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Unklare Verhältnisse (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
256 Seiten
Lindemanns (Verlag)
978-3-88190-999-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unklare Verhältnisse -  Inga Brock
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Sie hielt die Pistole in der rechten Hand, zitterte nur ein ganz klein wenig, räusperte sich, und genau in diesem Moment schaute Frau Haas, die mittlerweile hinter dem Schalter Platz genommen hatte, mit einem 'Was kann ich für Sie tun?' lächelnd auf - und stutzte. Die kleine dicke Frau, die sie eben noch so sehr an ihre eigene Großmutter erinnert hatte, musste sich eine Art Osterhasenkostüm übergezogen haben, durch das sie vermutlich kaum sehen konnte und hinter dem das Atmen Probleme zu machen schien. aus: 'Geld oder Sterben' Ein kleiner Junge, der den Betrug seines Vaters deckt, eine alte Frau, die sich schwer verliebt, eine, der keiner mehr helfen kann - wie kommen sie mit dem Leben klar? Präzise und berührend schildert Inga Brock in ihren Geschichten, wie wir leben und warum es uns oft nicht gelingt, anzukommen und glücklich zu sein - und wie es am Ende vielleicht doch noch klappen könnte. In klarer und dichter Sprache stellt sie uns Menschen vor, die ganz anders sind als wir - und uns doch sehr ähnlich: Lebenskünstler, Sehnsüchtige, Kummervolle, Hoffende, Fröhliche, Liebende und Hassende. Inga Brock, geboren 1969, war Zahn­arzthelferin, Scheffelpreisträgerin, Studentin, Zeitungsredakteurin, Song- und Werbetexterin, Buchverkäuferin und Pressesprecherin. Nebenbei hat sie immer auch Geschichten geschrieben und fotografiert. Sie hat eine erwachsene Tochter und lebt mit ihrem Mann in Karlsruhe. 'Unklare Verhältnisse' ist ihr erstes Buch.

Das hier ist für Mark

Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte alles erzählen können und irgendwer hätte ein Diktiergerät mitlaufen lassen. Es hätte mir jede Menge Arbeit und Nerverei erspart, aber man hat mir gesagt, dem Gutachter sei es lieber so. Also bitte. Außer rumsitzen, das stimmt schon, kann ich ja sowieso nichts mehr machen. Jetzt fange ich an:

Ich bin in einem kleinen Kaff im Schwarzwald geboren. Es heißt Marschalkenzimmern. Es lohnt sich nicht, dort hinzufahren, allenfalls durchzufahren, denn die Landschaft ist schön und wohl das, was Städter unter idyllisch verstehen. Im Sommer blühen schier endlose Rapsfelder und fast immer weht ein leichter, angenehmer Wind, der die Gräser zum Wogen bringt. Am Straßenrand wechseln sich Kruzifixe mit kleinen Holzkreuzen und Grablichtern ab, die einen Andreas, Mike oder Axel unvergessen machen wollen.

Der Ort selbst ist winzig und unterscheidet sich in fast nichts von all den anderen kleinen Käffern, die Brachfeld heißen, Hopfau oder Niederdornstetten. Es gibt immerhin keine typischen Ramschläden mit Kuckucksuhren, Bollenhutpüppchen und Wurzelholzschund, aber auch keinen Supermarkt, keine Schule, keinen Arzt, nur ein paar Bauernhöfe, eine Kirche und eine Wirtschaft, die „Zur Linde“ heißt und meinen Eltern gehört. Ich danke Gott jeden Tag, dass ich nicht mehr dort leben muss.

Die „Linde“ liegt an der Hauptstraße, die weiter nach Dornhan führt. Dort bin ich zur Schule gegangen. Eine beschissene Schule mit beschissenen Lehrern und beschissenen Mitschülern. Dass aus mir schließlich doch noch was geworden ist, habe ich nur mir selber und Gott zu verdanken. Das weiß ich genau.

Glauben und Gott, das ist sehr wichtig für mich. Ich habe schon als kleines Mädchen in der Bibel gelesen wie andere in ihren Hanni-und-Nanni-Büchern oder in „Blitz, der schwarze Hengst“. Vielleicht weil es bei uns außer der alten Hausbibel meiner Großeltern und den Lesezirkelheftchen, die in der Gaststätte auslagen, nicht viel zu lesen gab. Ich kann heute noch ganze Passagen auswendig, aber ich verschone Sie lieber, keine Angst. Dass so was nicht besonders gut ankommt, habe ich schnell gemerkt. Meine Eltern könnten Ihnen da bestimmt auch etwas dazu sagen, wenn sie noch wollten (obwohl ich sagen muss, dass sich immer mehr Menschen, vor allem junge, wieder Gott zuwenden. Ist doch so, oder?).

Ich hatte jedenfalls schon immer das sichere Gefühl, dass Gott gut auf mich aufpasst und der einzige ist, der mir zuhört und mich WIRKLICH versteht. Er ist auch jetzt bei mir und hat mich schon so oft getröstet, dass ich ihm ewig dafür dankbar sein werde.

Seit ich etwa vier Jahre alt war, gehe ich regelmäßig in die Kirche. Allein. Da fand auch noch nie jemand etwas dabei. Meinen Eltern war es nur recht, da mussten sie sich schon nicht mit mir abgeben. Was für andere ein Geheimversteck auf dem Dachboden oder ein besonders verwunschenes Fleckchen im Wald war, das war für mich die St.-Nikolas-Kirche. Ich spielte dort, malte dort, träumte, weinte, summte, lachte, lauschte, hoffte. Ich gehörte bald ebenso zum Inventar wie die Haushälterin des Pfarrers, die sich um die Kerzen, Pflanzen, Gesangsbücher und den Opferstock zu kümmern hatte, der stumme Organist und der Pfarrer selbst. Ein lieber Mensch übrigens. Keiner von den Päderastentypen, darauf brauchen Sie sich gar nicht erst einzuschießen.

Ich war schon immer anders. Meine Mutter wollte mir meine schweren Haare manchmal zu Zöpfen flechten, aber das habe ich nie zugelassen. Ich weigerte mich auch regelmäßig Kniestrümpfe anzuziehen, wenn es draußen warm war, oder Ohrenschützer aufzusetzen, wenn es kalt war. Ich fing an zu schreien, wenn meine Mutter mir Malzbier vorsetzte, weil sie Angst hatte, ich würde ewig zu dünn bleiben. Ich wurde stocksteif, wenn sie versuchte, mich in den Arm zu nehmen, was selten genug geschah (Achtung, Gutachter, es lag an MIR, nicht an ihr), und ich ignorierte ihre Bitten, ich solle doch pünktlich zum Essen heimkommen und meine Zahnspange regelmäßig tragen. Sie hatte mir nichts zu sagen: Mit Ach und Krach den Hauptschulabschluss geschafft und dann immer nur Bier gezapft und dem Alten die Hausschuhe hinterhergetragen. Sie konnte mich mal.

Er selber war auch nicht viel besser, fast immer hielt er sich aber aus allem raus. Schlauer war er schon. Nur schlagen hätte er mich nicht dürfen, auch wenn in der Bibel darüber was anderes steht. Schlagen, das war seine Aufgabe, wenn sie nicht mehr weiterkam. Meine Mutter stand dann dabei und kuckte zu. Gefreut wird sie sich haben.

Ich bin mit sechzehn zu einer Schwester meines Vaters nach Freudenstadt gekommen und habe dort mein Abitur gemacht. Im gleichen Jahr fing ich an, Chemie zu studieren. Hört sich nicht sonderlich spannend an, es liegt mir aber. Jetzt hab ich einen Assistentinnenjob an der Uni Karlsruhe und nicht übermäßig viel zu tun. Man darf nicht faul sein, ich weiß, und ich bin es auch nicht. Ich brauche nur viel Zeit für andere Dinge.

Ich sehe gut aus. Ich bin groß, aber nicht zu sehr, schlank, habe lange schwarze Haare, große Brüste und einen festen, kleinen Hintern. Ein „Männertyp“, gar keine Frage. Im Labor läuft ihnen regelmäßig der Sabber runter. Eklig, aber ich weiß mich zu wehren.

Bevor Sie sich jetzt fragen, ob ich eventuell noch Jungfrau sein könnte, und alles auf meine verklemmte Sexualität schieben wollen: Nein, ich bin keine Jungfrau mehr. Ich wurde auch nie vergewaltigt oder habe andere fürchterliche Erlebnisse in dieser Richtung hinter mir. Zum ersten Mal Sex hatte ich mit einem Jungen aus dem Nachbarhaus, als ich siebzehn war. Ich glaube, er hieß Frieder. Es war schmerzhaft und irgendwie enttäuschend, ansonsten aber nicht weiter der Rede wert. Und es ist auch nicht so, dass ich als „alte Bibeltreue“ eine lustfeindliche Einstellung oder noch nie etwas von Selbstbefriedigung gehört hätte. Vergessen Sie’s also.

Geahnt habe ich schon immer, dass irgendwo einer ist und auf mich wartet, einer, der es wert ist, der mich erkennen kann und ich ihn, auch im biblischen Sinn.

Es war an einem dieser wunderbaren Abende, an denen man merkt, dass der Frühling es bald geschafft hat: Die Vögel sind wieder da und zwitschern laut, Grünes zeigt sich an Bäumen und Sträuchern, das Licht wird weicher, die Leute schauen freundlicher und sind es auch, man kriegt Lust auf Sommer und Eis und Flugzeuge, die am Himmel brummen, und kleine Kinder, die auf Wiesen Fangen spielen. All so was eben. Ich war auf dem Weg von der Uni nach Hause und hatte es nicht eilig. Ich hatte es eigentlich nie eilig (es war, bis zu diesem Zeitpunkt, ja nie einer da, der auf mich gewartet hätte). Vor mir schob eine kleine dralle Frau einen Zwillingskinderwagen. Sie blieb so plötzlich stehen, dass ich ihr nur noch mit einem Satz zur Seite ausweichen konnte. Wir mussten beide lachen, sie entschuldigte sich und wir kamen miteinander ins Gespräch. Sie erzählte mir aufgeregt, dass ihr gerade schlagartig eingefallen sei, dass sie beim Einkaufen das Allerwichtigste vergessen hätte: die Milch für die Kinder. Ich fragte sie, ob es weit sei bis zum Laden, und sie erklärte mir, dass das nicht das Problem sei. Sie könne die Kinder aber unmöglich vor dem Supermarkt stehen lassen, bei all den Irren, die heutzutage herumliefen. Guter Witz! Also müsse sie die Kinder mit hineinnehmen, das sei aber deswegen ungünstig, weil sie endlich mal schliefen.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Ich bot ihr an, sie zu begleiten und vor dem Supermarkt auf die Zwillinge aufzupassen. Sie machte so ein Aufheben um mein Angebot, das könne sie doch nicht annehmen, das sei ja unglaublich lieb von mir, das gehe aber doch wirklich nicht und so weiter. Ich bereute schon meinen spontanen Gutmensch-Entschluss und war kurz davor, sie mit ihren Bälgern stehen zu lassen, als sie endlich unter der Voraussetzung einwilligte, mich anschließend auf ein Glas Wein in ihre Wohnung einzuladen.

Nichts passiert einfach so. Das zumindest dürfte Ihnen doch klar sein, oder?

Als wir eine halbe Stunde später vor ihrer Haustüre standen, waren die Zwillinge wach und plärrten. Sie drückte mir einen der beiden in die Arme und ging vor mir her in den vierten Stock. Ich hörte IHN schon, je näher wir zur Wohnungstür kamen. Er sang.

Ein junger Mann, Typ ewiger Soziologiestudent, machte die Tür auf und die Musik wurde noch lauter.

Das ist, was ich hörte:

Ich kann dich spür’n,

will dich nicht verlier’n,

so viele Nächte lang gewartet,

so viele Träume ungeträumt,

ich werde immer bei dir bleiben,

so vieles haben wir versäumt.

Irgendwo anders – wartet unser Glück,

irgendwo anders – wir beide Stück für Stück,

irgendwo anders – ich glaube fest daran,

irgendwo anders – wir beide, Frau und Mann.

Soll ich noch etwas über die Melodie schreiben? Also, sie ist eingängig. Eingängig, aber nicht schnulzig. So ein bisschen wie Musik von Xavier Naidoo. So ein bisschen jedenfalls, okay?

Der Zwillingsvater glotzte mich an. Ich merkte, wie ich rot wurde. Ich fragte ihn, wer der Sänger sei, und er kapierte erst nicht, was ich meinte.

„Sie meint die CD“, sagte seine Frau.

Er nahm mir das Kind ab.

„Mark Torani.“

Ich hatte den Namen noch nie gehört, aber die Verbindung war sofort da. Es hing wohl mit der Art zusammen, wie er sang, mit dem „Schmelz“, wie man sagt und dabei jede Empfindung abwürgt, weil es so dermaßen abgedroschen klingt. Ich würde es vielleicht „Rauch“ nennen, auch bescheuert, aber besser kann ich es nicht beschreiben. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass der, der da singt, nur für mich singt. Und genau so war es ja auch.

Ein unbeschreibliches...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2017
Reihe/Serie Lindemanns
Lindemanns Bibliothek
Verlagsort Bretten
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Leben • Lebensgeschichten • Menschen
ISBN-10 3-88190-999-0 / 3881909990
ISBN-13 978-3-88190-999-0 / 9783881909990
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