Almayers Luftschloss (eBook)
285 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97957-3 (ISBN)
Joseph Conrad, geboren am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski bei Berchitschew/Ukraine, gestorben am 3. August 1924 in Kent. Unter russischer Herrschaft geboren, mit Polnisch als Muttersprache und Französisch als Umgangssprache aufgewachsen, wurde er Kapitän der Britischen Handelsmarine und ein englischer Erzähler von Weltrang.
Erstes Kapitel
»KASPAR! Makan[3]!«
Die nur zu bekannte, durchdringende Stimmeriß Almayer[4] aus seinem Traum von einer grandiosen Zukunft zurück in die unerfreuliche Realität der gegenwärtigen Stunde. Und eine unerfreuliche Stimme obendrein. Er kannte sie schon seit vielen Jahren, und mit jedem Jahr gefiel sie ihm weniger. Gleichviel. All das würde nun bald ein Ende haben.
Er scharrte nervös mit den Füßen, nahm aber ansonsten keine Notiz von dem Ruf. Seine beiden Ellbogen lagen auf der Balustrade der Veranda auf, während er wieder starr hinaus auf den großen Strom sah, der – unbekümmert und hastig – unter seinen Augen dahinfloß. Zur Zeit des Sonnenuntergangs betrachtete er ihn gerne – vielleicht weil die sinkende Sonne zu dieser Stunde ein leuchtendes Gold auf die Wasser des Pantai[5] warf, und mit Gold befaßte sich Almayer in Gedanken häufig: Gold, das ihm zur Seite zu schaffen mißlungen war; Gold, das andere zu beschaffen verstanden hatten – auf unredliche Weise, versteht sich – oder Gold, das er, durch sein eigenes redliches Bemühen, für sich und Nina noch zu beschaffen gedachte. Er tauchte ganz ein in seinen Traum von Reichtum und Macht, fernab dieser Küste, an der er so viele Jahre verbracht hatte – vergessen all die bittere Mühe und Plage, angesichts dieses Traums von nobler, großartiger Belohnung. Sie würden in Europa leben, er und seine Tochter. Sie würden reich und angesehen sein. Niemand würde in Gegenwart ihrer strahlenden Schönheit und seiner immensen Reichtümer an ihr Mischlingsblut denken. Und indem er zum Zeugen ihrer Triumphe würde, würde er noch einmal jung werden und die fünfundzwanzig Jahre kräftezehrenden Lebenskampfes an dieser Küste vergessen, wo er sich als Gefangener fühlte. Das alles war zum Greifen nah. Wenn nur endlich Dain[6] wieder da wäre! Und er mußte bald wieder da sein – im eigenen Interesse, um seines eigenen Anteils willen. Er hatte sich nun schon mehr als eine Woche verspätet! Vielleicht kehrte er heute nacht zurück.
Solche Gedanken gingen Almayer durch den Kopf, während er von der Veranda seines neuen und schon wieder verrotteten Hauses – dieses jüngsten Mißgriffs seines Lebens – auf den breiten Strom hinausblickte. An diesem Abend war seine Oberfläche nicht wie aus Gold, weil ihn die Regenfälle hatten anschwellen lassen, und er wälzte unter Almayers zerstreuten Blicken die wütenden und schlammigen Wassermassen vor sich her, die zerkleinertes Treibholz und große, abgestorbene Baumstämme mit sich führten und ganze Bäume samt Wurzeln, Ästen und Blattwerk, zwischen denen die Flut Strudel bildete und wütend aufbrauste.
Einer dieser dahintreibenden Bäume war gleich neben dem Haus an dem sanft abfallenden Ufer gestrandet, und Almayer vergaß seinen Traum und beobachtete ihn mit schläfrigem Interesse. Der Baum schwang inmitten des zischenden und schäumenden Wassers träge herum, und nachdem er sich schon bald von seinem Hindernis gelöst hatte, glitt er wieder stromabwärts, drehte sich langsam um die eigene Achse, und dabei reckte er – wie eine Hand, die er in stummem Protest gegen die überflüssige Brutalität des Flusses zum Himmel erhoben hatte – einen langen, entblößten Ast in die Höhe. Almayers Interesse am Schicksal des Baumes nahm plötzlich zu. Er beugte sich vor, um zu sehen, ob er an der Landzunge weiter unten vorbeikommen würde. Er kam vorbei. Almayer richtete sich auf und überlegte, daß der Baum nun freie Bahn haben würde, bis hinunter ans Meer, und er beneidete dieses seelenlose Ding, das in der immer tiefer werdenden Dunkelheit immer kleiner und unkenntlicher wurde, um sein Schicksal. Als er es schließlich ganz aus den Augen verloren hatte, fragte er sich, wie weit es wohl in die See hinaustreiben würde. Würde die Strömung es nach dem Norden hinauftragen oder in den Süden hinunter? Wahrscheinlich nach Süden – bis in die Sichtweite von Celebes, vielleicht sogar bis Makassar!
Makassar! Almayers lebhafte Vorstellungskraft ließ ihn den Baum auf seiner imaginären Reise überholen, aber sein Erinnerungsvermögen, das an die zwanzig oder mehr Jahre hinter dem gegenwärtigen Augenblick zurückblieb, ließ vor seinen Augen das Bild eines jungen und schlanken Almayer wiedererstehen, wie er, bescheiden, ganz in Weiß, an der staubigen Anlegestelle von Makassar vom holländischen Postschiff an Land gegangen war – in der Absicht, in den Godons[7] des alten Hudig[8] um die Gunst des Schicksals zu buhlen. Das war ein wichtiger Abschnitt in seinem Leben gewesen – der Anfang einer neuen Existenz. Sein Vater, ein kleiner Bediensteter im Botanischen Garten von Buitenzorg, war selbstverständlich höchst erfreut darüber, seinen Sohn in einer solchen Firma unterzubringen, und der junge Mann war alles andere als abgeneigt, den todbringenden Küsten Javas und den kärglichen Annehmlichkeiten des elterlichen Bungalows den Rücken zu kehren, wo der Vater tagein, tagaus über die Dummheit der eingeborenen Gärtner murrte und die Mutter aus den Untiefen ihrer Chaiselongue dem verlorenen Glanz Amsterdams, wo sie aufgewachsen war, und ihrer gesellschaftlichen Stellung als Tochter eines ortsansässigen Tabakhändlers nachtrauerte.
Almayer hatte sein Zuhause leichten Herzens und noch leichterer Brieftasche zurückgelassen, gut in Englisch und in Arithmetik, ganz darauf aus, die Welt zu erobern, und ohne den geringsten Zweifel daran, daß ihm das auch gelingen würde.
Wie er nun, jene zwanzig Jahre später, in der dumpfen, erdrückenden, für Borneo so charakteristischen Abendhitze dastand, rief er sich in einem Gefühl wohliger Wehmut das Bild von Hudigs geräumigen und kühlen Lagerhallen in Erinnerung, mit ihren langen, geraden Alleen aus Ginkartons und Baumwollballen, dem großen Tor, das lautlos auf und zu schwang, dem nach der gleißenden Helle der Straße so angenehmen Halbdunkel im Inneren, den kleinen, von Geländern umgebenen Gevierten zwischen Bergen von Handelsgütern, in denen die chinesischen Bürokräfte – immer adrett, distanziert und mit trauerumflortem Blick – Aufzeichnungen machten, flink, schweigend inmitten der lärmenden Arbeitsbrigaden, die im Takt zu einer gesummten Melodie, die in einem verzweifelten Aufschrei ausklang, Fässer rollten oder Kisten umschichteten. Am oberen Ende, gegenüber dem großen Tor, hatte man einen größeren Platz durch ein Geländer abgetrennt, der hell erleuchtet und wo der Lärm auf Grund der Entfernung gedämpft war, so daß er vom zarten und unausgesetzten Geklimper von Silbergulden übertönt wurde, die andere verschwiegene Chinesen abzählten und unter der Aufsicht von Mr. Vinck, dem Kassier und Genius loci, der rechten Hand des Prinzipals, die hier die Geschicke lenkte, zu Stößen aufschichteten.
In diesem offenen Geviert arbeitete Almayer an seinem Tisch, unweit einer kleinen grüngestrichenen Tür, neben der immer ein Malaie mit roter Schärpe und Turban stand und von dessen Hand eine kurze, von oben herabbaumelnde Schnur mit der Regelmäßigkeit einer Maschine auf und ab bewegt wurde. Die Schnur betätigte auf der anderen Seite der grünen Tür, wo sich das sogenannte »Privatbüro« befand und wo der alte Hudig – der Prinzipal – auf seinem Thron saß und geräuschvolle Audienzen hielt, einen Punkah[9]. Ab und zu flog die kleine Tür auf und gewährte der Außenwelt, durch einen Schleier bläulichen Tabakrauches hindurch einen Blick auf einen langen Tisch, der mit Flaschen unterschiedlichster Form und hohen Wasserkrügen beladen war, und auf Rohrsessel, in denen, hingelümmelt, lärmende Männer Platz genommen hatten, während der Prinzipal seinen Kopf herausstreckte und, die Hand auf der Türschnalle, Vinck vertraulich etwas zubrummte; oder aber er erteilte einen Befehl, der den Speicher hinunterhallte, oder er erspähte einen unschlüssig zaudernden Fremden, den er mit einem freundlichen Brüllen begrüßte: »Willkommen, Gapitan! Wo gommen herr? Bali, hä? Haben Bonies[10] mitgebracht? Ich wollen Bonies! Wollen alle, die Sie haben – ha! ha! ha! Gommen Sie rein!« Dann wurde der Fremde hineingezogen, die Tür unter einem Schwall von Schreien geschlossen, und wieder füllte der übliche Lärm den Raum – der Gesang der Arbeiter, das Rumpeln der Fässer, das Kratzen eiliger Federn. Und über all dem ertönte das Geklimper schwerer Silberstücke, die unablässig durch die gelben Finger wachsamer Chinesen glitten.
Zu dieser Zeit ging Makassar vor Leben und Betriebsamkeit über. Es war der Ort auf der Insel, wohin es alle jene Teufelskerle zog, die, nachdem sie ihre Schoner an der australischen Küste in Schuß gebracht hatten, auf der Suche nach Gold und Abenteuern den Malaiischen Archipel überfallen hatten. Draufgängerisch, gewissenlos und geschäftstüchtig, wie sie waren, und einem Scharmützel mit Seeräubern, auf die man hier noch an so mancher Küste stieß, keineswegs abgeneigt, dazu immer darauf aus, schnell zu Geld zu kommen – so fanden sie sich in der Bucht zu einem der üblichen »Rendezvous« ein, das dem Geschäft und dem Amüsement diente. Die holländischen Kaufleute nannten diese Männer englische Hausierer; unter ihnen gab es allerdings zweifellos auch ein paar Gentlemen, für die diese Art des Lebens ihren eigenen Reiz hatte, die meisten aber waren Seeleute. Der von allen anerkannte König hieß Tom Lingard[11] – er, den die Malaien, ob nun Ehrenmänner oder Betrüger, schweigsame Fischer oder verwegene Galgenvögel, den »Rajah-Laut[12]« – den König der Meere – nannten.
Almayer war noch keine drei Tage in Makassar und hatte schon von ihm gehört; er hörte von seinen gerissenen Transaktionen erzählen, von Liebschaften und verzweifelten Kämpfen mit...
| Erscheint lt. Verlag | 15.11.2017 |
|---|---|
| Übersetzer | Klaus Hoffer |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Almayer´s Folly. A Story of an Eastern River |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Abenteuerroman • Abenteurer • Borneo • Dschungel • Erzählung 19. Jahrhundert • Herz der Finsternis • Joseph Conrad deutsch • Klassiker • Klassiker Literatur • Kolonialismus • Niederländisch-Ostindien • Rassismus • Roman • Romandebüt |
| ISBN-10 | 3-492-97957-2 / 3492979572 |
| ISBN-13 | 978-3-492-97957-3 / 9783492979573 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich