickelt, der beängstigend war.
Die Gedankenkette der Frau riss, als sie die ersten hohen Bäume erblickte, die den Friedhof einrahmten.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Während andere Menschen eine instinktive Furcht vor einem Friedhof empfanden, freute sie sich darauf, das Gelände zu betreten. Sie, die Lady aus der Londoner Gesellschaft, fühlte sich auf diesem Gelände wohl. In den letzten Monaten hatte sie der Chauffeur des Öfteren hergefahren, und sie hatte etwas geschafft, das eigentlich unmöglich war.
Selbst Spiro, ihr Fahrer und treuer Vasall wusste nichts davon.
Er lenkte den schweren Wagen auf den Parkplatz. Die Markierungen der Parktaschen waren unter dem Eis verschwunden.
Sanft stoppte der Wagen.
Mary Ann Baxter blieb sitzen. Sie stellte das Glas weg, griff nach hinten und zog den Mantel hoch. Weich schmiegte sich der Pelz um ihre Schultern.
Ein Schatten fiel gegen das Fenster, als Spiro auf der rechten Seite die Fahrerseite öffnete. Er stieg aus. Seine Chefin bekam Zeit, ihn zu beobachten.
Spiro war zwar keine große Leuchte, aber er war ein Mann. Das hatte er ihr in langen Nächten mehr als einmal beweisen müssen. Seine Herkunft lag im Dunkeln. Er selbst sprach davon, russisches Blut in den Adern zu haben. Das konnte durchaus stimmen. Er trug die Pelzmütze leicht schief auf dem Kopf. Seine Haut wirkte wie raues Holz. Die Gesichtszüge waren kantig und das vorspringende Kinn dominierend.
Spiro wusste, was er zu tun hatte. Pflichtbewusst öffnete er seiner Chefin den Wagenschlag.
Sie stieg aus und nickte, als ihr Spiro galant in den Pelz half.
»Wann werden Sie wieder zurück sein?«, fragte der Mann. Er stellte stets die gleiche Frage und hatte stets die gleiche Antwort bekommen, aber heute war es anders.
»Du begleitest mich, Spiro.«
»Ich?«
Die Frau lächelte schmal, holte ihre dunkle Brille hervor und setzte sie auf. »Ja, ich will es so. Du musst mir helfen.« Sie blickte Spiro an.
Er konnte den harten und entschlossenen Ausdruck ihrer Augen nicht sehen, aber er nickte. »Sehr wohl.«
Bevor sie gingen, schaute sich Mary Ann Baxter noch einmal um. Dieser kalte Wintertag war nicht nach ihrem Geschmack. Die Luft schien aus Eis zu bestehen. Wenn sie atmete, hatte sie das Gefühl, ihre Lungen würden allmählich vereisen. Sie wickelte den Schal um ihren Mund. Mit der dunklen Sonnenbrille sah sie aus wie eine Bankräuberin.
Vom Friedhofstor her löste sich eine einsame Gestalt. Ein älterer Mann, der langsam und gebeugt quer über den großen, leeren Platz lief und sich wahrscheinlich in der nahe gelegenen Gaststätte aufwärmen wollte.
»Wir gehen!«, entschied Mary Ann.
Spiro wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Es gab gewisse Dinge, auf die seine Chefin achtete. Da kannte sie kein Pardon. Er ließ sie rechts gehen, reichte ihr den Arm, aber Mary Ann Baxter lehnte ab. Mit einer ungeduldig wirkenden Geste rammte sie beide Hände in die Manteltaschen.
In dieser freien Lage biss die Kälte noch stärker. Vor allen Dingen dann, wenn Wind aufkam. Er schien unsichtbare Eisstücke vor sich herzutreiben.
Das Friedhofstor wirkte wie die Trennlinie zwischen zwei Welten. Einmal war es die Welt der Lebenden, zum anderen die der Toten. Bis jetzt standen die beiden Ankömmlinge auf der Seite des Lebens, aber die Frau freute sich darauf, den Friedhof betreten zu können. Dort lag die Welt, die sie liebte. Die Umgebung des Vergänglichen, auf der der Hauch des Vergessens lastete. Blumen, die auf frisch aufgeworfenen Grabhügeln verwelkten und verfaulten, unterstrichen mit ihrem strengen Geruch diesen Eindruck.
An den Gitterstäben des Tores klebte das Eis. Das Schloss war ebenfalls von einer weißgrauen Schicht überzogen.
Spiro hatte Mühe, das Tor zu öffnen. Er zog es zu sich heran und schaute seine Chefin an. Sie war anders als sonst. Zwar sprach sie nie viel, wenn sie zum Friedhof ging, doch heute hatte sich ihre Haltung verändert. Sie wirkte steifer und gleichzeitig, was ein Widerspruch zu sein schien, erwartungsvoller.
Spiro redete nur, wenn er gefragt wurde und wenn etwas seine unmittelbaren Interessen berührte. Die Frau blieb neben ihm stehen. Sie schaute starr auf den Friedhof.
»Du gehst mit, Spiro«, wiederholte sie.
Im Holzgesicht des Mannes zuckte kein Muskel. »Zu den Gräbern?«
»Wohin sonst?«
Er wollte eine Frage stellen, traute sich aber nicht. Die Baxter hatte es bemerkt und lachte leise.
»Heute ist ein wichtiger Tag für uns, Spiro. In den nächsten Stunden werde ich die Weichen für eine Zukunft stellen, die auch dich berührt. Deshalb musst du mitkommen. Ich will dich in ein Geheimnis einweihen. Du wirst mir zur Seite stehen und mir helfen.«
»Natürlich.«
Mary Ann Baxter ging vor. Steinhart war der Boden gefroren. Sie passierten die gewaltige Leichenhalle mit dem Zeltdach und den großen bis zum Boden reichenden Scheiben darunter. Im Sommer war die Halle lichterfüllt und sonnendurchflutet. Zu dieser Jahreszeit...
| Erscheint lt. Verlag | 14.11.2017 |
|---|---|
| Reihe/Serie | John Sinclair Sonder-Edition | John Sinclair Sonder-Edition |
| Verlagsort | Köln |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2017 • Anna Basener • Bahnhofsroman • Barry Belmondo • Bastei • Cora • Dämonenjäger • Der Geisterjäger • Die Abenteurer • Geisterjäger • Groschenheft • Grusel-Roman • Grusel-serie • Heft • Heftchen • Heftchen-Roman • Heftroman • Heft-Roman • Horror • horror deutsch • horror deutsch kindle • Horror-Roman • Horrorroman deutsch • Horror-Serie • Horror-Thriller • horror thriller deutsch • john Sinclair • Julia-meyer • Klassiker • Krimi-Bestseller • Krimi-deutsch • Krimi kindle • krimi neuerscheinungen 2017 • Krimi-Thriller • Lovecraft • Mark Hellmann • Mira • Paranomal • Professor Zamorra • Pulp • Pulp Ficition • Romanheft • Roman-Heft • serial content • Serial Novel • Serial Novels • Serie • Serien • Seriennovellen • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller-Serie • Tony Ballard • Walking Dead |
| ISBN-10 | 3-7325-5434-1 / 3732554341 |
| ISBN-13 | 978-3-7325-5434-8 / 9783732554348 |
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